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Ausgabe:

1969

Spalte:

553-554

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Titel/Untertitel:

Einsamkeit in medizinisch-psychologischer, theologischer und soziologischer Sicht 1969

Rezensent:

Rensch, Adelheid

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Aufsätze würde es erleichtern, die Entwicklungslinien in der Gedankenwelt
des Verfassers nachzuzeichnen. S. 14 lies: Weltanschauungstürme
statt Weltanschauungsstürme. Warum trägt der
Aufsatz „Physis und Psyche" diesen ungenauen Titel, während er im
Quellenverzeichnis exakter als „Physik und Psyche" angeführt ist?

Oferdingen-Tübingen Joachim Scharfenberg

Bitter, Wilhelm, Prof. Dr. med. Dr. phil. [Hrsg.]: Einsamkeit in
medizinisch-psychologischer, theologischer und soziologischer
Sicht. Ein Tagungsbericht. Stuttgart: Klett [1967], 244 S. 8°. Lw.
DM 18,80.

Für die Bearbeitung des zentralen Lebensproblems der Einsamkeit
läßt sich kein geeigneterer Kreis denken als die von Professor
Bitter geleitete Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger". Das vielgestaltige
und mehrdeutige Menschenlos der Einsamkeit wird hier unter
den verschiedensten Aspekten von Psychotherapeuten, Psychologen,
Soziologen und Theologen dargestellt und in einem abschließenden
Podiumsgespräch gemeinsam durchdacht. Für die klare Diagnose
und therapeutisch-seelsorgerliche Wegweisung hilfreich ist dabei
die (von den meisten Autoren getroffene) Unterscheidung zwischen
der positiv erlebten Einsamkeit und der quälenden V e r einsamung
(bzw. der „essentiellen" und „existentiellen" Einsamkeit [Uhsadel]),
weiterhin zwischen dem Alleinsein (äußere Vereinsamung) und der
Entartungsform der Einsamkeit (innere Vereinsamung). „. .. ein
Mensch ist groß und reich, wenn er in der äußeren Vereinsamung
die innere Einsamkeit erreicht, weil er so mit allem innerlich in
Verbindung steht .. ." (Lötz). Wir erhalten ein anschauliches Bild der
Vereinsamung und ihrer Ursachen durch die sich ergänzenden Beiträge
über die Einsamkeit des Kindes (A. Sänger, M. Meierhofer),
der Ehegatten und Unverheirateten (A. und F. Heigl), der Witwe
(Th. Wagner-Simon), des Großstadtmenschen (H. Lehmann), des
seelisch Verwahrlosten (Th. Kunke). Es wird dabei deutlich, daß die
Vereinsamung sehr oft die neurotische Form der Beantwortung der
Lebenssituation ist und - in ihrer tragischen Verflechtung von
Schicksal und Schuld - meist auch Schuld des Menschen enthält.
Individuell verschieden ist dabei die Akzentuierung der einen oder
anderen Komponente wie auch der persönlichen und kollektiven
Schuld. - Gesellschaftliche Bedingungen unserer Zeit, die die Vereinsamung
begünstigen, wie Automation, Spezialisierung, Bürokratismus
, Flüchtlingssituation, „offene Formen" (v. Oppen), ja selbst
die schuldhafte Vereinsamung enthalten jedoch auch die Chance,
sich zur rechten, befruchtenden Einsamkeit und Gemeinsamkeit
durchzuringen. Unser Leben in „offenen Formen" fordert den „kritisch
distanzierten Menschen" (v. Oppen), der in einsamer Verantwortung
entscheidet, aber zugleich vermehrt auf den Dialog angewiesen
ist. Differenziert und tiefdringend wird das Verhältnis von
Einsamkeit und Gemeinsamkeit aus der Sicht gruppenzentrierter
Psychotherapie von U. Derbolowsky behandelt. - Insbesondere die
theologischen Beiträge von katholischer und evangelischer Seite
(J. Lötz, W. Uhsadel) zeigen Wege zur schöpferischen Einsamkeit.
Der im Seienden verflochtene, aber nicht beheimatete Mensch sehnt
sich nach dem Grund des Seins und kommt zur echten Einsamkeit,
wenn er vom Seienden Abstand und Abschied nehmen, aber es zugleich
vom Sein her bewältigen lernt (Lötz). Zur „essentiellen" Einsamkeit
gelangen wir durch eine erneuerte personale Beziehung,
eine Partnerschaft mit Gott, die Uhsadel auf dem Hintergrund der
Trinitätslehre verständlich macht. Auf dem „inneren Weg" der Umkehr
ins Vaterhaus, den uns Christus durch sein Leben und Sterben
ermöglicht hat, sind „beichtende Meditation", Sammlung auf das
Wesentliche, Leben in der Gemeinde, in Wort und Sakrament unentbehrlich
. Aber auch die Askese, deren abartige und gesunde Formen
E. Benz darstellt, ist notwendig. - W. Bitter, der in einer sehr
hilfreichen einführenden Übersicht die Beiträge zusammenfaßt und
zugleich reich ergänzt, erstrebt in diesem 14. Band der Tagungsberichte
- wie in den vorausgegangenen - einen Beitrag zu einer
neuen Anthropologie. Wir meinen, daß dieses Vorhaben gelungen
ist. Während man heute so oft Wissenschaft mit Naturwissenschaft
gleichsetzt und allein naturwissenschaftliche Methoden auf den
Menschen anwendet, wird hier der Mensch seinem Wesen gemäß
als Leib-Seele-Geist-Einheit, als einsamer Partner Gottes, als Person
in universaler Betrachtung erfaßt. Sachverhalte, die in rein theologischer
Betrachtung nicht ins Blickfeld kämen, wie z. B. konstitu-
tionspsychologischc, neurosenpsychologische und psychiatrische
Faktoren u. a. m., sind mitbedacht. Andererseits wird durch die Auf-

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Sprengung des heute so verbreiteten rein immanenten Menschenverständnisses
erst der Sinn der positiven Einsamkeit aufzeigbar
und damit auch der Weg zur Überwindung der notvollen Vereinsamung
gewiesen.

Leipzig Adelheid Rensch

Buscarlet, Jean-Marc: Chemins Interieurs. Psychologie de la
Grace. Neuchatel: Delachaux et Niestie (1965). 174 S. 8° =
L'Homme et ses Problemes.

Der Untertitel dieses Buches scheint eine säkular-wissenschaftliche
Analyse der theologisch als Gnade interpretierten Phänomene
zu versprechen. Der Autor aber erklärt: „Es bedarf einer neuen Religionspsychologie
" (21). „Wir wollen eine Religionspsychologie
bauen, in welcher .Religion' tatsächlich den Gegenstand der Bemühung
bezeichnet und ernstgenommen wird - mitsamt den
methodologischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben." Hierfür
beruft er sich auf Husserls Forderung, daß die Methode dem Wesen
des Forschungsgegenstandes folgen müsse (9). Die neue Religionspsychologie
(die hier schon betrieben wird), ist nicht mehr positivistisch
, sondern gebunden an das Wesen der Religion, nicht irgendeiner
Religion, sondern des Christentums (21). „Die Situation des
Menschen, - geschaffen zum Bilde Gottes, gefallen, Gegenstand der
Erlösung" -, das ist der Ausgangspunkt (41). Buscarlet bringt
also, in der heutigen Terminologie gesagt, nicht ein Stück Psychologie
, sondern ein Stück christlicher Dogmatik, und dies in der
Überzeugung, daß sich eine dogmatische Grundlegung neben den
Prämissen, die allen möglichen andern Psychologien zugrunde liegen
, wissenschaftlich nicht nur sehen lassen, sondern für eine „Psychologie
der Gnade" als allein legitim behaupten kann. Das Kriterium
für den Wert des Buches wäre also, nach seinem Selbstverständnis
, zunächst aus der Dogmatik zu beziehen. Aber hier wird
die Sache schon schwierig. B. bestimmt das Wesen der Religion als
die Gnade (10). „Was aber verstehen wir unter Gnade? Wir werden
uns nicht aufhalten bei Divergenzen, die Raum für so viele theologische
Auseinandersetzungen gegeben haben, von Paulus bis Jakobus
, Augustin bis Pelagius . .. Wir nehmen als Definition diejenige
von Emil Brunner, nach welcher Gnade der Ausdruck für die Geschichte
Gottes mit den Menschen ist . . ." Sie „manifestiert sich im
Bund" (ebd.). Gegenstand dieses Buches über die Gnade soll sein
„der Mensch als Objekt dieser göttlichen Tätigkeit" (ebd.). Wenn
die traditionellen Explikationen beiseite bleiben können, was ist
dann genauer unter „dieser" göttlichen Tätigkeit zu verstehen? Was
täte nicht Gott am Menschen? Die Antwort ist einfach: Alles Gute
kommt von oben. Denn der Mensch ist ja Sünder. Und das Gute
in ihm kommt ja auch von Gott, denn er ist ja nach Gottes Bild von
Gott geschaffen. Und was ist gut? Das sagt die „Norm" der Religionspsychologie
. „Die religiösen Werte können nicht andern Interessen
geopfert werden. Das hieße eine wohlgefügte Hierarchie umkehren
und das Prinzip selbst in Frage stellen, nämlich die ideale
Norm, nach welcher die Religion nicht zum Dienst der Menschen
da ist, ihren Bedürfnissen und Launen zu entsprechen, sondern zum
Dienst Gottes, zum Gotteslob der Kreatur" (63). Und was ist Gotteslob
? Hier wird unsre Norm „pragmatisch": „Evangelische Psychologie
beurteilt den Baum nach seinen Früchten." Der Abschnitt über
die Norm kulminiert in dem „Kriterium der Heiligen Therese":
„Was den großen Mystikern Frieden gebracht hat, Demut, Ergebung
, Aufopferung, Seclenliebe, Caritas, soziale Tätigkeit, haben
sie für göttlich gehalten, was dagegen sie zu Egoismus, innerer Unruhe
und krankhafter Schwermut brachte, haben sie als teuflisch
verworfen" (64). Nach dergleichen Indikatoren werden dann Wege
der Gnade im Menschen psychologisch identifiziert. Bricht doch
auch Karl Barth eine Lanze für den common sense als Manifestation
der Weisheit des Heiligen Geistes, wohingegen vielleicht der
Gott der Philosophen völlig verwirrend und bestürzend handeln
mag (ebd.). Das Buch paßt gut in die Reihe, in welcher der Verlag
auch Th. Bovet und P. Tournier herausgibt. Derselbe Verlag aber
brachte auch Arbeiten Piagets heraus, Musterbeispiele wirklicher
psychologischer Forschung. Eine „Einladung zum Dialog" (163), die
sowohl nach der dogmatischen Seite wie nach der psychologischen
Seite (bei einer solchen Masse von Zitaten!) so selbstgenügsam laut
wird, wie dieses Buch, dürfte auf wenig Interesse stoßen. Es scheint,
daß weder Religion, noch Theologie noch Psychologie sich in dem
heiligmäßigen Rahmen eines solchen Ansatzes halten wollen.

Zürich Thomas Bonhoeffer

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 7