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Ausgabe:

1969

Spalte:

607-609

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gestrich, Christof

Titel/Untertitel:

Zwingli als Theologe 1969

Rezensent:

Rogge, Joachim

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 8

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sehen der Stadt Siena und dem Papst würgen alle Versuche zur
Fortsetzung des Konzils ab. Zur Beruhigung setzt Martin V. eine
„Kommission ein, um die Reform weiter zu betreiben" (S. 243).

B. spricht von einer „kläglichen Bilanz des Konzils, von dem man
nichts Geringeres erwartet hatte als den Abschluß der zu Konstanz eingeleiteten
Reform" (S. 249). Es bildete sich „geradezu eine Art .Dolchstoßlegende
' um das Konzil von Siena" (S. 251). Im Hinblick auf das
5. Lateranum und das Tridentinum nennt B. das Konzil von Siena „einen
zukunftsträchtigen Beitrag zur Neuordnung des Zusammenspiels von
Papst und Konzil" (S. 256). Anregend, aber unrichtig ist der Vergleich:
„Das Konzil glich einem der Medizin wohl kundigen Kranken, der zwar
Ursachen und Verlauf seines Leidens genau diagnostiziert, sidi zudem
über die einzuschlagende Therapie im klaren ist, sich aber nicht entschließen
kann, mit der Kur zu beginnen" (S. 261). Das Bild müßte geändert
werden: Ein Ärztekongreß hatte gute Pläne, aber der Gesundheitsminister
hinderte die Ausführung! Jener Papst, der die nötige „Kur"
verhinderte, wird von B. in hellem Licht gesehen: „Martin V. war von
Anfang an das unbestrittene Haupt des Konzils. Diese Stellung auf dem
Konzil von Pavia zu wahren und sie auszubauen, war das Ziel, das Martin
von vornherein im Auge hatte, auf das er unbeirrbar zuging . . ." (S. 263).
Die bösen Folgen dieser Zielsetzung, die ja endlich erreicht wurde, sind
für B. offenbar keine Anfechtung. Er begrüßt die Entwicklung zu dem
„für die Zukunft gültigen Konzilstyp" (S. 265).

B. stellt abschließend und einleitend das Konzil von 1423/24
in einen größeren Zusammenhang: „In der Tat hätte ein von
äußeren, politischen Faktoren ungehemmter Verlauf des Konzils
nach menschlichem Ermessen die Absichten Martins V. gelingen
lassen und damit der Kirche die Katastrophe von Basel erspart.
So aber stellt Siena in der dramatischen Entwicklung der konzilia-
ren Idee den Punkt der Peripetie dar, jenen Punkt, an dem die bis
dahin für einen guten Ausgang noch offene Handlung durch das
Eingreifen einer dunklen Gestalt die endgültige Wendung zum
Schlimmen erfährt" (S. 266). Dennoch will B. jenes Konzil „als
ein wirkliches allgemeines Konzil" zählen, wobei er sich auf den
Tübinger katholischen Kirchenhistoriker K. A. Fink beruft. Mir
scheint, daß zwischen der Sicht Finks und der von B. ein erheblicher
Unterschied besteht. Fink schloß seine Darstellung der
Reformkonzilien im Handbuch der Kirchengeschichte (III/2, 1968)
mit dem Satz: „Rom hat die Reform verhindert und dafür wenig
später die Reformation erhalten" (S. 58 8). Das von B. vorgelegte
Material zeigt die Richtigkeit dieses Urteils von Fink gerade auch
im Hinblick auf das bisher so wenig beachtete Konzil von Pavia/
Siena 1423/24. Ein Kairos war versäumt worden.

Rostock Gert H a c n il 1 e r

G c s t r i c h, Christof: Zwingli als Theologe. Glaube und Geist beim
Zürcher Reformator. Züridi/Stuttgart: Zwingli Verlag [1967|. 193 S.
8° = Studien zur Dogmengesdiichte und systematischen Theologie,
hrsg. von F. Blanke f, A. Ridi, Otto Weber f, J. Staedtke, E. Jüngel, 20.
Kart. DM 21.—.

„Von weichen Voraussetzungen aus Zwingli als Theologe
gedacht hat, welche Impulse er von der traditionellen Theologie,
vom Humanismus und von der Reformation Luthers empfing und
wie diesen Einflüssen gegenüber Zwingiis theologische und geistige
Eigenart zu bestimmen ist, dies ist der Gegenstand vorliegender
Untersuchung" (S. 9). So beschreibt der Verf. selbst sein Unternehmen
, das aus einer Dissertation erwachsen ist, die 1965 der
Theologischen Fakultät in Zürich vorgelegen hat. Unter der
Betreuung Fritz Blankes, dessen Gedächtnis die Studie gewidmet
ist, hat Gestrich damals gearbeitet.

Verf. weist bereits im Vorwort auf die Begriffe hin, die er
auch in den Untertitel seiner Arbeit aufgenommen hat und deren
adäquate Behandlung er in der Zwingliforschung bisher vermißt
hat: Glaube und Geist! Von hier aus erschließt sich ihm
die Theologie des Zürcher Reformators, und so hält er es für
gerechtfertigt, unter den genannten Aspekten eine neugearbeitete
Theologie Zwingiis vorzulegen. Sein Lehrer spricht davon, daß
die Studie „ein schöpferischer Wurf" sei, und zwar besonders deshalb
, weil sie „Zwingiis Lehre einmal unter dem Gesichtspunkt
des Spiritualismus zu untersuchen" trachtet. In der Tat haben wir
eine fast auf jeder Seite erkennbare Explikation für die Berechtigung
vor uns, Zwingli als Spiritualisten zu bezeichnen. Nun bedarf
es keiner ausgedehnten reformationsgeschichtlichen Kenntnisse,
um sofort zu fragen, ob es glücklich ist, diesen begriffsanalytisch
äußerst schwierigen und belasteten Terminus in den Vordergrund
zu stellen. Daß Gestrich ihn von dem der Pneumatologie (im

Sinne etwa der Verwendung Fritz Schmidt-Clausings: Zwingli.
Berlin 1965) absetzen will, macht die Sache nicht gerade unkomplizierter
.

Über den Geistbegriff Zwingiis ist schon sehr viel geschrieben
worden, was sich keineswegs auf einen Nenner bringen läßt.
Gestrich fügt diesem eine neue Version hinzu. Ob sie überzeugt,
wird die sicher bald zu erwartende Reaktion derer zeigen, die mit
ihm in der Zwingliforschung auf dem Wege sind und sich sehr
anders geäußert haben, wie etwa Gottfried W. Locher (s. vor allem
passim: Die Theologie Huldrych Zwingiis im Lichte seiner Christo-
logie. Erster Teil: Die Gotteslehre. Zürich 1952).

Neu und fruchtbarer erscheint es, wenn Gestrich dem Mangel
Rechnung trägt, daß bisher nicht sachentsprechend genug vom
Glaubensbegriff Zwingiis ausgegangen worden ist. Hier füllt die
vorliegende Untersuchung eine Lücke in den Spezialstudien und
bringt eine anerkennenswert durchgegliederte Quellenmaterialsammlung
für jede weitere Arbeit.

Gestrich forstet von der genannten Terminologie her nicht
nur die ganze Theologie Zwingiis durch, er mißt sie auch an
Luther und meint, die schon hinlänglich aufgezeigte Kontroverse
im Geistverständnis auch im Glaubensbegriff exemplifizieren und
hier gerade recht einsichtig machen zu können. Verf. denkt vornehmlich
an das Glaubensverständnis, wenn er „von einem fundamentalen
Gegensatz zwischen . . . der Theologie des Wittenberger
und des Zürcher Reformators" (S. 9) redet.

Aus dem allen ergibt sich, daß Gestrich nicht nur — wie er
es im Vorwort sagt —, „am Zwingli-Bild der älteren und neueren
Forschung einige Korrekturen anzubringen oder manches präziser
als bisher zu erfassen" hat. Er erklärt vielmehr eine ganze Reihe
von Ansätzen derer, die vor ihm gearbeitet haben, für falsch und
bringt das auch unverblümt zum Ausdruck. Dadurch ist das Buch
zumindest nicht langweilig. Daß der Verf. durch diese dezidierte
Art kontemporäner Forschungsbehandlung selbst neue Angriffsflächen
bietet und manchen Widerspruch erfahren wird, hat er
vermutlich einkalkuliert. Jedenfalls hatte er sich viel vorgenommen
: 1. eine Gesamtdarstellung zum Thema „Zwingli als Theologe
", 2. eine äußerst kritische Durchsicht bisheriger Forschungsergebnisse
, die bis in Kapitelüberschriften hineinreicht, 3. eine
ständige Konfrontation mit Luther und 4. eine Kurzbilanzierung
der historischen Phänomene angesichts gegenwärtiger Fragestellungen
bei Barth, E. Brunner (s. etwa S. 127 u. ö.) u. a. Man
könnte fragen, ob der Bogen für eine Erstlingsarbeit, die eine
Dissertation im allgemeinen darstellt, nicht etwas weit gespannt
ist. Angesichts der Tatsache, daß die jüngste Schweizer Forschung
über Zwingli (nach jahrhundertelanger Optik deutscher Zwingliforschung
von Luther her — die klassische Ausprägung ganz deutlich
bei W. Köhler! —) sich endlich dazu durchgerungen hat, Zwingli
aus sich bzw. seinen patriotischen und humanistischen Vorfind-
lichkciten zu verstehen, ist zu überlegen, ob es ein Fortschritt ist,
den Zürcher Reformator wieder so durchgängig und ausgedehnt
an dem Wittenberger zu messen. Zumindest müßte dazu ein
klärendes Wort gesagt werden, selbst wenn der Gedanke richtig
ist, daß Zwingiis Theologie im Kontrast zu Luther besonders
transparent wird. Die Gefahr der Verzeichnung ist aber durchaus
die andere Möglichkeit.

Verf. geht nicht chronologisch, sondern systematisdi vor. Er handelt
in einem ersten Hauptteil über die Zueinanderordnung von „Glaube
und Wissen" und beginnt zur Explikation des Problems sogleich mit
der Differenz zwischen Zwingli und Luther, nachdem er in seitenlangen
Anmerkungen die Forschungssituation analysiert hat. Ein zweiter
Hauptteil befaßt sich mit der Anthropologie Zwingiis, und zwar unter
der Prärogative der Gotteserkenntnis. Zu dieser Thematik fallen dem
Leser vielleicht die Eingangskapitcl der Institutio ein, und deshalb ist es
angesichts der sonst überaus häufigen Konfrontation mit Luther begrüßenswert
, daß Ss. 94 ff. wenigstens an diesem Punkt Gedanken Calvins
herangezogen worden sind. Der dritte und letzte Teil zieht unter der
Überschrift „Glaube und Wirklichkeit" das Fazit und diarakterisiert den
„Neubau der Theologie im Zeichen des Spiritualismus".

Auf der ganzen Linie läßt Gestrich Zwingli in ausführlicher, guter
Qucllenzitation zu Wort kommen. Das ist der große Vorzug der Arbeit.
Er mißt der Marburger Predigt von 1529 einen besonderen Stellenwert
zu. Die Frühtheologie Zwingiis wird wenig berücksichtigt. Gelegentliche
Aufnahmen der bzw. Absetzungen von der Tradition sind hilfreich, haben
aber oft eine zu schmale Quellenbasis. Das wird z. B. deutlich bei der
thematisch äußerst fruchtbaren Gegenüberstellung von „uti" und „frui"