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Ausgabe:

1969

Spalte:

613-614

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Doerne, Martin

Titel/Untertitel:

Gott und Mensch in Dostojewskijs Werk 1969

Rezensent:

Onasch, Konrad

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613

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 8

614

LITERATURGESCHICHTE
UND CHRISTLICHE DICHTUNG

Doerne, Martin: Gott und Mensch in Dostojewskijs Werk. 2., erweit.
Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1962]. 111 S. 8° — Kleine
Vandcnhoeck-Reihe 50/50a. Kart. DM 2.40.

Die erste Auflage dieses Buches wurde vom Rezensenten s. Z.
ausführlich besprochen („Dostojevskij und kein Ende?", in: ThLZ
83, 1958 Sp. 573—576). Martin Doerne ist in der vorliegenden
zweiten Auflage sowie in einer ebenfalls ausführlichen Besprechung
über zwei Dostojevskij-Bücher von mir („Dostojewski
— ein Verführer?", in: ThLZ 88, 1963 Sp. 91—98) auf meine Ansichten
in einer so umfassenden Weise eingegangen, daß ich nur
mein aufrichtiges Bedauern über diese späte Ankündigung seiner
Arbeit zum Ausdruck bringen kann. Wenn ich auch heute eine
Reihe von überspitzten Formulierungen, die Doerne in liebenswürdig
-geistreicher Weise mir (auch in einem Briefwechsel) unter
den Händen zerpflückte, nicht mehr bestätigen würde, gibt es doch
eine ebenso große Reihe von Deutungen, die zwischen uns entschieden
kontrovers bleiben. Dazu gehören u.V die wichtige
Rolle, die Chauteaubriand für die Entstehung und Entwicklung
des Christusbildes bei Dostojevskij gespielt hat, die freilich einer
tieferen Untersuchung noch harrende auffällige Parallele gerade
im theologischen Bereich zwischen der Persönlichkeit und der
Gedankenwelt Bucharevs und der Figur Myschkins, und vor allem
die Auffassung, daß im „Glaubenssymbol" Dostojevskijs von 1854
unter „Wahrheit" die christliche, besser vielleicht die kirchliche
Lehre zu verstehen sei. In der kurz vor seinem Tode mündlich entworfenen
Fortsetzung der „Brüder Karamasow" wollte Dostojevskij
Aljoscha als Revolutionär auf dem Schafott enden lassen.
„Die Wahrheit würde er gesucht haben, aber auf der Suche nach
ihr würde er natürlicherweise Revolutionär geworden sein". M. E.
muß stark mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Dostojevskij
in der Figur Aljoschas den Weg „außerhalb der Wahrheit"
(wie es im „Glaubenssymbol" heißt) aufzeigen wollte, wie er es im
Roman selbst schon angedeutet hatte. Leider geht Doerne auf
diesen Punkt nicht ein. Jedenfalls ließe sich der wahrscheinlich
von Bucharev angeregte, von Doerne in seiner Stringenz für Dostojevskij
abgelehnte „temporäre Arianismus" und eine Fülle anderer
Beobachtungen innerhalb des Gesamtwerkes von Dostojevskij
auch in diese Gedankenreihe einordnen. In diesen ganzen
Problemkreis gehört auch Doernes Ablehnung der Ansichten
Ludolf Müllers über den Einfluß des protestantischen Liberalismus
auf Dostojevskij und der These vom „Christentum ohne Kirche",
die sich doch wohl an der eben beschriebenen Entwicklung
Aljoschas und der Figur Myschkins als seines „Vorläufers" beweisen
läßt. In einem (theologischen) Dostojevskij-Seminar in
Halle wurde von den Teilnehmern darauf hingewiesen, daß
zwischen dem „liberalen" Christussymbol Dostojevskijs und der
Kategorie der „Gleichzeitigkeit" bei Kierkegaard eine innere
Affinität bestünde, die die Frage nach dem Liberalismus beim
russischen Dichter aus einer anderen Perspektive fruchtbar werden
ließe. Auch Kierkegaards Forderung nach einer „indirekten
Mitteilung" als Ausdrucksform objektiver Ungewißheit hinsichtlich
der Wahrheitsüberzeugung ließe sich bei Dostojevskij bis in
die Technik des Dialoges hinein nachweisen. Rankes „Unmittelbarkeit
zu Gott", die Suche nach dem jenseits von Dogma und
Kirche vorzufindenden „historischen Christus", der von Herder
bis Harnack den „Vatergott" offenbaren soll, Kierkegaards
»Gleichzeitigkeit" mit Jesus und das Bewußtsein „poetischer Unmittelbarkeit
" zu diesem Jesus bei Dostojevskij (weil auch „dem
Sein des Kunstwerks .Gleichzeitigkeit'" zukommt, Gadamer), —
das alles bewegt sich gedanklich auf derselben Ebene und gehört
zu den großen, zweifellos zwiespältigen Bemühungen des 19. Jahrhunderts
, im divinatorischen Akt unmittelbaren Verstchens die
Wahrheit zu erfassen. Eben diese Zweispältigkeit oder „Zweideutigkeit
" möchte Doerne Dostojevskij nicht anlasten. Er möchte
a"ch nur halb anerkennen, daß sie zum tiefen „Spielernst" des
Dichters gehören. Sie zu eliminieren, hieße aber seinem Werk das
Salz des Poetischen nehmen.

Ich hoffe, wenigstens angedeutet zu haben, wie sehr mich die
zweite Auflage von Doernes Dostojevskij-Buch beschäftigt hat

und immer noch beschäftigt. Und ich möchte die Überzeugung
aussprechen, daß es einem großen Leserkreis dieses Buches ebenso
ergehen wird.

Mulle (Saale) Konrad 0 n n ■ c h

Jonas, Ilse: Jochen Klepper. Dichter und Zeuge. Ein Lebensbild. Berlin:
Evang. Verlagsanstalt [1966]. 158 S., 20 Taf., 1 Porträt. 8°. Lw.
M 5.20.

Das immer noch anhaltende Interesse an Jochen Klepper
ließe eigentlich auch eine Zunahme der literarischen Bemühung
um sein Werk — Romane, Gedichte, Tagebücher — erwarten.
Diese steckt aber immer noch — nach 25 Jahren — in den Anfängen
. Es scheint fast, daß die 1000 Seiten seiner Tagebücher für
immer statt einer Biographie gelten werden. Auch das Buch von
Ilse Jonas ist keine selbständige Biographie, sondern ein aus
Kleppers Schriften und aus Briefen seiner Freunde erhobenes
mixtum compositum. Der Hauptwert des Buches liegt entschieden
in den im ersten Teil — „Herkunft und Werden" — von der Verfasserin
beigebrachten Ergänzungen unserer bisherigen Kenntnis
von Kleppers Kindheit und Jugend, bis zum Beginn der Studienzeit
und weiter noch. Was darüber in den Tagebüchern zu lesen
war, hatte den Charakter von Andeutungen, die bisweilen denn
auch wohl zu falschen Schlüssen beim Leser führten. Es hat nun
auch wieder fast romanhaften Beigeschmack, wenn etwa ein Kommilitone
der Breslauer Zeit berichtet, Klepper habe ihm erzählt,
daß seine Mutter, „um der Gemeinde willen die Predigten des
Vaters über sich ergehen ließe, dabei aber im verschlossenen
Kirchensruhl Patiencen zu legen pflege". Nun, das Leben ist immer
reicher, eigentümlicher, kurz „origineller", als christliches Herkommen
zugeben möchte. Später interessieren dann auch besonders
die Mitteilungen der Witwe Professor Lohmeyers oder Professor
Hermanns, die Klepper im Johanneum kennen lernten. Diese
und ähnliche Erinnerungen sind geeignet, Kleppers Aufzeichnungen
mindestens der ersten dreißiger Jahre zu ergänzen und zu erhellen
. Einige seiner frühen, unveröffentlichten Gedichte, die Ilse
Jonas von da und dort heranzieht, geben im künstlerischen Sinne
wenig her. Vielleicht hätten sie doch lieber unter Verschluß bleiben
sollen. Theologie und Literatur — beides sollte Kleppers
Lebensweg bestimmen, beides mit gleichem Gewicht. Die von ihm
über solches „Doppel-Leben" — das außer ihm ja noch mancher
andere Dichter geführt hat — angestellten Reflexionen erhielten
durch die politische Bedrängnis, in die er geriet, erst ihren vollen
existentiellen Ernst. Es scheint aber, daß ihnen zu folgen nicht
jedermanns Sache ist. Eben darum ist das Buch von Ilse Jonas als
Brücke zu Kleppers „tragischem Idyll", zu seinem „mystischen
Schicksal" — beides Ausdrücke aus den Tagebüchern — durchaus
zu begrüßen. Möchten nur nicht naturgemäß auf Wiederholung
angelegte Schriften intensiverer Bemühung um Klepper den Weg
verlegen. Kirche und Theologie sind dem hohen Thema bisher
leider ebensoviel schuldig geblieben wie die Literaturwissenschaft.

Herlin Kurt Ihlenfeld

PHILOSOPHIE, RELIGIONSPHILOSOPHIE

S o I a g e s, Bruno de: Einführung in das metaphysische Denken, übers,
v. M. Kühn. München: Hueber [1967]. 393 S. 8°. Lw. DM 29.80.
Das Interesse der deutschsprachigen evangelischen Theologie,
vermutlich auch das der Leser der Theologischen Literaturzeitung,
liegt nicht auf der Metaphysik. Aber ganz ausschalten läßt sie sich
nicht, wenn der Exeget zum Hermeneutiker wird, der Systematiker
sich in der Schöpfungslehre mit Problemen der Kosmogonie, in der
Ethik mit solchen der Biologie befassen muß, wenn theologische
und außertheologische Anthropologie klar unterschieden werden
sollen, wenn der Kirchenhistoriker nicht nur Ideengeschichte betreibt
, sondern auch soziologische und politische Gesichtspunkte in
Betracht zieht, wenn der Homilet und Katechet in dem Dilemma
zwischen Gotteswort und Menschenwort sich die Frage stellt, was
es heißt, mit Vollmacht zu predigen und im Unterricht das Ohr
der Jugend zu haben. Aus diesem Grunde sollten sich auch evangelische
Theologen mit dem Buch von S. beschäftigen. Sie werden
viel aus ihm lernen, auch wenn sie am Ende vielleicht zu dem Urteil
kommen: so geht es nicht.