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Ausgabe:

1969

Spalte:

694-697

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

A history of Christian thought 1969

Rezensent:

Trillhaas, Wolfgang

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693

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 9

694

(Schleiermacher, F.:] Schleiermacher-Auswahl, besorgt von
H. B o 11 L Mit einem Nachwort von Karl Barth. München-
Hamburg: Siebenstern Taschenbuch Verlag [1968]. VI, 312 S.
8° = Siebenstern-Taschenbuch 113/114. Kart. DM 5,80.

Die vorgelegte Schleiermacher-Auswahl erhält ihre besondere
Note durch Barths Nachwort, das über die Würdigung zur fragenden
Auseinandersetzung führt (290-312). Schleiermacher und
Barth: Jeder von beiden hat - um mit Barths Vorwort zum Römerbrief
1918 zu reden - wie Paulus »als Sohn seiner Zeit zu
seinen Zeitgenossen geredet". Barth wirkte damit prophetisch und
apostolisch; er ging scharf vor gegen den Schleiermacher, der
120 Jahre vor ihm unter seinen Zeitgenossen die Religion prophetisch
deutete, hat aber nun öffentlich zurückgenommen, was er,
.mit namentlicher Nennung des jungen Schleiermacher, Böses über
die Romantik geschrieben" hatte (291). Barths Nachwort - sein
letztes zum Druck gegebenes Wort, bevor er „mit Schleiermacher
im Himmelreich" sich „ein paar Jahrhunderte lang ausgiebig zu
unterhalten* (310) gedachte - wurde die „Geschichte seines Verhältnisses
" zu ihm und „auch ein nicht unwichtiges Segment" seiner
eigenen „Lebensgeschichte" (290). Man liest mit Spannung, was
Barth über seine erste Schleiermacherbegeisterung, über den Neuansatz
nach dem 1. Weltkrieg, über seine sachliche Distanz, über
seine Deutung Schleiermachers von dessen Predigten her in der
frühen Göttinger Vorlesung, nebenbei über die Entwicklung der
Theologie zum Existentialismus und über das Gespräch mit Bultmann
, über dessen „Schule" und ihren theologischen Hintergrund
und einer „wuchtigen Schleiermacher-Renaissance!" (300) schreibt
Aber ebensowenig wie ihn „das alte Marburg schließlich nicht festhalten
" konnte, so auch das neue Marburg nicht. Sogar „noch
weniger"! Barth begründet das sachlich und - vielleicht nicht gerecht
- persönlich: er sei „tief erschrocken angesichts des Kontrastes
einfach zwischen der Statur, dem Format und der Qualität
der menschlichen, christlichen und wissenschaftlichen Leistung
Schleiermachers und dem Entsprechenden, das bisher im Rahmen
der neuen Schleiermacher-Renaissance sichtbar geworden ist" (303).
Hier folgt ein Loblied „auf die humane Größe Schleiermachers und
seines Werkes". Es bezeugt Respekt bis dahin, daß „sein Einfluß
nicht nur seine schlimme Kompromittierung durch Feuerbach und
nachher die noch schlimmere durch Ritsehl und die Seinen, sondern
auch jene 1914 hereinbrechende Katastrophe der ganzen ihm folgenden
Theologie und auch den Ansturm .unserer', der sogenannten
.dialektischen' Theologie überstanden" und „noch in der Mitte
unseres Jahrhunderts jene ,existenzialistischen' Epigonen zu erzeugen
vermocht" hat. Eindrucksvoll ist das Wort des alten Barth,
daß er sich nun nicht sicher sei, ob er ihn richtig verstanden habe,
wiewohl er in der Sache und seines Weges gewiß und sich „so wie
ich ihn bis jetzt verstanden habe" eines ganz anderen Weges bewußt
sei. Aber: „habe ich ihn richtig verstanden? Könnte er nicht
vielleicht anders verstanden werden, so daß ich seine Theologie
nicht ablehnen müßte, sondern mir freudig bewußt sein dürfte,
im Grunde mit ihm einig zu gehen?" In welcher Richtung hier zu
fragen und weiterzudenken ist, skizziert er selbst mit insgesamt
9 dialektisch ventilierten Fragen, in deren Beantwortung „meine
Geschichte mit Schleiermacher möglicherweise heute weitergehen"
könnte (307).

Wie der Rezensent wird die Mehrzahl der Leser diese von Barth
erbetene „Einführung" zuerst lesen und besser ihr als jeder anderen
bloß zustimmenden Hinführung ein aufmerksames Schleiermacherstudium
verdanken. Natürlich will die Auswahl, wie Bolli
in seiner Einleitung bemerkt, „Hunger nach mehr" wecken. Dennoch
gelingt der Auswahl eine vielseitig zusammengestellte Kost
In fünf Abteilungen tischt Bolli mit eigenen knappen Hinweisen
aus dem Riesenwerk gut gewählte Abschnitte aus. Gleichwohl bleiben
es Kostproben. Aus den berühmten „Reden über die Religion",
deren Einordnung zur Theologie an die erste Stelle aus sachlichen
und chronologischen Gründen geschieht, finden sich ein Stück
aus der 2. und aus der 5. Rede (6-14), aus der „Kurzen Darstellung
des theologischen Studiums", die an erster Stelle in der Werke-
Ausgabe (1834-1864) steht, nur §§ 257 bis 266 (= Prakt. Theologie.
Einleitung). Oder aus der Glaubenslehre sind die Leitsätze 1-31
(Einleitung) mit einigen der Erläuterungen genommen worden,
ferner vollständig die §§ 93 und 94, nach H. Scholz" „Grundtext"
der Christologie Schleiermachers. Abschnitte aus der Christlichen
Sitte (1843), nämlich Einleitung und etwas über das „reinigende
Handeln im Staate" beschließen die Abteilung „I Theologie" (5-76).

Ihr folgt „II Philosophie" (77-114); II aber mit einer Überschrift,
die formal der Werke-Ausgabe nachgebildet ist. Denn nur die Proben
aus der „Dialektik" (86-99) als philosophische Prinzipienlehre
erlauben ihn sachlich. Die Monologen, die „das .ethische Gegenstück
zu den Reden' geben (Rudolf Hermann)" (77), und die Akademieabhandlung
„Über den Unterschied zwischen Naturgesetz
und Sittengesetz", die zwar in der Werke-Ausgabe in die philosophische
Abteilung aufgenommen sind, verstehen sich als Ethik.
In der nächsten Abteilung „III Theologie und Philosophie* (115
bis 179) steht der Brief an Jacobi vom 30. 3.1818, das 1. und 2.
Sendschreiben an Lücke und ein Abschnitt über „Philosophie und
Dogmatik" aus der Dialektik. Die Abteilung „IV Predigten" bringt
je eine Probe zu Advent, Weihnachten, Neujahr, Passion, Ostern,
Himmelfahrt und Pfingsten, wobei verschiedene Reifestufen berücksichtigt
werden. Leider ist für Weihnachten keine Predigt,
sondern ein Stück aus „Die Weihnachtsfeier, 1805" gebracht, und
für Ostern die kurze Predigt von 1792 (also eine Kandidatenpredigt
) der Passionspredigt von Judica 1833 nachgestellt worden.
Das weckt den Verdacht, Schleiermachers Predigten, von denen
10 Bände in der Werke-Ausgabe vorliegen, böten vielleicht für
den heutigen Leser nicht Überzeugendes genug. Die V. Abteilung
„Selbstbiographie von 1794, Briefe, Literarisches" (251-287) enthält
frühe Dokumente und beleuchtet etwas die persönliche Entwicklung
. Schade, daß nur die 3 Briefe an den Vater und einer an Sack
abgedruckt werden. Sie erhellen zwar 2 wichtige Lebensphasen
(bedenkliche religiöse Zweifel in Herrnhut und ungewohntes Verhalten
in Berlin in gesellschaftlicher und dogmatischer Hinsicht),
aber können nicht den Meister des geselligen Verkehrs in Gespräch
und Brief bezeugen. Die Auswahl ist hier mehr auf das
Interessante und ohnehin sehr Bekannte an Schleiermacher ausgegangen
, als auf das wirkliche Weiterführende und Entscheidende.
Erfreulich, daß als Literarisches die „Idee zu einem Katechismus
der Vernunft für edle Frauen" (274f.) und aus „Vertraute Briefe
über Friedrich Schlegels ,Lucinde', 1800" die „Zueignung an die
Unverständigen" und der „Versuch über die Schamhaftigkeit" aufzunehmen
gewagt wurde! Wie geistvoll Schleiermacher in dialektischen
Formulierungen war, kann man auch an den beiden
Charaden (287) wahrnehmen.

An Fehlern ist mir beim Lesen dieser Auswahl nichts bewußt
geworden. Den Umschlag schmückt Schleiermachers Namenszug
und Bild nach dem Kupferstich von H. Lips. Was nun sich durchsetzen
wird bei dem Schreibbild der so bekannten Abbreviatur
für die Beziehung zu Gott als Gefühl „schechthiniger Abhängig-
keit",die Schreibweise nach Duden oder Schleiermachers Schreibweise
, der ich in meiner Auswahlausgabe den Vorzug gab (II,
S. 10 Anm. 2), ist offen. Mit Schleiermacher hielt es jedenfalls
K. Barth und schrieb „schlechthinig" (302), mit Duden (oder mit
Redekers Ausgabe der „Glaubenslehre") hält es Bolli (29ff.), der
selbstverständlich alle Texte in heutiger Rechtschreibung bietet.
Bei der 16. Auflage des Dudens (1969) ist - anders als 1960 - das
Wort nicht mehr aufgeführt

Und wer nun - Schleiermacher oder Barth - fortan wirklich
wie Paulus „als Prophet und Apostel des Gottesreiches zu allen
Menschen aller Zeiten redet" (um mit Barths Römerbriefvorwort
zu schließen), das scheint sich mir dahin endgültig entschieden zu
haben, daß beiden dieser Zeugendienst am Evangelium zukommen
wird, ohne daß wir dazu dialektische Künstelei benötigen. Das
macht in ihrer Weise die besprochene Schleiermacher-Auswahl mit
Nachwort von Karl Barth ein wenig deutlich.

Jena Horst Beintker

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Tillich, Paul: A History of Christian Thought. Edited by Carl
E. Braaten. London: SCM Press Ltd (1968). XVIII, 300S. 8°.
Dieser Band bildet mit dem schon das Jahr zuvor erschienenen
Buch: Perspectives on 19th and 20th Century Protestant Theology
(vgl. meine Anzeige in dieser Zeitschrift 1968, Sp. 696ff.) eine Einheit
. Allerdings ist die sachliche Reihenfolge umgekehrt; denn die
hier vorliegende Dogmengeschichte - wenn man es so nennen
will - geht der „Theologiegeschichte" voraus. „A History" liegt
freilich in zwei Ausgaben (1953, 1956) schon vor, die aber etwas
apokryph sind. Es sind von fremder Hand besorgte Vorlesungsnachschriften
, von Tillich nachträglich approbiert, wie das bei ihm
öfters vorkam. Die nunmehr endgültig nötige Revision für die
Buchausgabe konnte der Verfasser nicht mehr vornehmen. Es