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Ausgabe:

1969

Spalte:

663-664

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich 1969

Rezensent:

Mayer, Reinhold

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663

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 9

664

tionen der altisraelitischen Amphiktyonie der Vorkönigszeit Ihr
Zentralheiligtum ist gleichsam der Prototyp für die Kultuszentrali-
sation. Indes hatte die ganz ausschließliche Forderung des Dtn.
ihren Ursprung zu einem viel späteren Zeitpunkt.

Die zugespitze Frage: woher diese alten Traditionen stammen
und durch wen sie bewahrt und überliefert wurden, beantwortet
Nicholson dahin, daß sie nicht ausschließlich aus dem Nordreich
stammen, ferner nicht von levitischen oder priesterlichen, sondern
von prophetischen Kreisen überliefert wurden. Damit nähern wir
uns Nicholsons Hauptthese. Sie sucht eine überzeugende Synthes?,
die sowohl den nordisraelitischen Hintergrund des Dtn. berücksichtigt
, als auch seine Anwesenheit in Jerusalem zur Regierungszeit
Josias erklärt, herzustellen. Das Dtn. ist danach innerhalb
eines nordisraelitischen, prophetischen Kreises, der nach 721, dem
Untergang des Nordreiches, südwärts nach Juda floh, entstanden.
Hier erst formulierten sie ihre alten Traditionen zu einem Reformprogramm
, von dem sie hofften, dafj die maßgebenden Kreise
Judas es ausführten und damit die Zukunft Israels sicherten. Bei
der Abfassung dachten die Schreiber an Jerusalem als dem gottesdienstlichen
und politischen Mittelpunkt der Reformbewegung. Daher
machten sie auch deutliche Konzessionen an die Jerusalemer
Kulttradition. Der unmittelbare Hintergrund des Dtn. ist somit
Jerusalem im 7. Jhdt.

Als endlich Josia den Thron bestiegen und dem Dtn. eine Hauptrolle
in seiner Reformbewegung anwies, begann für den Traditionskreis
des Dtn. eine zweite Phase der Wirksamkeit, in der sie
es zur Grundlage für den Versuch machten, die Geschichte Israels
von Mose bis zum Exil von einem theologischen Standpunkt aus
zu deuten. Er liegt uns im deuteronomistischen Geschichtswerk
vor.

Da Nicholson mitten in die heutige Diskussion der Deutero-
nomiumsprobleme eingreift und die gegensätzlichen Standpunkte
zusammenzuführen bemüht ist dürften sich hier kritische Anmerkungen
und Einwände erübrigen. Nur dies sei hervorgehoben. So
eindrucksvoll die Synthese selber ist, so angenehm exakt ist auch
die Art, wie Nicholson sie herausarbeitet und begründet. Diese
methodische Klarheit hebt seine Arbeit über viele heute auf seinem
Fachgebiet gebotenen Arbeiten weit hinaus.

Haselau Egon Pfeiffer

JUDAICA

Wilhelm, Kurt [Hrsg.]: Wissenschaft des Judentums im deutschen
Sprachbereich. Ein Querschnitt. Mit einer Einführung.
L und II. Tübingen: Mohr 1967. XIX, 367 S. u. VII, S. 368-796
gr. 8° = Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlgn. d. Leo
Baeck Instituts, 16, 1 u. 2. Kart. DM72,-; Lw. DM81,-.
Kurt Wilhelm war von seinen Voraussetzungen her - nach
Herkunft und Alter, Bildungs- und Lebensgang - wie kaum ein
anderer befähigt, eine derartige Anthologie zu schaffen. 1900 in
Magdeburg geboren, studierte er zunächst am Rabbinerseminar
in Breslau, dann an einem der Schwerpunkte der Wissenschaft des
Judentums in der Neuen Welt, am Jewish Theological Seminary
in New York. Seit 1925 Rabbiner in Braunschweig, dann in Dortmund
, ging er 1933 - ebenfalls als Rabbiner - in das geistige
Zentrum nach Jerusalem, von wo sein Weg 1948 wieder zurückführte
in die Diaspora, diesmal nach Stockholm, wo er bis zu seinem
Tod im Jahre 1965 als Oberrabbiner wirkte. Oft kam er von
Stockholm her zu Tagungen in die Bundesrepublik; seit 1957 war
er Honorarprofessor für Wissenschaft des Judentums in Frankfurt
. Als einer der letzten Großen, die im Entstehungsland der
Wissenschaft des Judentums verwurzelt waren und blieben, war
er für die gegenwärtig in Westdeutschland lebende Generation
wichtig als Bindeglied zwischen einer Epoche, die mit ihm zu
Ende gegangen ist, und einer anderen, für deren Nöte und Fragen
er Verständnis und Antwort hatte.

Wer ihm begegnete, der war tief beeindruckt, vor allem von
seiner Menschlichkeit. Seine Ruhe fiel auf; er konnte sagen, die
Zeit sei sein größter Reichtum; er war geduldig beim Hören (sein
Spruch war: „es gibt keine dumme Frage"), drängte aber zugleich
ungeduldig zur Arbeit; er konnte vornehm sein und unerbittlich
in einem. Seine Gelehrsamkeit war unaufdringlich; der Mensch
trat hinter der verhandelten Sache zurück. Er war der Knecht, der
im ganzen Haus des Judentums heimisch war, der sammelte und
ordnete, der mit sicherem Griff die aussagekräftigsten Beispiele
einer weiten Literatur auszuwählen wußte. Am liebsten zitierte

und erschloß er die Quellen. Und so entstanden seine Anthologien:
wie schon 1935 (Wege nach Zion), 1938 (Jüdische Selbstverwaltung)
und 1961 (Jüdischer Glaube) so auch jetzt: sein letztes und größtes
Werk, das er bescheiden einen Querschnitt nannte.

Mit feiner Einfühlung verstand es Wilhelm, in der Einleitung
eine kurzgefaßte Geschichte der Wissenschaft des Judentums darzustellen
. Es ist ein erregender Bericht geworden von einem
Weg, der im Verborgenen durch einsame Männer, bar jeder Institution
und Organisation, begonnen wurde, ein Bericht von viel
Hoffnung und mehr Enttäuschung, von Zielen, die nie, und von
Zielen, die erst auf nie geahnten Umwegen erreicht worden sind.
In der ersten Phase, der Stufe der Isolation und Autarkie, sind
die Männer um Zunz ausgezogen, um der jüdischen Literatur,
deren Ende sie gekommen wähnten, ein würdiges Begräbnis zu
bereiten. In einer zweiten Phase erfuhren sie von den Wechselbeziehungen
zwischen Judentum und Umwelt, und in einer dritten
und letzten Phase entdeckten sie das Judentum selbst als eine
(noch und wieder) lebendige Wirklichkeit. Der Weg von der
Apologie zum "elbstverständnis war möglich durch eine Wandlung
, ja durch jinen Bruch in der Methode: an die Stelle des alten
Lernens, der antiquarisch-literarhistorischen Art innerhalb des
Rabbinertums, trat die geschichtlich-systematische Durchdringung
des Ganzen, an die Stelle des vorsichtigen Auswählens die Rekonstruktion
des Gesamten - mit Einschluß des zuvor Gemiedenen
, der Mystik (Kabbala) und der Volksliteratur.

Die geschichtliche Situation gewährte keine kontinuierliche Entwicklung
; alles ist voller Brüche, durch Zäsuren wie Zionismus,
europäische Judenausrottung und israelische Staatsgründung markiert
. Das Ende des Weges ist darum einerseits tragischer als sein
Anfang. Von den in den dreißiger Jahren lebenden (und hier zitierten
) Autoren konnten nur wenige noch einige Zeit in Deutschland
weiterleben, keiner von ihnen ist hier geblieben, keiner hier
gestorben, keiner hier begraben. Andererseits wieder war der Ertrag
dieser Arbeit so groß, wie man das niemals erwarten konnte,
bedingt eben dadurch, daß die Wissenschaft des Judentums neue
Zentren fand und festigte in Nordamerika und in Israel. Dem entspricht
sprachlich, daß die wichtigsten Werke der Judaistik gegenwärtig
in Englisch und in Hebräisch veröffentlicht werden. Judaistik
im deutschen Sprach- und Geschichtsraum gehört der Vergangenheit
an; als solche behält sie freilich für immer eine Bedeutung
für das Gesamtjudentum und (was weithin erst noch zu entdecken
ist) für die gesamteuropäische Kultur und für die in ihr beheimatete
christliche Theologie.

Bei aller Beschränkung, die sich der Meister auferlegte, gelang
es Wilhelm, den verschiedensten Vertretern der Wissenschaft des
Judentums „mit ihrem Wissen und Irren gerecht zu werden". Der
Wurf ist gelungen, ein Kunstwerk entstand, in dem sich aus
45 Einzelteilen ein geschlossenes Ganzes formt. Die Vielschichtigkeit
blieb erhalten und zugleich ist die einheitlich-durchgängige
Linie aufgezeigt. Das Werk ist organisch gegliedert: eine geschichtliche
Folge ist erkennbar, innerhalb derer sich Fragenkreise systematisch
verdichten. Die einzelnen Kapitel sind so gegliedert:
1. Bibel und Biblisches, 2. Hellenismus und Zeit des Zweiten Tempels
, 3. Talmud und Midrasch, 4. Geschichte und Geschichtswissenschaft
, 5. Religionsphilosophie und Kabbala, 6. Buchwesen und
Literatur, 7. Grundsätzliches und Systematisches. Innerhalb dieser
Abschnitte kommen die namhaftesten Vertreter der Wissenschaft
des Judentums zu Wort von den Anfängen mit Zunz, Geiger und
Steinschneider bis in die Gegenwart etwa mit Urbach, Simon und
Scholem. Dazwischen viele bekannte Namen wie Heinrich Graetz.
Zacharias Frankel, Jsaak Heinemann, Jsmar Elbogen, Hermann
Cohen, Leo Baeck, Franz Rosenzweig, Martin Buber und viele
andere. Von jedem erscheint ein Beitrag, der gerade für seine
Forschung nach Art und Ergebnis typisch ist (je nach thematischem
Gesichtspunkt dem Gesamtrahmen eingeordnet). Jedesmal folgt
ein kurzer Lebenslauf des Verfassers, auch eine Aufzählung seiner
wichtigsten Veröffentlichungen.

Die Anthologie wurde nach Wilhelms frühem Tod vom Leo
Baeck-Institut durch Max Kreutzberger herausgegeben. Eine Würdigung
Wilhelms, seiner Person und seines Werkes, schrieb sein
Jerusalemer Freund Hugo Bergmann. Die Aufmachung ist hervorragend
und ansprechend wie die ganze im Mohr-Verlag Tübingen
erscheinende Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des
Leo Baeck-Instituts.

Tübingen Reinhold Mayer