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Ausgabe:

1969

Spalte:

555-559

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Titel/Untertitel:

Helsinki 1963 1969

Rezensent:

Kimme, August

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 7

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MISSIONSWISSENSCHAFT UND ÖKUMENE

W i 1 k e n s , Erwin [Hrsg.]: Helsinki 1963. Beiträge zum theol. Gespräch
des Lutherischen Weltbundes. Berlin und Hamburg: Lutherisches
Verlagshaus 1964. 468 S. 8°. Kart. DM 9,80.

Reich, Herbert: Christus heute. Helsinki 1963. Ein Bericht über
die IV. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes. Ebd. 1964.
102 S., 59 Abb. a. Taf. 8°. Kart. DM 9,-.

Schmidt-Clausen, Kurt [Hrsg.]: Offizieller Bericht der Vierten
Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, Helsinki,
30. Juli bis 11. August 1963. Ebd. 1965. 608 S., 17 Abb. a. 8 Taf.
gr. 8°. Kart. DM 42,-.

Die beiden einander ergänzenden Berichtsbände vermitteln umfassend
und anschaulich die Aufgaben und Ergebnisse der lutherischen
Weltkonferenz vom Sommer 1963. Naturgemäß stellt der für
die Gemeindearbeit gestaltete Bericht von H. Reich (und seinen Mitarbeitern
) mehr das vielfältige Erleben und Begegnen während der
Vollversammlung in den Mittelpunkt, ohne dabei ihre großen Sachfragen
und ihre Hauptergebnisse zu vernachlässigen. Aber auch der
sehr ausführliche „Offizielle Bericht" ist keine trockene Lektüre, obwohl
der parlamentarische Rahmen dieser von 120 Tagesordnungspunkten
überladenen Versammlung von 63 Mitgliedskirchen mit
ihren vielen Vorlagen, Kommissionsberichten, Referaten und Beschlüssen
den formalen Aufbau des Buches bestimmt. Sehr stark
kommt die verkündigende und anbetende Stimme der versammelten
Kirchen in den Gottesdiensten, Predigten, Bibelarbeiten und
Andachten zu Gehör. In objektiver Verhaltenhcit, ohne Untertöne
eines sich selbst genügenden Konfessionalismus und doch nicht
ohne Wärme und Humor stellt sich hier das Leben und Arbeiten
eines Weltluthertums dar, das sich als ein extravertierter Gesprächspartner
und Mitarbeiter des ökumenischen Rates der Kirchen zu
erkennen gibt.

Dient so der „Offizielle Bericht" als ein überaus inhaltreiches
Handbuch vorwiegend der Dokumentation über diese ökumenische
Weltkonferenz, so widmet sich der von E. Wilkens herausgegebene
Studienband der Aufgabe, den theologischen Ertrag von
Helsinki 1963 zu sichten.

Der Studienband gliedert sich in „Einführung" von Hanns Lilje
(S. 11-22), eine Gruppe von Aufsätzen unter dem Leitwort „Rechtfertigung
" (23-230), zwei Beiträge von G. A. Lindbeck unter der
Überschrift „ökumenische Forschung" (231-253), zwei Aufsätze
zum Thema „Soziale Verantwortung" (301-457). Ein Vorwort des
Herausgebers (5f) und ausführliche „Literaturangaben" (450-466)
runden den Studienband ab.

Von besonderem Interesse sind die fünf vor der Vollversammlung
gehaltenen Hauptreferate, die das Leitthema der Konferenz „Christus
heute" entfalten: Gerhard Glocge, Gnade für die Welt
(303-328 = Offizieller Bericht 74-92), Helge Brattgard,
Glaube ohne Werke? (329-344 = Off. Ber. 95-106), Heikki Wa-
ris. Getrennte Menschheit - in Christus vereint (345 - 361 = Off.
Ber. 118-130), Andar Lumbantobing, Der neue Lobgesang
(362- 383 = Off. Ber. 130-145) und E. Clifford Nelson, Die
eine Kirche und die lutherischen Kirchen (384-416 = Off. Ber.
303-324). Ähnliches gilt von der Vorlage Nr. 75 II. Fassung. Während
der Studienband nur den in Helsinki zuletzt behandelten
Text (448-455 = Off. Ber. 387-392) mitteilen konnte, bietet noch
zusätzlich der Off. Ber. im „Anhang III: Rechtfertigung heute"
(522-529) die von der Theologischen Kommission des LWB auftragsgemäß
später fertiggestellte „endgültige Fassung des Dokuments
75" (522) dar.

Neben dem Hauptthema „Christus heute" bzw. „Rechtfertigung
heute" ist die theologische Begründung der von der Vollversammlung
beschlossenen „Luth. Stiftung für Ökumenische Forschung"
beachtenswert. Der Zweck dieser Stiftung ist nach Art. II ihrer Verfassung
: „(1) sachgemäße und kritische theologische Forschung, sowohl
historischer wie systematischer Art, auf Gebieten, in denen
christliche Kirchen in Dingen der Lehre und Kirchenordnung getrennt
sind und kontroverstheologische Fragen bestehen. Zu diesem
Zweck ist sie zur Berufung von Forschungsprofessoren ermächtigt.
(2) Abhaltung von theologischen Seminaren und Konferenzen auf
wissenschaftlicher Ebene. (3) Kontakte und Gespräche mit Theologen
aus anderen Kirchen, um a) eine unmittelbare Kenntnis ihrer
lehrmäßigen Überzeugungen und theologischen Methoden zu erhalten
, b) das Verständnis des Evangeliums von Jesus Christus und
seiner Kirche, wie es in der lutherischen Reformation neu entdeckt
worden ist, zu vermitteln, c) die Erkenntnis der christlichen Wahrheit
durch solche theologische Begegnungen zu vertiefen. (4) Veröffentlichungen
der Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit und solcher
Konferenzen und Gespräche" (Off. Ber. 435 f.)

Das Verständnis der Rechtfertigung nach dem jetzigen Stand der
theologischen Erkenntnis im Konsensus zu formulieren und auf Gegebenheiten
und Aufgaben der Christenheit in der Welt von heute
hin zu entfalten, war das erklärte Hauptziel der Vollversammlung
vor ihrem Zusammentritt. Wie Gloege in seiner Rückschau („Antriebe
und Absichten. Eine theologische Bilanz") mitteilt, hatten die
fünf Hauptreferenten diese Aufgaben unter sich mit folgender
Zwecksetzung aufgeteilt: „Gottes Griff nach der realen Welt vollzieht
sich im Rechtfertigungshandeln Gottes. Dieses Handeln wirkt
sich aus: 1. in der Verkündigung seines in Jesus Christus wahren
Wortes, das sich als Gottesspruch über den Gottlosen entlädt [Referat
Gloege); 2. in der Beanspruchung des ganzen Menschen inmitten
seiner ihn umgreifenden Wirklichkeit [Brattgard); 3. in der
Offenheit, mit der sich das Evangelium der in sich zerrissenen Welt
zuwendet [Waris]; 4. in der Freiheit und Freude, in der die Kirche
als Chor der Lobsänger ihr Dasein vor Gott gestaltet [Lumbantobing
]; 5. in dem Selbstverständnis des Lutherischen Weltbundes,
das sein eigenes Dasein, aber auch sein Verhältnis zu den anderen
christlichen Kirchen in der Ökumene ordnet [Cl. Nelson]" (Studienband
S. 78). Es ist unmöglich, den Gedankenreichtum der fünf Referate
hier auch nur zu skizzieren. Die Feststellung muß genügen,
daß allenthalben die „forensische" Art und die „Effektivität" des
göttlichen Gnadenurteils über den radikal heilsbedürftigen Menschen
erkennbar ist; eine dogmatische Präzisierung gibt allerdings
nur das Referat von Gloege. So bleiben nur dieser theologisch profilierte
Hauptvortrag und die II. Fassung des Plenarbcrichtes von
der Aussprache der Sektionen über „Rechtfertigung heute", die den
spezifischen Beitrag der Vollversammlung zum Rechtfertigungsverständnis
zu erheben gestatten.

Der straff komponierte Vortrag „Gnade für die Welt" behandelt:
„I. Die dreifache Verlegenheit der Kirche", die in der „Doktrinali-
sierung", der „Individualisierung" und der „Spiritualisicrung" des
Gotteshandelns der Rechtfertigung vorliegt (305-308); „II. Die dreifache
Verfallenheit der Menschheit", die sich als „Selbstrcchtferti-
gung", „Selbstverurteilung" und „Selbstbefreiung" äußert (308-313);
„III. Die dreifache Rechtfertigung der Welt (Menschheit und
Kirche)", entfaltet an Hand der Kernbegriffe von CA IV: „1. Durch
Christus allein - ohne unsere Kraft", „2. Durch das Wort allein -
ohne unseren Verdienst" und „3. Durch den Glauben allein - ohne
unser Werk" (314-328).

Im AT ist die Rechtfertigung „an die grundlegende Voraussetzung
gebunden, daß sich der einzelne oder das Volk gemeinschaftsmäßig
verhält. - In Jesus Christus hingegen erfährt gerade der
Gottlose Gottes Freispruch" (324). „Die alte alternativ gestellte
Frage, ob der Sünder nunmehr nur in Gottes Urteil - ,forensisch' -
als gerecht gilt, oder ob er - .effektiv' - gerecht i s t, ist heute
falsch gestellt. Sie kann von ihrem anthropozentrischen Ansatz her
den eigentlichen Sinn nicht treffen" (ebda.) „Jedes privatisierende
Verständnis der Rechtfertigung bedeutet ihr Mißverständnis. . . .
Rechtfertigung meint ursprünglich ein Welt geschehen, in dem
Gott dem einzelnen wie der Menschheit im Rahmen der gesamten
Schöpfung seine Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Inmitten bestehender
und vergehender Wirklichkeit setzt sein Recht beständige
Wirklichkeit" (307). „Indem das rechtfertigende Wort erklingt, sollen
Gott, Mensch und Welt im Gerichtshorizont miteinander versöhnt
werden". „Die Einengung des realen Rechtfertigungshandelns
auf die geistliche Sphäre der Frömmigkeit verleugnet das Weltziel
der kommenden Königsherrschaft" (308). Die Botschaft von der
Rechtfertigung „ruft Kirche und Menschheit, in je verschiedener
Weise, zur Besinnung: die Menschheit, die sich wie der Pharisäer, in
sich selbst gerechtfertigt wähnt und darum das Werk der Selbstrechtfertigung
fieberhaft betreibt; die Kirche, die sich zwar, wie
der Zöllner, allein durch Gottes Urteil freigesprochen weiß, diese
ihre Freiheit aber der Welt nicht glaubhaft zu machen vermag".
„.Gnade für die Welt!' bedeutet: Amnestie für alle Menschen!"
(314). „Diese Gnade Gottes heißt reine Menschlichkeit. Und ihr
Träger, Jesus von Nazareth, ist der Anwalt des Menschen" (315).
„Ehe w i r gerechtfertigt werden, ist Jesus Christus gerechtfertigt
worden". „In Jesu Verurteilung hat Gott seine Gerechtigkeit erwie-