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Ausgabe:

1969

Spalte:

547-548

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Finance, Joseph de

Titel/Untertitel:

Grundlegung der Ethik 1969

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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547

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 7

548

F i n a n c e , Joseph de: Grundlegung der Ethik, übers, v. K. H.
Laier. Freiburg - Basel - Wien: Herder [1968]. 486 S. 8°. Philosophie
in Einzeldarstellungen. Im Auftrag der philosophischen
Fakultät des Berchmanskollegs in Pullach hrsg. von J. de Vries
und Walter Kern, 2.

Der Titel der französischen Originalausgabe: Essai sur l'agir hu-
main bezeichnet treffender Inhalt und Anliegen dieses Buches als
die - freilich endlich einmal nicht untertreibende - Titulierung
der deutschen Übersetzung: Grundlegung der Ethik, die, jedenfalls
im protestantischen Raum, irritierend wirkt, weil man hier eine
.gründliche' Ethik insgesamt erwarten wird, aber doch nur eine
Monographie über einen Aspekt möglicher Prolegomena zu einer
Ethik in der Hand hält. Das Buch ist eine tiefgründige Abhandlung
über das Wesen des Menschen als sittlich handelnder Person, ein
Kapitel philosophischer Anthropologie. Es bedenkt Probleme wie
Motivierung von Handeln überhaupt, den ontologischen Schichtenaufbau
der Welt zu ethischen Werten und die sog. Willensfreiheit
des homo sapiens, eine Grundlegung im engsten und strengsten
Sinne (die auch noch kaum zur fertigen Grund läge wird), und
zwar derart, daß das Ethische, in der Dialektik von strebendem
Subjekt und dieses anziehendem .objektiven' Wert („Ideal") eingefangen
, in das Ganze von naturhafter Wirklichkeit an .Welt', zu der
fast zu selbstverständlich Gott und Engel gehören, eingezeichnet,
hierbei der Mensch vom Tier abgehoben wird. Außer Aristoteles
und Thomas ist es besonders Nicolai Hartmann, dessen ethischer
Wertobjektivismus Finance beeinflußt hat.

In der Art des methodischen Vorgehens wechselt indes, in nicht
unglücklicher Weise, zweierlei ab: subtile Analysen, besonders am
Modell scholastischer Problemstellungen (von denen manche für
protestantische Ethik seltsam fremd anmuten wie die Unterscheidung
von infinite amatus und infinite amandus für Gottes Art, sich
selbst gegenwärtig zu sein, S. 368) und interessante Abschweifungen
und Exkurse, die in essayhafter Weise an heutigen Alltagsbeispielen
illustrieren und hierbei sich gern auf französische Philosophen
von Descartes bis Sartre beziehen.

Als Höhepunkt der Überlegungen und Verhandlungen erscheint,
leider verhältnismäßig knapp angedeutet, die Errichtung einer
Wertepyramide in Analogie zu entsprechenden Bemühungen von
Max Scheler und Nicolai Hartmann. In Abneigung gegenüber einer
abstrakt platonischen Wertphilosophie, aber auch in der Ablehnung
des existentialistischen Subjektivismus, dessen »Freiheit' seine Werte
selber und ursprünglich zu schaffen wähnt (S. 99 f., vgl. S. 169 f.),
zeichnet Finance eine gewissermaßen aristotelische Konzeption,
deren ethische Werte wohl im Sein wurzeln, aber doch stets nur
Werte des Menschen und für den Menschen sind, d. h. seiner Natur
entsprechen und seinen Nutzen wollen. Vor allem aber ist ein gewisses
Ansichsein ethischer Werte in dem Sinne gemeint, daß damit
objektive Vorgegebenheiten für das Handeln des Menschen bezeichnet
sind, denen zu entsprechen menschliches Handeln zu vernünftigem
und sittlichem zugleich macht - und die eigentliche Willensfreiheit
bedeutet. Denn Freiheit in diesem Sinne kann es nur
geben, wo nicht irgendetwas Willkürliches gewollt werden
kann, sondern ein Wert (letztlich Gott) das Wollen anreizt und
reale, nicht abstrakte Möglichkeiten Alternativen aufbauen. Willensfreiheit
ist hierbei kein Gegensatz zum Spiel von Determinanten
, sondern die gespürte Fähigkeit eines menschlichen Subjektes
zum Eingreifen in dieses, zum Mitdeterminieren, zur Selbst-
detcrmination (S. 286, 318), ja Selbsterziehung, die sich Gewohnheiten
und Reflexe zur Erlangung eines sittlichen Habitus zunutze
machen kann (S. 320) - ein in protestantischer Ethik allerdings
schon mehrfach näher ausgeführter Gedanke (etwa bei Trillhaas).
Wertvoll ist auch die Unterscheidung zwischen horizontaler und
vertikaler Freiheit, wobei die horizontale Freiheit die Wahl unter
Mitteln für einen feststehenden Zweck meint (besonders bei
Aristoteles), dagegen die vertikale Freiheit (bei Plotin, Augustin,
Thomas) die Wahl des Lebenszieles oder „Ideals" überhaupt, genauer
gesagt: Stellungnahme angesichts dieses, letztlich Gottes, ist
und die Ebene bestimmt, welche sich das Ich als Standort zur Erringung
von beatitudo als voller Entfaltung im Sein wählt.

Dieses Dominieren der vertikalen Freiheit weist schon darauf hin,
daß die Wertehierarchie von Finance, wie eine Pyramide zu Gott
aufragend, verhältnismäßig harmonisch und konfliktfrei gedacht ist
ganz wie im thomistischen Weltbild das Überformtwerden der
Natur durch die Gnade - sehr im Gegensatz zu Nicolai Hartmanns

Kernproblem, Wertantinomien und einen sog. intramoralischen
Konflikt (das Stehen von Moral gegen Moral und nicht einfach
von Unmoral gegen Moral) aufzuweisen (vgl. hierzu die Anmerkung
auf S. 415). Die .Grundlegung' von Finance kennt Grundlagen
k r i s e n nur aus subjektiver Verzerrung oder täuschendem
Unglauben (und steht damit Scheler näher als Nicolai Hartmann).
Sehr beachtlich und lehrreich hieran ist indes das energische Bemühen
, alles echt Natürliche in das Sittliche zu integrieren, statt
einen Dualismus zwischen Natur und Geist o. ä. aufzureißen. Zum
Stichwort hierfür wird der Begriff des Misch- oder Zwischenwertes
, worunter gewisse von Idealen in Anspruch genommene
und veredelte an sich rein natürliche Werte verstanden
sind. „Dazu gehören die ästhetischen Werte, die Erkenntniswerte,
die sozialen Werte im weitesten Sinne des Wortes usw." (S. 401).

„Die Mischwerte und darunter die unscheinbaren alltäglichen
Werte bilden für die gesamte Menschheit die Grundlage des Aufstiegs
zu den höheren Werten. Dort, wo der Familiensinn stark ausgeprägt
ist, ist der Aufschwung des Verzichts möglich; und nur
wenn man den Wert der Ehre und des Ruhmes recht kennt, wird
man den Sinn der Demut ganz begreifen. Die Bibel bietet uns besonders
in den Sprüchen und im Buch Jesus Sirach (ganz zu schweigen
vom Prediger) eine Fülle von Lehren, die auf der Ebene der
unscheinbaren Werte stehen . . . Man sollte also umsichtig sein in
der Kritk der Mittelwerte. .. . Diese soll nicht so weit gehen, daß
sie den alten Wert verneint und verwirft, sondern soll bloß dessen
Relativität aufweisen. Der niedrigere Wert bleibt ein Wert, dem gemäß
seinem Rang Liebe und Achtung gebührt. Es kann sich jedoch
unter Umständen auch eine einschneidendere Kritik nahelegen.
Wenn die Anhänglichkeit an die niedrigeren oder mittleren Werte
abergläubisch geworden ist und diese Werte den höheren den Weg
versperren, dann bedarf es, um ihren Bann zu brechen, auffälliger,
herausfordernder Maßnahmen. In aufsehenerregender Weise ...
wird man die teuersten Bindungen zerreißen, offen gegen die ungeschriebenen
Gesetze des Gesellschaftslebens verstoßen, sein Äußeres
verwahrlosen lassen, um die überragende Bedeutung des Inneren
zu betonen. ... wie manche Einsiedler der Wüste. .. . Daraus
folgt nicht, daß man normalerweise die minderen Werte tatsächlich
aufgeben solle, geschweige denn, daß man sie für Unwerte halten
müsse" (S. 412 ff.).

Berlin Hans-Georg Fritzsche

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Poetsch, Hans-Lutz: Theologie der Evangelisation. Bremen:
Steifen 1967. 167 S. 8°. Lw. DM 14,40.

Das Buch, das dem Gedächtnis des verstorbenen Präses des Nördlichen
Bezirks der Evangelisch-Lutherischen Freikirche Erich Heine
gewidmet ist, wird uns von dem Bremer Pastor der bekenntnisbestimmten
kleinen Freikirche vorgelegt. Wie sich zeigen wird, muß
man zur gerechten Würdigung der Arbeit diesen konfessionellen
Standort ihres Verfassers im Auge behalten.

Ausgangspunkt seiner Darlegungen ist P.'s Überzeugung, daß die
Kirche ihre missionarische Aufgabe noch keineswegs ausreichend
angepackt und schon gar nicht theologisch durchdacht hat (7 f.). Das
hängt damit zusammen, daß die neueren Evangelisationsbemühun-
gen sämtlich im Pietismus wurzeln und damit einen nicht-kirchlichen
Ursprung haben (10. Wesleys Verhältnis zu seiner anglikanischen
Herkunftskirche wird hier verzeichnet!). Aber daß vom
Neuen Testament her Fragezeichen hinter jene kirchengcschichtlichc
Bewegung zu setzen sind (23), ändert nichts daran, daß die pietistische
„Evangelisation als Frage an die lutherische Kirche" (Eingangskapitel
) ernst zu nehmen ist. „Die Antwort des Bekenntnisses
" (2. Kapitel) besteht denn auch darin, daß die symbolischen
Schriften für eine evangelistische Tätigkeit nicht nur genügend
Spielraum lassen, sondern sie ausdrücklich fordern und fördern
(41). Freilich ist nach Schrift und Bekenntnis „Der Träger der Evangelisation
" (3. Kapitel) nicht die charismatische Persönlichkeit bzw.
der bekehrte Einzelne, sondern die Gemeinde oder Kirche (59).

Hat sich der Vf. bis dahin wesentlich mit dem Pietismus auseinandergesetzt
(daneben gelegentlich mit einer „modernen Theologie
", die nur „auf zeitbedingten Philosophien beruhende moralische
Plattitüden" anbietet: 22), so nimmt er im folgenden eine
andere für ihn wichtige Abgrenzung vor. Vom Programm einer