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Ausgabe:

1969

Spalte:

699-702

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ringeling, Hermann

Titel/Untertitel:

Theologie und Sexualität 1969

Rezensent:

Honecker, Martin

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699

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 9

700

liehe Rolle" (S. 139). Auch „das Gebet des einzelnen Christen
scheint im gemeinschaftlichen Gebet der Gemeinde aufzugehen"
(S. 136). Individualismus kann man Ritsehl nicht vorwerfen. Daher
ist ihm auch die Luthersche Unterscheidung zwischen Gesetz
und Evangelium fremd: »Im Glauben steht der Mensch als Gewissen
vor Gott; die Erfahrung von Anfechtung und Trost macht
er für sich allein. Einer solchen Anschauung muß sich Ritsehl aber
von seinen Prinzipien her verschließen" (S. 159). Den usus theo-
logicus des Gesetzes läßt er weg. - Die Trinitätslehre wird von
Ritsehl neu interpretiert: Die Einheit Gottes sieht er in der Identität
des Schöpfers mit dem in Christus offenbaren Liebeswillen und
mit dem Reich Gottes; die drei sind gleichewig. Die Dreiheit ist
ebenfalls in der positiven Offenbarung begründet: Der Vater unterscheidet
sich vom Sohn als dem Organ der Offenbarung und
beide vom Geist als dem »Träger der fortgesetzten Offenbarung
in der Gemeinde" (S. 152). - Probleme der theologischen Prinzipienlehre
stellt Seh. mit Bedacht an den Schluß. Die Prinzipienlehre
war für Ritsehl immer nur Randgebiet, dem er nicht seine
ganze Aufmerksamkeit zugewandt hat. Daher auch »der häufige
Wechsel in den philosophischen Ansichten bei sonst ruhig fortschreitender
theologischer Entwicklung" (S. 155). Man verbaut
sich den Zugang zu Ritsehl, wenn man ihn von seiner Prinzipienlehre
her verstehen will. Weder ist sein Schriftprinzip durchgeklärt
noch das Verhältnis von Religion und Offenbarung noch
seine Werturteils- und Erkenntnistheorie.

Als Beilage I bringt Seh. einige Proben aus Ritschis ungedrucktem
Dogmatik-Kolleg 1881/82 und als Beilage II eine Probe aus
seinem Ethik-Kolleg.

Seh. ist sich dessen bewußt, daß Ritschis Theologie zwei Gesichter
hat. Das eine ist der Vergangenheit zugewandt: Der Gottesbegriff
wird nicht auf dem Boden der Gewissenserfahrung, son
dem kraft dogmatischer Setzung gebildet. Dem entspricht die
Näherbestimmung des Glaubens als Gehorsam, wobei die Autorität
äußerlich bleibt. Das andere Gesicht ist der Zukunft zugewandt
: »Die Offenbarung ist in der Geschichte zu finden, nämlich
in Jesu Person und Werk' (S. 185). Man muß nach der Beziehung
zwischen Jesus und dem Glauben fragen. Beide in der Ritschlschen
Theologie liegenden Möglichkeiten sind inzwischen ausgestaltet
worden.

Halle/Saale Erdmann Schott

ETHIK

Ringeling, Hermann: Theologie und Sexualität. Das private
Verhalten als Thema der Sozialethik. Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus Gerd Mohn [1968]. 264 S. gr. 8° = Studien zur
evang. Ethik, hrsg. v. H. E. Tödt, H.-D. Wendland, 5. Lw.
DM 36,-.

Die im Frühjahr 1968 von der Evangelisch-theologischen Fakultät
der Universität Münster angenommene Habilitationsschrift Rin-
gelings greift ein aktuelles Thema auf, das vom Verfasser schon
verschiedentlich in Veröffentlichungen behandelt wurde (Die Frau
zwischen gestern und morgen, 1962; Bund und Partnerschaft in
der Ehe, in: Zusammen, Beiträge zur Soziologie und Theologie
der Geschlechter, hrsg. von Christine Bourbeck, Witten 1965; Die
Frau in der heutigen Familie ZEE8, 1964, S. 129-143; Ethik des
Leibes, Furchebücherei 54, 1965). Die Untersuchung soll (erstens)
die Frage klären, »was heute christliche Ethik sei. Heute, das heißt
unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft oder anders,
unter denen der Subjektivität" (S. 7). Dabei geht es um den
Widerspruch einer »neuen Moral" »gegen das moralische Gesetz
der Vergangenheit" (S. 7). Zum zweiten soll am Modell des sexuellen
Verhaltens die Unzulänglichkeit eines theologischen Personalismus
aufgewiesen werden - den Ringeling für die „herrschende
Meinung" hält -, weil dieser sich nicht seiner Zeitbedingtheit
bewußt sei und eine überzeitliche Struktur des Menschseins
annehme. Zum dritten soll dieses Modell „die Bedeutung des
privaten Bereichs für die allgemeine ethische Theorienbildung" veranschaulichen
. Ringeling verweist hier auf „die Emanzipation des
Menschen", „um dem christlichen Humanismus zur Evidenz zu
verhelfen" (S. 7). Die 3 Punkte bestimmen implizit die Abhandlung
, werden aber nicht ausdrücklich beantwortet. Vor allem die
Bedeutung des privaten Bereichs - als eines privaten im Unterschied
zum öffentlichen Bereich - für die ethische Theorienbildung
wäre besser explizit erörtert worden.

Der Problemkreis Sexualität, Gesellschaft, christliche Ethik wird
in 5 Kapiteln entfaltet, von denen die beiden ersten vornehmlich
historisch angelegt sind. Kapitel 1 »Ursachen der christlichen Erosfeindschaft
" (S. 9-47) gibt einen gerafften Überblick, beginnend mit
dem biblischen Androzentrismus (S. 18ff.), über die kultische Eroskritik
des AT (S. 23ff.), die paulinische Beurteilung der Sexualität
(S. 27ff.), Augustin (S. 34ff.), Luther (S. 38ff.) bis hin zum sozialen
Kontext des Askeseprinzips (S. 43ff.). Kapitel 2 »Die bürgerliche
Kultur der Intimsphäre" (S. 48-87) stellt das Gegenbild zur asketischen
Erosfeindschaft das Liebesideal der individuellen Entfaltung
beider Partner in der Ehe dar, das sowohl vom Prinzip der
Askese wie von einer doppelten Moral sich absetzt. Nach einem
knappen Hinweis auf das Minneideal der Troubadoure (S. 56ff.)
wendet sich Ringeling Schleiermachers Ehe- und Liebesauffassung
zu (S. 60ff.), die in einfühlender und zutreffender Weise besprochen
wird. Ein Hinweis auf „Hegels gemeinbürgerliche Theorie
der Familie" (S. 83ff.) beschließt den historischen Teil. Man fragt
sich freilich, ob es erforderlich ist, so breit die historische Beurteilung
der Sexualität der Behandlung des eigentlichen Themas vorauszuschicken
, zumal die Darstellung keine wesentlichen neuen
Erkenntnisse über das hinaus bringt, was Handbücher und einschlägige
Lexikonartikel bereits bieten; wenn aber schon so weit
historisch ausgegriffen wird, wäre Vollständigkeit angebracht: Die
pietistische Eheauffassung beispielsweise wird nur in einer beiläufigen
Bemerkung gestreift (S. 100).

Im Mittelpunkt des Buches steht Kapitel 3 „Das Bezugssystem
der sexuellen Emanzipation" (S. 88-141) insofern, als die darin
vorgelegte Theorie und Analyse der Gesellschaft die Basis für
die Argumentation der beiden letzten Kapitel abgibt. Das Bezugssystem
ist die bürgerliche und nachbürgerliche Gesellschaft. Allerdings
wird der Begriff Bezugssystem nirgends geklärt, offenkundig
will Ringeling nur das, worauf das Sexualverhalten sich
bezieht, damit bezeichnen, und legt selbst kein Gewicht auf
das Wort „System". Die „repressive Sexualmoral" des Bürgertums
wird aus dessen „Ordnungs- und Autoritätskategorien'
erklärt (S. 88). Es entsteht ein »Kartell der Angst' (S. 90), faßbar
in der »viktorianischen Prüderie" (S. 90). »Auch für die
distanzierte Wertselektion und -transformation des Bürgertums
bleibt nämlich eines konstitutiv: das Interesse an der Absolutheit
, dem ewig gültigen Charakter der Normen" (S 92). Die Sexualmoral
des Bürgertums ist eine »Ideologiebildung" (S. 93). Nach
dem Ende der bürgerlichen Sexualmoral stellt sich heute neu das
Bedürfnis nach ethischer Theoriebildung (S. 104ff.); möglich ist
sie nach Ringeling nur im Horizont einer Theorie heutiger Gesellschaft
. Der Gesellschaftswandel hat nämlich das Verhalten in der
Intimsphäre verunsichert. »Der Abbau von institutioneller Stabilität
zwingt zu erhöhter personaler Verantwortung" (S. 121). Es
kommt zu einer Desintegration der Normen und Verhaltensweisen,
die allerdings nicht mit familiärer Desintegration zu verwechseln
ist (S. 131).

Die beiden abschließenden Kapitel ziehen aus der vorgelegten
Gesellschaftsanalyse Folgerungen für die Beurteilung der Normen
des Sexualverhaltens. Kapitel 4 »Das Phänomen einer neuen
Moral" (S. 142-209) läßt zunächst die säkularen Vertreter der
„neuen Sexualmoral" zu Worte kommen: A. Comfort (S. 142ff.);
A. Kinsey (S. 150ff.), den Ringeling wegen seines Biologismus zutreffend
kritisch als „negativen Idealisten" bezeichnet (S. 153) und
abgewogen und überzeugend beurteilt; schließlich H. Marcuse
(S. 155ff.). Nachdem die Ambivalenz der neuzeitlichen Sexualmoral
aufgezeigt wurde (S. 161ff.), wozu auch statistisches Umfragematerial
ausgewertet wird (S. 178ff.), werden die theologischen
Vertreter einer neuen Moral vorgestellt (S. 182ff.). Die bloße und
pauschale Verdammung seitens der kirchlichen Reaktion wird, zu
Recht und mit Argumenten, als unzulänglich abgelehnt (S. 185ff.).
Die Reaktion vertritt nur eine Ethik des Oberlieferten, aber keine
Ethik der Verantwortung. An Vertretern der neuen Moral werden
besprochen: John A. T. Robinson (S. 193ff.), P. Lehmann und H.
Cox (S. 200ff.), Knud E. L0gstrup (S. 205ff.). Sie haben »die Alternative
zwischen einem ewigen Sittengesetz und libertinistischer
Unmoral' (S. 193) als falsch erkannt; im einzelnen sind freilich
Anfragen an die Begründung und Konzeption der »neuen Moral"
notwendig. Um nur ein Beispiel zu nennen: Lagstrups Begründung
der Ethik auf das Vertrauen der Menschen zueinander ist zweifelhaft
: »In dieser Welt gehört zur Ausrüstung des Menschen eben
nicht nur ein fundamentales Vertrauen, sondern ein ebenso fim-