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Ausgabe:

1969

Spalte:

697-699

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Rolf

Titel/Untertitel:

Ritschl 1969

Rezensent:

Schott, Erdmann

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 9

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über Luther mehrfach seine eigenen Opera namentlich zur Veranschaulichung
heranzieht. Man wird sich natürlich bei diesen
kritischen Gedanken vor Augen halten müssen, dafj es sich um
einen Vorlesungstext handelt, dessen vorliegende Fassung nicht
von Tillich selbst verantwortet wird. Angesichts dessen treten
dann die Vorzüge um so beachtlicher hervor.

Die Betrachtung der Dogmengeschichte vollzieht sich hier in
einem weiten Horizont und in einem noblen Stil. Die Kritik, die
natürlich in die geschichtliche Darstellung immer einfließen wird,
ist die des historischen Urteils, keine dogmatische Beckmesserei.
Die Kunst der Gestaltung verbindet den elementaren Zugriff, mitunter
fast schulmeisterliche Deutlichkeit, mit feinfühliger Charakterisierung
. Aktualisierung und Analogien zur Gegenwart wecken
den Stoff aus dem Schlaf der historischen Erinnerung, ohne ihm in
aller Regel damit Gewalt anzutun. Die kräftige und nie verleugnete
Subjektivität des Verfassers setzt Schwerpunkte, drängt wohl
zuweilen auch ein Thema m den Schatten. Das verpflichtende Erbe
der Harnackschen Dogmengeschichte wird beweglich und in freier
Verfügung gehalten: indem die Geschichte der „Dogmen" unter
den leitenden Begriff einer Geschichte des christlichen Denkens
gestellt wird, bedeutet das 16. Jahrhundert nicht, wie bei Har-
nack, einen Schlußpunkt. Als bezeichnend mag man es ansehen, dafj
die Sozinianer bei Harnack in die Endphase der Dogmenentwicklung
, bei Tillich in die Vorgeschichte der Aufklärung gerechnet
werden.

Bedenkt man, wie stark mitunter das Bedürfnis nach Gesamtdarstellungen
auf dem Gebiet der Kirchengeschichte empfunden
wird, so wird man sagen müssen, dafj mit diesem Buch dem Bedürfnis
für die christliche Dogmengeschichte volle Genüge getan
ist. Es stellt mit den „Perspectives" zusammen eine christliche
Geistesgeschichte, oder soll man sagen: eine Geschichte des christlichen
Denkens dar, von der man wünschen möchte, dafj sie -
eben in sachgemäßer Zusammenordnung der beiden Bände - in
die deutsche Ausgabe der Gesammellen Werke aufgenommen werden
möchte.

Güttingen Wolfgang Trillhaas

Schäfer, Rolf i Ritschi. Grundlinien eines fast verschollenen
dogmatischen Systems. Tübingen: Mohr 1963. VIII, 220 S. gr. 8°
= Beiträge zur historischen Theologie, hrsg. v. G. Ebeling, 41.
Sch. stellt sich die Aufgabe, eine Gesamtdarstellung von Ritschis
dogmatischem System in den Grundzügen zu geben. Er will also
nicht ein Einzelproblem des Ritschlschen Denkens, und sei es
auch noch so zentral, erörtern, sondern das Systemganze vor uns
hinstellen. Andererseits verzichtet er darauf, dieses Ganze bis ins
einzelne darzustellen, sondern hält sich an die Grundlinien. Dabei
kommt es ihm nicht so sehr darauf an, „Ritschis Gedankengang
einfach nachzuvollziehen", als vielmehr „Ritschis System zwar in
seinem Grundgerüst wiederzugeben, aber doch die dogmatischen
Fragen, die sich heute dabei aufdrängen, nicht zu unterdrücken"
(S. 7). So findet er „unter der leichten Decke des altertümlichen
Ausdrucks die kostbarsten Güter unserer zeitgenössischen Theologie
ausgebreitet" (Vorwort).

Sch. gibt zunächst einen kritischen Literaturbericht in chronologischer
Anordnung von 1942-1967, in den er auch die ungedruckten
Dissertationen von Bruno Berndt (Tübingen 1959) und Walter
Schlosser (Göttingen 1962) einbezieht. K. Barth, Die protestantische
Theologie im 19. Jahrh., 2. Aufl. 1952 wird berücksichtigt, nicht
dagegen H.Stephan/M.Schmidt, Geschichte der deutschen evangelischen
Theologie seit dem deutschen Idealismus, 2. Aufl. 1960.

Der Hauptteil des Buches „Grundlinien des Ritschlschen Systems*
ist in zwei Abschnitte eingeteilt, von denen der erste den christo-
logischen Ansatzpunkt, der zweite Ritschis Dogmatik behandelt.
Das Ergebnis des ersten Abschnitts ist, „daß Ritsehl... ein sehr
konservatives Bild von Jesus zeichnet. Jesu Leben ist nicht zwischen
Geburt und Tod eingeschränkt, sondern ragt über beide Grenzen
hinaus . .. Nur verschmäht Ritsehl bei der näheren Beschreibung
die griechisch-metaphysischen Kategorien der altkirchlichen Dogmatik
.- Der Tod Jesu kann gar nicht verstanden werden, wenn
man ihn nicht auf dem Hintergrund der Erhöhung sieht... Ritschi
betont.., daß Jesus keine allgemeine Sündenvergebung ausgesprochen
habe, daß er sie vielmehr immer an das Verhältnis zu
seiner Person und somit an sein in Kreuz und Auferstehung gipfelndes
Werk geknüpft habe Wohl hat Ritsehl die Anselmische Satisfaktionslehre
zurückgewiesen; doch er kannte den Sozinianismus

gut genug, um ihm nicht zu verfallen" (S. 61f). Jesus wird von
Ritschl so sehr mit seinem Beruf, die Gemeinde zu gründen, zusammengesehen
, daß er von daher das Unternehmen einer Biographie
Jesu scharf ablehnt. Man kann „weder Jesus ohne Gemeinde
noch die Gemeinde ohne Jesus verstehen" (S. 66). Schon
Troeltsch hat richtig gesehen, »daß die -heute so gelobte- Kahler-
sehe ,Skepsis gegen die geschichtliche Erkenntnis' Jesu und ,seine
Forderung der Unterwerfung unter die apostolische Christuslehre
' nur Konsequenzen des Ritschlschen Standpunktes sind"
(S. 66 Anm. 2).

Im zweiten Abschnitt behandelt Sch. in sechs Kapiteln 1) Die
Gotteslehre, 2) Die Sündenlehre, 3) Die Christologie, 4) Die Lehre
von der Gemeinde, 5) Die Trinitätslehre, 6) Probleme der theologischen
Prinzipienlehre. Die Gotteslehre entwickelt Ritsehl aus
der Offenbarung in Jesus. Es ist nun „das aus der Offenbarung
in Christus erkennbare Ziel Gottes, ein Reich zu schaffen, mit
dessen Gliedern er in wechselseitiger vollkommener Gemeinschaft
steht*. Daher stehen Gott und sein Reich „so zueinander in Wechselbeziehung
, daß die Attribute des einen sich in denen des andern
spiegeln" (S. 71). Insofern offenbart sich Gott in Christus
als Liebe. „Die göttliche Liebe ist Grund, Urbild und Maßstab
aller menschlichen" (S. 73). Die offenbarte Liebe wird „kritisch
auf das geschichtlich Erworbene angewandt: „Nur soweit es sich
ihm unterordnen läßt, geht es als sittliches Gut ins Reich Gottes
als höchstes Gut mit ein" (S. 76). Das Attribut der Heiligkeit
scheidet Ritsehl aus der Gotteslehre aus, und zwar mit neutesta-
mentlicher Begründung; das Attribut des Zornes läßt er nur für
den eschatologischen Bereich gelten („ ,Zorn' bezeichnet die escha-
tologische Vernichtung aller derer, die sich weigern, in den Neuen
Bund einzutreten" S. 83), dagegen kann der Zorn nicht auf die
Sünde der Christen bezogen werden: Gott als Partner des Bundes
ist »die stetige, wandellose, auf ihr Ziel hin schaffende Liebe"
(S. 83). - Die Sündenlehre wird von Ritsehl im Blick auf die Sünde
des Christen entworfen, weil es nicht richtig ist, „in der Theologie
von einer Sünde auszugehen, die jenseits der in der Gemeinde
gegebenen Erfahrung liegt" (S. 96). Die Sünde des Christen aber
wird von Gott als „Unwissenheit" beurteilt. Im Gewissen wird
die Sünde als Schuld erfahren; sie ist Mißtrauen gegen Gott,
„Störung der Gemeinschaft mit ihm" (S. 100). - In der Christologie
stellt Ritsehl Christus als bleibenden Mittler zwischen Gott
und der Gemeinde dar, und zwar als den königlichen Propheten,
der auf Gottes Seite der Gemeinde gegenübersteht, und als königlichen
Priester, der die Gemeinde als ihr Haupt vor Gott vertritt.
Seine Herrschaft über die Welt übt Christus „vor allem darin, daß
er die feindseligen Gegenwirkungen der Welt bis hin zu seinem
Tod geduldig erträgt" (S. 107). Die Gottheit Christi bestimmt
Ritsehl einmal von seiner Lehre vom Wesen Gottes als Liebe,
Treue, Gnade und Gerechtigkeit (S. 108), zum andern von der
I.utherschen Korrelation zwischen Gott und Glaube (== Vertrauen)
her: Weil das Vertrauen der Gemeinde „auch auf Christus bezogen
wird, ist er damit von der Gemeinde schon faktisch als Gott
prädiziert" (S. 109). - Die Lehre von der Gemeinde stellt dar, „wie
der in Gottes Wesen gründende, in Christus offenbarende Heilswille
Gottes sich an den Menschen auswirkt" (S. 114). Sie ist zugleich
Lehre vom Heiligen Geist. Die Gemeinde ist Reich Gottes und
Kirche. Als Reich Gottes ist sie die höchste sittliche Gemeinschaft,
die sich in den untergeordneten Gemeinschaftsformen (Familie,
Staat, Völkergemeinschaft) verwirklicht und sie überbietet (S. 123).
Der Ort des Einzelnen im Reich Gottes wird durch seinen Beruf
bestimmt, der durch die Liebe „zum Mittel für den allgemeinen
Zweck des Reiches Gottes wird". Ritsehl setzt dabei „ein stabiles
Gefüge der berufsständischen Welt voraus" (S. 128). „Er nimmt
die Sturmzeichen der gesellschaftlichen Umwälzung so wenig ernst
wie die naturalistische Welterklärung" (S. 128 Anm. 30). Als Kirche
stellt sich die Gemeinde in der gottesdienstlichen Versammlung
sichtbar dar. Diese unter Christus als ihrem Haupt versammelte
Gemeinde wird als Gesamtheit von Gott gerechtfertigt und der
Sündenvergebung teilhaftig (S. 130f). Die Aneignung des Rechtfertigungsurteils
durch die Gemeinde und den Einzelnen ist die
Versöhnung. „Die Versöhnung wird subjektiv erfahren im Vertrauen
auf die göttliche Vorsehung, in der Demut vor Gott, in der
Geduld und im Gebet* (S. 135). Der Glaube des Einzelnen und die
Wiedergeburt kommen bei Ritsehl „nur als entfernte und abgeleitete
Phänomene in den Blick" (S. 137). Entsprechend spielt
auch der Begriff des Gewissens bei Ritschl „nur eine nebensäeh-