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Ausgabe:

1969

Spalte:

679-681

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Damerau, Rudolf

Titel/Untertitel:

Die Demut in der Theologie Luthers 1969

Rezensent:

Greschat, Martin

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679

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 9

680

D a m e r a u, Rudolf, Dr. theol.: Die Demut in der Theologie
Luthers. Gießen: Schmitz (1967). 370S. 8° = Studien zu den
Grundlagen der Reformation, 5. Kart. DM 29,50.

Die Bedeutung des Problemkreises Demut-Humilitas für die Anfänge
der Theologie Luthers ist in der reformationsgeschichtlichen
Forschung seit langem bekannt, zumindest die Ungeklärtheit dieses
Bereiches haben die Arbeiten von Ernst Bizer noch einmal
scharf unterstrichen. So greift man mit besonderem Interesse zu
einer Arbeit, deren erklärtes Ziel es ist, die Rolle der Demut in der
gesamten Theologie Luthers auf dem Hintergrund der mittelalterlichen
Tradition darzustellen.

Damerau setzt ein mit einem Überblick über die Demut-Humili-
tats-Vorstellungen in der devotio moderna, in den Regeln Augustins
und Benedikts mitsamt den zugehörigen Kommentaren, bei Bernhard
von Clairvaux und (Pseudo-)Anselm von Canterbury, gefolgt
von Cassian, Biel und Gerson (S. 17-53). Die sich anschließenden
sechs Kapitel behandeln Luthers Stellung zur Demut in den Randglossen
zu Augustin (S. 53-58), in der 1. Psalmenvorlesung (S. 59
bis 118) und im Römerbrief (S. 119-185), in den Jahren 1516-1521
(S. 185-251), schließlich in den Perioden 1521-1536 (S. 252-270) und
von 1536 bis zum Tode des Reformators (S. 270-294). Das Schwergewicht
der Untersuchung liegt also auf den beiden großen
Vorlesungen und dem sich anschließenden Abschnitt, mithin auf
der Theologie des „jungen Luther". Die folgenden Kapitel ziehen
die hier dargestellten Linien aus, bevor sie der Schlußabschnitt
(S. 295-314) eingehend zusammenfaßt: die gehorsame Unterwerfung
unter die monastische Tradition und damit die bis in letzte
Tiefen durchlebte Selbsterniedrigung als Mönch setzen Luther in
die Lage, die scholastisch-meritorische Engführung zu überwinden,
indem er von seinen Erfahrungen aus zur urchristlichen Frömmigkeit
durchstößt, in Paulus die Bestätigung seiner Einsicht findet
und damit auf dem Wege der „Perfektionierung" der überlieferten
Demutsauffassung - nicht durch den Bruch mit ihr! - zur alles
erneuernden Erkenntnis des sola gratia gelangt. „Die Demut ist
ohne Zweifel das Herzstück der Frömmigkeit Luthers von seinem
Eintritt ins Kloster bis zu seinem Tode gewesen" (S. 303).

Wie gelangt der Verfasser zu diesem Ergebnis? Zunächst fällt
das Absehen von geläufigen Fragestellungen und ihren Forschungsergebnissen
auf. Das Literaturverzeichnis ist dafür ein eindrücklicher
Beweis: Die gebotenen Angaben spiegeln Flüchtigkeit, eine
Reihe der wichtigsten Beiträge zum Thema fehlt. Aber auch die
im Text charakterisierten Autoren interessieren lediglich insoweit,
als sie den Gedankengang der vorliegenden Arbeit auszusprechen
scheinen. Dementsprechend heißt es etwa zu Bizers „Fides ex
auditu", dort werde die Auffassung vertreten, „daß in Luthers
Vorstellung Gott selbst die wahre Demut wirken müsse, und daß
diese Grundgedanken sich nicht weniger bei Staupitz als bei Luther
finden" (S. 60)! Das Recht zu diesem weitgehenden Verzicht auf
eine Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung gründet
nach der Auffassung desi Verfassers in der mehrfach betonten Eigenart
Luthers, die ausschließlich von seiner Frömmigkeit her und im
Zusammenhang mit der „Introversionsmystik" (S. 10 u. ö.) verstanden
werden muß - und damit in einen scharfen Gegensatz zu
jeder, speziell aber zur „intellektuellen scholastischen Universitäts-
theologic" (S. 110 u. ö.) gerät.

Versucht man dem Verfasser auf diesem Wege zu folgen, dann
entsteht in der Tat ein geschlossenes Bild, das Luthers theologisches
Denken zeitlebens als zutiefst von der Demut-Humilitas
gestaltet zeigt. Jedoch, auch wer zuzugeben bereit ist, daß durch
die Einbeziehung dieser spätmittelalterlichen und spez. mönchischen
Frömmigkeitszüge die geistige Eigenart des Reformators
adäquater faßbar wird, und ebenso, daß es sich bei diesen Problemen
um ein Desiderat handelt, das in der Forschung noch lange
nicht hinreichend berücksichtigt worden ist, muß nun doch die
Frage aufwerfen, ob hier nicht e i n Aspekt über Gebühr ausgeweitet
wird. Dadurch gerät der Verfasser zumindest in die Gefahr,
seinem Leser die angemessene Würdigung der erarbeiteten Ergebnisse
zu verstellen, daß er die Spannung, die durch seine Hervorhebung
der Demut gegenüber den anderen theologischen Aussagen
Luthers entsteht, durch die Reduktion des Theologiebegriffes
auf erlebbare Frömmigkeitsgehalte zu lösen sucht. Kann die hier
vorgeführte schroffe Trennung von Frömmigkeit und Theologie
im erwähnten Sinne wirklich zu einer sachgerechten Erfassung der
vorliegenden Quellen helfen? Die - in erheblicher Weiterführung
und damit Verschiebung von Vogelsangs Gedanken - gebotene

Interpretation der ersten Psalmenvorlesung als .Bekenntnisse seines
(i. e. Luthers) jeweiligen religiösen Zustandes" (S. 69) übersieht
doch wohl die an der gleichen Stelle geleistete breite wissenschaftliche
Auseinandersetzung des Reformators mit der Tradition
- wie sie die Neuausgabe dieser Vorlesung in WA 55 jetzt
besonders überzeugend darlegt. Ist dies alles auf die schmale
Basis des Erlebnisses zurückzuführen - oder wirken nicht persönliche
Erfahrung und umfangreiche, streng rationale wissenschaftliche
Arbeit zusammen? Scheidet man die letzteren Elemente
aus, bzw. unterwirft sie als bloßes Material der gestaltenden und
prägenden Kraft der Frömmigkeit, ist es allerdings konsequent,
ein „affektgemäßes Nacherleben" (S. 61ff.) aus der Stoffülle der
ersten Psalmenvorlesung herauszupräparieren, das auf Selbstverurteilung
als der Voraussetzung für die göttliche Gnade zielt
(S. 74ff.), verbunden mit dem „meditativ-geistlichen Exercitium
über das Leiden Christi" (S. 79ff.), welches Vorbild wird für die
völlige Preisgabe des Menschen und im Gebet (S. 97ff.), das als
klarster Gegensatz zu allem verdienstlichen Denken charakterisiert
ist, gipfelt: womit Luther „bereits seelisch zur Überwindung der
Demut der Tugend und einer meritorisch-religiösen Haltung"
(S. 114) durchgestoßen sei.

Uneinsichtig freilich bleibt bei diesem Vorgehen, was man gemeinhin
als „das Reformatorische" an Luther zu bezeichnen
pflegt. Denn wenn der Begriff der iustitia dei nur das göttliche
Zerbrechen des Menschen meint und umgekehrt dessen demütige
Annahme des Gerichtes, seine völlige Selbstpreisgabe also - und
darauf bleibt die iustitia dei nach Damerau bei Luther bis zuletzt
beschränkt - dann ist diese Demut gewiß das Entscheidende, das
konstitutive Element der Rechtfertigung. Sicherlich läßt sich eine
solche Humilitas auch a-meritorisch, ja als sola gratia verstehen.
Man mag durchaus darüber diskutieren, ob Luthers Römcrbrief-
vorlesung nichts anderes vorführt als die „konsequente Weiterführung
und Perfektionierung" jener mönchischen Tradition
(S. 119), die in einer Selbstverurteilung gipfelt, die alles Verdienststreben
hinter sich läßt (S. 130). Aber ist das die Rechtfertigungslehre
Luthers? Stellt sich die Demut bei Luther nicht - und
zwar von den frühesten Anfängen in der 1. Psalmenvorlcsung
an! - primär als ein Faktum dar, mithin als Konsequenz eines den
Menschen wesenhaft von außen betreffenden Geschehens? Der
von Damerau immer wieder unterstrichene Gegensatz von Verdienst
und Gnade erledigt diesen Einwand jedenfalls nicht zwingend
, da er nicht deutlich werden läßt, was jenes sola gratia
denn meint. Weil an dieser zentralen Stelle aber zumindest für
den Leser Unklarheit herrscht, scheint sich diese Arbeit zuletzt
in den eigenen Voraussetzungen zu verfangen: die gründliche
Herausarbeitung der vielfältigen Berührungen Luthers mit den
Gedanken und Weisungen eines Bernhard von Clairvaux, eines
Thomas a Kempis und Staupitz (S. 134,144ff., 151,155 u. ö.) drängt
dazu, innerhalb dieses als entscheidend angesehenen Rahmens
„das Reformatorische" zu beschreiben. Schon gegenüber Bernhard
von Clairvaux oder Staupitz wird es jedoch schwierig, das sola
gratia als das entscheidend Neue bei Luther herauszustellen. Bei
Tauler und der „deutschen Mystik" ist diese Problematik dann
offenkundig. Weil das Problem der Gnade immer nur formal verhandelt
wird, nämlich im Gegensatz zum Verdienst - das ebenso
formal und unabgeklärt gehandhabt wird - bleibt die reformatorische
Wende bei Luther uneinsichtig. Jene Alternative von Verdienst
und Gnade erweist sich damit endgültig als ein zu grobes
Instrument, um des reformatorischen Verständnisses von Gnade
ansichtig zu werden. Gleichlautende Wendungen in der Theologie
des Mittelalters und der Reformationszeit - wie jenes sola gratia
- bedeuten eben nicht einfach das Gleiche. Der Verfasser weiß
das. Aber seine selbstgewählten Voraussetzungen hemmen die
Verdeutlichung dieses Wissens. Wieso ist Luthers Aussage, .daß
das Göttliche mehr erlitten als getan werden müsse" (S. 202) etwas
radikal anderes als die gleichlautende Wendung bei Taulcr? Und
wenn es weiterhin von der Demut heißt, sie sei die bleibende Voraussetzung
des lutherschen sola gratia (S. 214) und „erst von der
perfekten Demut aus" erhalte .der neue Gerechtigkeitsbegriff
seine Basis" (S. 241), dann mag man noch so häufig und nachdrücklich
den Unterschied dieser Demut gegenüber jedem Verdienstgedanken
postulieren - einsichtig machen läßt er sich nicht!
Auch die sublimste Frömmigkeit, auch die perfekteste Demut bleiben
eben bei sich selbst, bleiben Werk und somit - zumindest
nach Luthers Verständnis - schon im Ansatz Verdienststreben.