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Ausgabe:

1969

Spalte:

582-583

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Marquardt, Friedrich-Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie 1969

Rezensent:

Bassarak, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 8

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die Untersuchung des Verhältnisses von Christen und Juden im europäischen
Hoch- und Spätmittelalter, die Willehad Paul Eckert vorgenommen
hat (3. Kapitel, S. 210—306); vom 4. Laterankonzil (1215) bis
zur Ausweisung der Juden aus dem Kirchenstaat (1569) reicht diese
Periode mit ihrer immer judenfeindlicher werdenden Judengesetzgebung,
mit dem Streit um den Talmud, mit Religionsgesprächen, Zwangspredigten
, Juden- und Marrancnverfolgungen, Ritualmordlegenden, aber auch
mit der Rezeption kabbalistischen Gutes durch einen katholischen Humanismus
. — Ein 4. Kapitel, verfaßt von Erwin I. J. R o s c n t h a 1, ist der
„jüdischen Antwort" auf das Christentum, vorab im Mittelalter, gewidmet
(S. 307—362); in polemischen Bibelkommentaren, in Voten jüdischer
Philosophen, in den christlich-jüdischen Disputationen Frankreichs und
Spaniens und in hebräischen Streitschriften werden die gewaltigen Ab-
wchrkräfte wirksam, die das in die Defensive gedrängte Judentum christlicher
Inquisition, Überheblichkeit und Missionszuversicht entgegenzusetzen
hatte. — Wilhelm Maurer behandelt im 5. Kapitel die Zeit der
Reformation (S. 363—452); nach einer grundlegenden Übersicht über die
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der deutschen
Judenschaft schildert er eingehend die Stellung Luthers und seiner — unmittelbaren
und mittelbaren — Schüler zu Juden und Judentum. — Juden
und Christen im Zeitalter der protestantischen Orthodoxie bilden den
Gegenstand des abschließenden 6. Kapitels von Gerhard Müller
(S. 453—504); vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen
Lage der Juden Mitteleuropas entfaltet der Autor das prinzipielle Interesse
der protestantischen Theologen am alttestamentlichen Gottesvolk
und schließlich Theorie und Praxis der frühen Judenmission. Trotz zahlreicher
christlicher Schriften über jüdische Fragen und für jüdische Leser
ist es auch jetzt noch nicht zu einer Begegnung zwischen Christen und
Juden gekommen; zu ungleich waren die Gewichte verteilt (S. 498 f.).

Die kritischen Bemerkungen des Rezensenten können sich
auf Äußerliches beschränken. So wird es der Leser als beschwerlich
empfinden, die Anmerkungen jeweils am Schluß eines Kapitels
suchen zu müssen; diese sollten besser als Fußnoten auf den zugehörigen
Seiten oder doch zumindest geschlossen am Ende des
Buches erscheinen. Lästige Sucharbeit nach in den Anmerkungen
abgekürzt zitierten Buchtiteln würde vermieden, hätte jedes
Kapitel eine selbständige oder der ganze Band eine umfassende
Bibliographie; vielleicht kann dieses Desiderat im 2. Band, der
auch das unerläßliche Register enthalten soll, noch verwirklicht
werden. Schließlich steht zu hoffen, es möchten sich an die einzelnen
Kapitel weiterführende Forschungen anschließen; vorläufig ist
manches noch zu schematisch gegeben, was unter Heranziehung
primärer Quellen sich entscheidend modifizieren ließe. Das gilt
etwa für die Darstellung des ersten Kreuzzuges (S. 115—119) oder
auch für die Behandlung jüdischen Lebens in den protestantischen
Territorien um 1600 (S. 453—468), wo gegenüber landgräflich-
hessischen Verhältnissen die in vieler Hinsicht besonders charakteristischen
lutherischen Reichsstädte (Worms, Frankfurt am Main)
etwas zu kurz kommen.

In jedem Fall aber erfüllt das Buch vortrefflich die ihm gestellte
Aufgabe eines Handbuchs für den Dialog zwischen Kirche
und Synagoge. Die einzelnen Kapitel sind in ihrem Umfang gut
aufeinander abgestimmt; Rcngstorfs grundlegendes Einleitungskapitel
ist meines Wissens die erste systematische Behandlung
des Themas „Juden im Neuen Testament". Mit Beschämung wird
der christliche Leser zur Kenntnis nehmen, was bornierter Unverstand
fast zwei Jahrtausende hinduch im Namen Jesu Christi
einer religiösen Minderheit zugemutet hat. In unserer Zeit, da
Christentum und Judentum, beide in die Diasporasituation gedrängt
, gleichermaßen um ihre Existenz zu kämpfen haben, kann
das Christentum vom Judentum lernen, wie treues Verharren auf
den Fundamenten alle „Bekehrungsversuche" vereiteln kann; daß
gerade ein jüdischer Mitarbeiter des Handbuchs darauf hinweist,
>n Zukunft könne auf Grund des gemeinsamen Erbes dieser Existenzkampf
der beiden Religionen vielleicht gemeinsam geführt
werden (Erwin I. J. Rosenthal, S. 357 f.), beleuchtet tröstlich den
Beginn eines neuen Abschnitts in der Geschichte von Juden und
Christen.

Mninz Otto B 6 6k er

Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Die Entdeckung des Judentums für
die christliche Theologie. Israel im Denken Karl Barths. München;
Kaiser 1967. 369 S. 8° — Abhandlungen zum christlich-jüdischen
Dialog, hrsg. v. H. Gollwitzer, 1. DM 27.— ; Lw. DM 29.80.

Die von Helmut Gollwitzer und Karl Kupisch (Kirchliche
Hochschule Westberlin) als Dissertation angenommene Arbeit
ist eine Karl Barth dankbar verpflichtete Auseinandersetzung mit
dessen Israel-Lehre, die Marquardt „vorwärtsführend verstehen"
möchte (Vorwort). M. setzt mit „hermeneutische(n) Vorerwägungen
zum theologischen Reden von Israel" ein; denn Barth
kommt — ein absolutes Novum („eine theologiegeschichtliche Ableitung
für dieses Thema gibt es nicht") — „zu einer streng theologischen
Qualifikation nicht nur Israels, sondern gerade des
nachchristlichen Judentums" (15). So ist von „Israel" als historischem
Subjekt und einer ... bis heute identischen geschichtlichen
Individualität . . . theologisch zu sprechen (17).

Barths „Lehre von Israel und dem Judentum . . . wurzelt tief
in den überkommenen, häufig antijüdischen Urteilen der christlichen
Theologie. Aber sie befreit sich davon" (Vorwort). Die
Wende tritt „spektakulär in Erscheinung" in Barths Predigt über
Rm 15, 5—13 im Bonner Universitätsgottesdienst am 10. Dezember
1933 (ThEx 5, 1933, 11—19), so wie „sich die großen theologischen
Entscheidungen und .Wendungen' Barths am ehesten
und deutlichsten in seinen Predigten ankündigten" (8 3).

Die zugleich mit der Wende erreichte Höhe der Israel-Aussage
dieser Predigt (oder vielleicht einer Überinterpretation durch
M.) hält Barths Dogmatik indessen nicht durch. Besonders in der
Lehre von der Verwerfung — die als Analogie zum Kreuz Christi
zu fassen ist — häufen sich die Werturteile, „die gerade nichts mit
Theologie zu tun haben . . . bei Beschreibung der Verworfenen,
zumal der verworfenen Juden — schrecklich". M. lehnt eine
solche „Grenzüberschreitung" ab und will sich „an das gerade nach
Barth Wichtigere, Dringendere und in jeder Beziehung Ernsthaftere
" halten (305).

Marquardt führt weiter über Barth hinaus, indem er sich um
„jüdische Mitsprache" bemüht, jedenfalls in dem Stück Theologie,
,.in dem wir .über' sie reden" (Vorwort). Der Dialog hat allerdings
die (mindestens seit Anselm) dauernde Belastung „eine(r)
faktische(n) Kommunikationsunfähigkeit von Theologie" zu
überwinden, die zustandekommt, weil „der Glaube ein überlegenes
Moment auch im Dialog behalten" soll „in dem Bemühen
, alles .unter Gott' zu sehen, ohne Rücksicht auf das Selbstverständnis
des Partners" (28).

Marquardt zögert nicht, um jeder Spiritualisierung und jedem
Doketismus entschieden abzusagen, denjenigen Theologen seine
Hochachtung zu zollen, „die sich die Frage nach dem jüdischen
Blut, die .Rassen'-Frage nicht erspart haben", ohne allerdings
mit manchen von ihnen soweit mitzugehen, „dem Antisemitismus
. . . (wenn auch paradoxe) Einsicht in das Mysterium Israel (zu)
konzedieren" (215). Aber „auch der geborene Jude muß sich selbst
zum Juden machen" (J. Wellhausen, zit. 42). Deshalb fordert M.
eine dialektische Fassung von Erwählung einerseits und „Natur"
und „Blut" andererseits, weil christliche Theologie nur zu ihrem
eigenen Schaden die biologische Komponente übersehen könne
(221). Barth lehne mit Recht ab, diese Dialektik im Sinne „einer
profan-religiösen Doppelexistenz Israels, ein(es) Zwei-Reiche-
Denken(s) zu verstehen" (195).

Diese Dialektik wäre an dem im Jahre 1948 neu gegründeten
Staat Israel zu erproben. Noch 1940 argumentierte Barth streng
christologisch: „Es gibt, nachdem der Messias Israels erschienen
und von Israel verworfen und als der Heiland der Glaubenden
aus Juden und Heiden offenbart ist, keinen heiligen Berg, keine
heilige Stadt und kein heiliges Land mehr, die man auf der Landkarte
als solche bezeichnen könnte" (KD II/l, 542, zit. 354). Zehn
Jahre später finde man jedoch „sehr nachdenkliche Erwäg-ungen
in der Schöpfungslehre" (s. KD III/3, 241), die M. zusammenfaßt