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1969

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Philosophie, Religionsphilosophie

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 8

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Stils erlebte. Die Erfahrungen des ersten und zweiten Weltkrieges
haben diesen Riß erheblich vertieft. Daß sich die heutige Naturwissenschaft
zusehends „historisiert", will demgegenüber nicht
viel sagen. Dies hat vielmehr die Diskrepanz zwischen den Zeiträumen
, mit denen Kosmogonie, Geophysik, Biologie und Paläontologie
des Menschen rechnet, und den 5000 Jahren menschlicher
Geschichte erst recht bewußt gemacht. Aber es kommt uns,
solange wir leben, ja nicht auf die Dauer der Zeiträume, sondern
auf die Wirkung und Intensität zeitlichen Geschehens an. Der
intellektuelle Schrecken, den der Mathematiker Poincare klassisch
zum Ausdruck bringt, wenn er sagt: „Das Leben ist nur ein kurzer
Zeitraum zwischen zwei Ewigkeiten des Todes . . . und das Denken
nur ein Lichtstrahl inmitten einer langen Nacht" (bei S. zitiert
S. 308), wird von den meisten Menschen überhaupt nicht verspürt.
Die wenigen, die er trifft, können sich mit dem Zusatz Poincarcs
trösten: „Aber dieser Lichtstrahl ist alles". Andere werden gern
der Hypothese Teilhard de Chardins zustimmen, derzufolge „das
Universum eine Entwicklung ist, die sich auf den Geist hin vollzieht
" (bei S. zitiert S. 308), und die als Christen auf die Unsterblichkeit
des Geistes und seine „Einheit mit Gott" (S. 313) vertrauen
. Wie aber, wenn es nicht das Erkalten der Erde ist, das
allem Leben und Geist auf ihr ein Ende bereitet, sondern wenn
der menschliche Geist das mit Hilfe von Atomexplosionen selber
tut? Dann wird die lange Todesnacht aus einem bloß gedachten zu
einem erlebbaren Schrecken. Wer von ihm in der geschichtlichen
Zeit, sei es unmittelbar oder von ferne ergriffen wurde, wird kaum
zustimmen, wenn S. sagt: „Fest steht . . ., daß Gott die Welt so
geschaffen hat, daß sie nicht im ganzen in die Irre gehen kann".
Denn die menschliche Unvernunft kann das sehr wohl. Er wird
auch nicht mit Augustin den providcntiellen Ablauf der Geschichte
als ein „herrliches Gedicht Gottes" (pulcherrimum Carmen Dei)
ansehen oder anhören können (S. 321).

Die Ethik, die S. auf den Prämissen dieses Glaubens an einen
unverbrüchlichen ordo des mundus physicus und mundus moralis
aufbaut, ist selbstverständlich eine systematisierende Ethik der
Werte. Sie sind an sich „unveränderlich", müssen aber erst nach
und nach gefühlsmäßig „entdeckt" werden. Es gibt eine Hierarchie
und einen Widerstreit der Werte; aber das schließt deren Harmonie
in einem „Reich der Zwecke" nicht aus. Nicht die Geschichte,
wohl aber die Werte sind normativ. Begreiflicherweise spricht S.
bei der Frage nach ihrer Verwirklichung vom „Naturrecht". Es ist
nach S. der Orientierungspunkt für die Definition der „Strukturform
. . ., nach der eine soziale Gruppe, welche die sittlichen Werte
bei sich verwirklichen will, organisiert sein muß" (354). Katholische
Soziologen und Politiker, die das versuchen, kommen dabei oft in
große Verlegenheiten. Daß die Berufung auf das Naturrecht vom
Aufstand der Bauern im 16. Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart
auch eine revolutionäre Rolle gespielt hat, erwähnt S. nicht.

Man ist etwas müde, wenn man das Buch von S. bis dahin
aufmerksam gelesen hat, und geneigt, den Abschnitt über Erkenntniskritik
oder Kritcriologie auszulassen. Aber sie
ist unentbehrlich, weil die Erfahrung des wissenschaftlichen Denkens
durch die Jahrtausende hindurch immer wieder gezeigt hat,
daß Dialektik zur Eristik, wohlbegründete, aber nur partiell richtige
Lehrmeinungen zu Schuldogmcn, das genaue Hinsehen ( oh£<1>ic, )
zum Skeptizismus (Zweifelsucht) werden können. Daraus entstehen
dann in der Metaphysik die bekannten Positionen eines
extremen Idealismus und in der Antithese zu ihm des extremen
Realismus. Hat der eine das Übergewicht, so wechselt man über
zum anderen, immer mit der Begründung, das Denken müsse vom
Kopf auf die Beine gestellt werden, obwohl ein Mensch weder
ohne Kopf noch ohne Beine gehen oder laufen kann. Deshalb muß
bei jedem größeren Schritt, den die Wissenschaft macht, untersucht
werden, ob die Methode, nach der man arbeitet, ein Seitenweg,
ein Umweg, vielleicht sogar ein Irrweg ist, oder ob man sich auf
dem richtigen Wege befindet. Das ist, wie S. meint, der „methodische
Zweifel" Dcscartcs', der zum Wesen des wissenschaftlichen
Denkens gehört. Aber wer ihn praktiziert, begibt sich auf eine
Gratwanderung und ist ständig in Gefahr, nach rechts oder links
abzurutschen. Darum ist mit Augustin dem Lob des methodischen
Zweifels hinzuzufügen: „Non intratur in veritatem, nisi per cari-
tatem" (zitiert bei S. S. 392 A 123). Das gilt besonders für die
Theologen, aber gewiß nicht für sie allein.

M;iiiiz Friedrich D e I c k a t

Brandenstein, Bela von: Vom Wesen und Wert der Analogie des

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Wansch, Otto: Der Begriff der Welt in der Philosophie Eugen Finks
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SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Duquoc, Ch., o. p.: Christologie. Essai dogmatique. l.L'homme Jesus.
Paris: Lcs Editions du Cerf 1968. 338 S. 8° = Coeitatio Fidei, 29.
ffr. 30.-.

Die Christologie stellt die Theologie aller Kirchen vor neue
Aufgaben, deren dogmatische Bewältigung jedoch manche Schwierigkeiten
mit sich bringt. Auf der einen Seite steht eine Fülle von
neuen exegetischen und theologiegeschichtlichen Einzeluntersuchungen
, auf der anderen Seite steht das Postulat einer gegenwartsbezogenen
Neuinterpretation. Es ist nur zu verständlich,
wenn die Dogmatiker mit nur wenigen Ausnahmen auf eine systematische
Gesamtdarstellung verzichten und lieber in aller Vorläufigkeit
Grundzüge, Entwürfe oder Teilaspekte vorlegen. Zudem
steht ein ,System' stets unter dem Verdikt, die ständige
Bewegung des Hörens in ein starres Schema zu pressen. Da aber
gewiß jedermann neben aller Bedenklichkeit die praktische und
nicht zuletzt auch didaktische Notwendigkeit einer systematischen
Auswertung der .christologischen Fragen' einsehen wird, darf
jeder Versuch in dieser Richtung große Beachtung erwarten und
Bewunderung gerade dort, wo er sich der Kritik stellt.

Was der französische Dominikaner Duquoc in seiner Christologie
vorlegt, ist bis jetzt nur ein Anfang. Für die Prinzipienfragen
hat er ein demnächst erscheinendes Werk über „Methode et
Theologie" angekündigt. Von der Christologie enthält der vorliegende
Band zwei Abschnitte: 1. Die Mysterien des Lebens
Christi, 2. Die Titel Christi und sein irdischer, menschlich-göttlicher
Zustand. Der noch ausstehende dritte Teil soll dann das
.Ostermysterium' behandeln, also Kreuz und Auferstehung.

Die Disposition läßt bereits einiges von der Tendenz des
Werkes erkennen, die von der Zweinaturenlehre bestimmt ist —
im neutestamentlichen Sinne von der Gottessohnschaft Jesu Christi.
Dabei schlägt Duquoc ganz bewußt einen Mittelweg zwischen
zwei Extremen ein: weder will er eine Repristination eines dogmatischen
Formalismus und Apriorismus, noch will er eine anthropologisch
orientierte Neuinterpretation der Christologie in der
Reduktion auf Existentialverhältnisse. Denn, so heißt es im Blick
auf die mehrfach apostrophierte Tod-Gottes-Theologie, „es ist
also keineswegs ein metaphysischer Luxus zu wissen, ob Jesus der
Sohn Gottes ist oder nicht" (334).

Im Positiven wie in der kritischen Auseinandersetzung folgt
D. dem von Karl Rahner formulierten Prinzip einer „christologischen
Bibeltheologie" bzw. einer „transzendentalen Hermeneutik",