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Ausgabe:

1969

Spalte:

702-703

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Doebert, Heinz

Titel/Untertitel:

Neuordnung der Seelsorge 1969

Rezensent:

Rensch, Adelheid

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 9

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damentales Mißtrauen" (S. 209). Das Schlußkapitel 5 .Der theologische
Aspekt der Sexualität" (S. 210-261) rekurriert auf die
Evidenz der Ethik als Evidenz anthropologischer Theorien. Solche
anthropologische Theorien können freilich nicht zeitlos sein, sondern
sie sind geschichtlich und gesellschaftlich bedingt und vermittelt
, wie Ringeling in einer kritischen Auseinandersetzung mit
Karl Barths christologischer Begründung der Ehe (S. 214ff.) und
Helmut Thielickes Verständnis der Ehe als Schöpfungsordnung
(S. 22ff.) zu zeigen sucht. Das Faktum »der erotischen Subjektivität
" wie der Gleichberechtigung der Geschlechter hängt von
einem sozialen Bezugssystem ab, an dem erst die Notwendigkeit
einer Verantwortung der Sexualität zur Evidenz gebracht werden
kann (S. 236). Eine neue Moral muß die Emanzipation der modernen
Subjektivität berücksichtigen, wenn sie einsichtig werden
will; sie ist angewiesen auf „die historische Vermittlung von
Glaube und Gesellschaft" (S. 241). Zum Abschluß entwirft Ringeling
eine „Apologie der christlichen Kultur" (S. 245ff.), mit deren
Hilfe „die Monogamie als die höchste Kulturform des sexuellen
Verhaltens" festgehalten wird (S. 245). Deutlich ist der Skopus
von Ringelings Abhandlung die „Vertiefung und Verteidigung der
Tradition" und zwar dadurch, daß die christliche Ehe im Kontext
christlicher Kultur als sinnvoll aufgewiesen wird: „Der Ort der
christlichen Ehe liegt also in der Kulturgeschichte des Christentums
" (S. 255). Mit konkreten Folgerungen hinsichtlich der Ehescheidung
, die Ringeling wegen der Unterscheidung von Ethos
und Recht für möglich hält, in der Scheidungspraxis aber nicht
erleichtert sehen will (S. 256f.)„ und einem Exkurs zum Problem
der Homosexualität (257ff.) endet die Studie.

An die Grundthese Ringelings sind zwei grundsätzliche kritische
Anfragen zu richten:

(1.) Ist das „Prinzip der Subjektivität" geeignet, das gegenwärtige
ethische Verhalten zu interpretieren, oder ist nicht vielmehr
die von ihm behauptete Subjektivität eine Scheinsubjektivität,
da dem Menschen zwar das Emanzipiertsein von der Gesellschaft
suggeriert wird, ihm aber gerade wirkliche Freiheit, die Möglichkeit
eigenverantwortlicher Entfaltung vorenthalten bleibt? Mir
scheint, dafj das Kennzeichen gegenwärtiger westlicher Gesellschaft
nicht die Emanzipation und die individuelle Gestaltungsmöglichkeit
, sondern „Manipulation", Konformismus, der Zwang
der Rollenerwartungen und die Nötigung zur Anpassung sind,
bis hinein in den Bereich privaten Verhaltens, für welchen steilvertretend
das Sexualverhalten steht. Gerade die empirische Analyse
sexueller Verhaltensweisen bedarf nicht der Aufschlüsselung
durch ein „Prinzip der Subjektivität"; sie legt vielmehr die Deutung
mit Hilfe des Bildes der „Aufjensteuerung" (D. Riesman)
nahe. Das von Ringeling selbst vorgelegte Material zwingt zu
einer Auslegung durch ein Prinzip der Subjektivität gerade nicht.
(2.) Inwiefern muß die Erörterung des Wandels der Sexualnormen
eine ausgebreitete Theorie der Gesellschaft voraussetzen? Jede
ethische Aussage hat zweifellos empirische Fakten zu beachten,
wenn sie die Realität nicht verfehlen will. Die Frage ist jedoch,
ob dafür nicht (Teil-)Analysen genügen oder ob diese zu einer
umfassenden Theorie der Gesellschaft zusammengefügt werden
müssen. Ringelings Feststellungen gelten nur für einige westliche
Länder, grob gesagt für die westliche Konsumentenkultur, nicht
aber für den sozialistischen Bereich. Das ist kein Einwand, bestätigt
im Gegenteil die Abhängigkeit des Sexualverhaltens vom
sozialen Bezugsrahmen. Aber bedarf es zum Verständnis des
Bezugsrahmens einer theologischen Deutung, wie sie Ringeling
im Anschluß an Paul Tillich und Heinz-Dietrich Wendland vornimmt
(S. 107ff. u. ö.)? Die „Apologie der christlichen Kultur" tendiert
zu einer „Theologie der Gesellschaft" hin, bei welcher sich
die konkreten Probleme in die Abstraktion der Diagnose und
Deutung der Zeit zu verflüchtigen drohen. Derselbe Einwand trifft
Ringelings Gebrauch des Begriffs „Ideologie". Er bezeichnet den
theologischen Personalismus in der Sexualethik und im Eheverständnis
als Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft. „Ein Interesse
an dieser personalistischen Auslegung der menschlichen Situation
besteht.. . lediglich in der bürgerlichen Sicht" (S. 233, vgl. S. 94ff.).
Ideologie bezeichnet hier lediglich einen überholten Standpunkt.
Das Wort wird zur Leerformel - im Sinne von Ernst Topitsch.
Diese Entleerung des Ideologiebegriffes ist die Kehrseite der theologischen
Überfrachtung der Theorie der Gesellschaft. Abgesehen
davon überzeugt Ringelings Ablehnung des Personalismus schon
deshalb nicht völlig, weil er selbst ein Prinzip der Subjektivität

vertritt. Die Antithese, dafj der Personalismus prinzipiell zeitlos
gedacht werden müsse, die Subjektivität aber geschichtlich bedingt
sei, ist konstruiert Sie ist einseitig an der bisherigen Verwendung
des Personalismus in der Sexualethik ausgerichtet.

Aufjer dieser Kritik am Ansatz sind an Desideraten noch zu nennen
.- Man vermißt wenigstens die Erwähnung zweier neuerer
Autoren, welche dieselbe Thematik behandelt haben: Guyla Barc-
zay, „Revolution der Moral? Die Wandlung der Sexualnormen
als Frage an die evangelische Ethik", Zürich-Stuttgart, 1967 und
Wilhelm Reich, „Die sexuelle Revolution. Zur charakterlichen
Selbststeuerung des Menschen", Frankfurt a. Main, 1966. Weiter
hätte die marxistische These der Abhängigkeit der Sexualität von
ökonomischen Faktoren stärkere Beachtung und Disskussion verdient
; Marx wird von Ringeling nur in Anmerkungen (S. 103
Anm. 170; S. 158, Anm. 299) erwähnt, seine These, daß die Eheauffassung
ein Spiegel der Eigentumsverhältnisse sei, wird nicht
eigens erörtert. Literaturhinweise und Angabe von Fundorten
wünscht man sich manchmal genauer (z. B. S. 141 Anm. 261,
S. 186 Anm. 354, S. 226 Anm. 447). Ein Namensregister ist dankenswerter
Weise beigefügt.

Trotz dieser Einwände verdient die Grundtendenz „einer kritischen
Solidarität mit den Ratsuchenden" (S. 135) als ganze Anerkennung
, da sowohl einer bloßen Abwehr wie der kritiklosen
Hinnahme der „neuen Moral" widersprochen wird und viele
Einzelaspekte sorgfältig bedacht sind. Auch bietet das Buch, vor
allem in den referierenden Teilen, einen guten Überblick über die
Diskussion und die in ihr vorkommenden Argumente.

Bonn Martin Honecker

PRAKTISCHE THEOLOGIE

D o e b e r t, Heinz: Neuordnung der Seelsorge. Ein Beitrag zur
Ausbildungsreform und zur heutigen kirchlichen Praxis. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht [1967]. 206 S. 8° = Handbibliothek
für Beratung u. Seelsorge, hrsg. v. G. N. Groeger u. J.
Scharfenberg, 5. Kart. DM 16,80.

Trotz jahrelangen Bemühens um eine verbesserte Ausbildung
des theologischen Nachwuchses1 ist die Diskussion darüber - wie
der Beitrag des Krankenhauspfarrers Doebert zeigt - noch im
Gange. Das hat seinen Grund nicht nur in der Vielfalt grundsätzlicher
Meinungen und örtlicher Gegebenheiten, sondern auch in
den dauernd sich wandelnden Zeitverhältnissen, auf die kirchliches
Reden und Handeln bezogen bleiben muß. Aus der Besorgnis über
das Mißverhältnis zwischen einem zunehmenden Verlangen nach
Lebenshilfe in unserer Zeit und der völlig unzureichenden Zurü-
stung der Theologen für diesen Dienst erwuchs der Entwurf für"
eine Ausbildungsreform, in dem die Poimenik wieder den ihr
zukommenden Raum gewinnt und zudem wieder Prüfungsfach
wird. (Auch das Fachschaftsgutachten und der Entwurf von W.
Braun bleiben in diesem Punkte unbefriedigend.)

Um sich nicht in Grundsatzerörterungen zu verlieren, entwik-
kelt der Verf. ein Modell, das sich verbessern und dessen Taug
lichkeit sich an der Bewährung ablesen läßt. Er erarbeitet das
Modell eines poimenischen Studiums und poimenischen Lehrstuhls
und wählt die Krankenseelsorge als Studien- und Übungsfeld
. Denn im Krankenhaus finden sich alle Lebensnöte gebündelt
, die - verstreuter - auch in der Gemeinde vorhanden sind.
In der Krankenseelsorge kann darum das meiste gelernt und geübt
werden, was für die Seelsorge in der Gemeinde und in den Beratungsstellen
vonnöten ist.

Zur näheren Begründung seines Reformvorschlages stützt sich
der Verf. auf reiche Erfahrungen in der Krankenseelsorge, auf
soziologische und psychologische Erkenntnisse, die auch statistisch
belegt werden. Der Wandel in der Haltung des Menschen von der
„Innenlenkung" zur „Außenlenkung" führt vermehrt zur Ratlosigkeit
in der Sinnfrage, zu Angst und Süchtigkeit. Bei nicht wenigen
ist die Krankheit eine Folge unverarbeiteter Lebenskonflikte oder
einer sozialpathologischen Lebenssituation. So erwachsen mit der
Sozialpathologie und Sozialtherapie neue Aufgaben, die die Zusammenarbeit
aller Kirchen fordert. Auch statistische Befunde
deuten darauf hin, daß „das Jahrhundert des Kindes . . . abgelöst

1 Vgl. Alfred Dedo Möllen Int Seeisorae lehrbar? in: Forschung und Erfahrung
im Dienst der Seelaorge. Featgabe für O. Haendler. Berlin i Et. VerUgsanitalt i960.