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Ausgabe:

1969

Spalte:

538-542

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Daecke, Sigurd Martin

Titel/Untertitel:

Teilhard de Chardin und die evangelische Theologie 1969

Rezensent:

Demke, Christoph

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steifer Abstraktion und zu „Thesen" gemildert hat. Die Systematik
sieht so aus, daß zunächst 7 Stücke unter dem Leitwort „Grundlegung
" zusammengefaßt sind. Im Anschluß an den Vortrag „Kirche
und humanistische Gesellschaft" (1930) ist eine Diskussion beigegeben
, die ich erwähnt habe. Der Vortrag selbst betrifft ziemlich
genau das, was heute unter dem Stichwort Säkulariserung verhandelt
wird, wenn sich dieser Terminus dort auch noch nicht findet. Es
folgen unter dem Stichwort „Einzelanalysen" in einer ersten Gruppe
„Politik" vier Aufsätze, die, um gleich ihre inhaltliche Bedeutung zu
kennzeichnen, zum Staatsbegriff, zum Begriff von Welt und zuletzt
„Zur Philosophie der Macht" (1956) fruchtbare und anregende Gedanken
bieten. Als Gruppe „Erziehung" folgen zwei kleine Aufsätze
; ein größerer Beitrag „Die Beziehung zwischen Religion und
Gesundheit" ist mit einem anderen über „Die Bedeutung der Gesundheit
" zu einer Gruppe zusammengeschlossen, die seltsamerweise
mit „Medizin" bezeichnet ist, obgleich sie eigentlich eine
religionswissenschaftliche Thematik anspricht. Eine Gruppe „Technik
" bringt zwei kurze Abhandlungen aus Tillichs Dresdener Zeit,
sieben Aufsätze und Reden aus den Jahren 1921 bis 1962 beschäftigen
sich mit „Kunst und Architektur".

Band X ist ganz ähnlich aufgebaut. Nur hat hier die Schrift „Die
religiöse Lage der Gegenwart" (1926), die s. Zt. so großes Aufsehen
gemacht hat, die Führung. Hier hatte Tillich fünf Jahre vor Jaspers'
in vieler Hinsicht vergleichbarer Schrift „Die geistige Situation der
Zeit" (1931) die Kulturgebiete in dem damals gegenwärtigen Zustand
auf ihren religiösen Sinn befragt; also Wissenschaft und
Kunst, ferner Politik und Gesellschaft und schließlich die ausgesprochene
Religion in ihrer außerkirchlichen und kirchlichen
Gestalt. Diese Schrift hat damit ein doppeltes Gesicht: einmal
stellt sie einen Beitrag zur Diagnose der Zeit dar und ist geschichtlich
geworden, zum anderen dokumentiert sie einen bestimmten
Rcligionsbcgriff, der nicht an die bewußte „religiöse"
Aussage im engeren Sinne gebunden ist, sondern eine Beziehung
zu allen Gestalten menschlichen Seins, zu allen Gestaltungen der
Kultur hat, der so etwas wie ein hermcncutischcr Schlüssel der Kulturkritik
ist. Es ist die Frage nach dem „Ewigen .. ., das in der
Gegenwart aus vergangener nach zukünftiger Gestaltung drängt".
Dieser vorangehenden und grundlegenden Schrift folgen dann in
diesem Bande 15 weitere Diagnosen der geistigen Lage. Sie sind,
was sich als sachgemäß erweist, in der Folge der Jahre des Erscheinens
geordnet: 1926, 1928, 1930; die folgenden Texte entstammen
der amerikanischen Zeit des Verfassers, was sich auch in der Thematik
widerspiegelt, also aus den Jahren 1934, 1937, 1939, 1940,
1941, 1942, 1943, 1945, 1948, 1950 und 1958. Die Übersicht kann
schon von den Jahreszahlen her einen Eindruck davon vermitteln,
welches Bedürfnis der Orientierung in seiner Gegenwart Tillich
ständig begleitet hat. Die konkreten Bezüge wechseln dabei; einmal
ist es der totale Staat, dann (stark aus amerikanischer Sicht
gcurteilt) der Kommunismus, die Freiheit, die Auflösung der Gesellschaft
in den christlichen Ländern, aber auch psychoanalytische
Fragestellungen gegenüber der Kultur.

Von beiden Bänden gilt, daß sie vorzüglich ediert sind. Da eine
große Zahl der Artikel, in Band X die überwiegende Zahl, übersetzt
werden mußten, muß die einwandfreie Leistung dieser Übersetzungen
besonders dankbar hervorgehoben werden. Über die Editionstechnik
erhält der Leser genauen und unaufdringlichen Bescheid.
Am Schluß jedes Bandes ist ein bibliographischer Nachweis für die
in dem Bande vereinigten Schriften gegeben. Das kombinierte
Namen- und Sachregister ist gründlich und eine unverzichtbare
Lesehilfe.

Es kann nicht die Absicht sein, bei der Vielgestaltigkeit und De-
tailicrthcit des Inhaltes der Bände, überdies angesichts ihres oft
schon historischen Charakters, eine kritische Rezension des Inhaltes
zu unternehmen. Es mag statt dessen angebracht sein, einige Beobachtungen
zu notieren. Einige kritische Notizen vorweg. Das Register
zu Band IX hat unter dem Stichwort Bibel eine Menge von
Bibelstellcn nachgewiesen (und Tillich dadurch sozusagen biblizi-
stisch aufgewertet), die sich nur zu einem geringen Teil wirklich im
Text befinden. Meistens berührt Tillich an den Bezugsstellen nur
biblische Tatbestände, ohne ins Einzelne zu gehen. Die Exegese
war nie seine Sache. - Es fiel mir auf, daß alle Bezugnahmen Tillichs
auf K. Barth und die dialektische Theologie im Grunde nur
deren erste Phase betreffen. Offenbar hat er den späteren Barth,
den Mann des Kirchenkampfes und der Kirchlichen Dogmatik gar

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nicht zur Kenntnis genommen. Ein ähnlich fernes, unkonturiertes
Verhältnis bestand übrigens ganz offensichtlich zu Marx und zum
Marxismus. Tillich spricht selten und dann immer nur sehr allgemein
von beiden, gemessen an der heutigen Marxismusforschung
steht Tillich ganz abseits. Das bringt den oft verdeckten Tatbestand
zutage, daß der religiöse Sozialismus, dessen spätere und deutsche
Gestalt man sich doch ohne Tillich gar nicht denken kann, ein „Sozialismus
ohne Marx" gewesen ist, der sich also ganz wesentlich aus
moralischen und religiösen Quellen genährt hat, aber nichts zu tun
hatte mit dem aus der Hegel-Kritik erwachsenen Gesellschaftsphilosophie
und Ökonomie.

Aber es sind nicht nur solche kritischen Beobachtungen, sondern
auch andere Wahrnehmungen. Tillich erweist sich ja immer als ein
intuitiver Denker im schillernden Sinne dieses Begriffes. Er „sah"
eben Sachverhalte, für deren Wahrnehmung andere verschlossen
sind. Es finden sich bei ihm Begriffe, die dann dreißig und mehr
Jahre später als Neuentdeckungen auf den Markt gebracht werden.
Dazu gehört der Begriff der „latenten Kirche" (IX, 59 ff.), um den
vor einigen Jahren wieder großer Wirbel entstand. Ich frage mich,
ob die Idee des Artikels „Die technische Stadt als Symbol" (IX, 307 ff.)
nicht eine Vorwegnahme von „The Secular City" von H. Cox darstellt
. Darauf, daß die heutige Säkularisierungsproblematik in dem
Aufsatz „Kirche und humanistische Gesellschaft" (IX, 47 ff.) schon
ausgebreitet ist, habe ich schon hingewiesen. Das Wichtigste scheint
mir aber doch noch etwas anderes zu sein. Es ist der sich durch die
angezeigten Bände hindurchziehende Religionsbegriff. An ihm fällt
zweierlei auf. Einmal seine Undefiniertheit. Nicht, als ob sich Tillich
über die Religion nicht erklärte. Sie hat, wenn ich mich so ausdrücken
darf, für ihn weithin etwas Transitorisches. „Die Religion
selbst befaßt sich nicht mit „Religion", sondern mit Gott, der Welt
und der Seele" (IX, 246). „Religion ist unbedingtes, unausweichliches
Ergriffensein von dem, was unseres Daseins tragender Grund
und verzehrender Abgrund ist" (IX, 324). Man könnte diese Beschreibungen
allein aus den beiden vorliegenden Bänden beliebig
vermehren. In alledem erweist sich Tillich völlig unberührt von der
„Kritik aller Religion", wie sie in der dialektischen Theologie und
hier besonders von K. Barth geübt wurde. Tillich ist offenbar unerschütterlich
davon durchdrungen, daß es die Religion gibt, und
daß auch der Weltmensch sie kennen kann. Das andere, was auffallen
muß, ist die Tatsache, daß alles Deuten und Verstehen, daß
aber auch alle Kritik der Kultur im Namen der Religion ausgeübt
wird. Die Religion ist, wie ich schon bemerkte, der hermeneutische
Schlüssel, ebenso auch die eigentliche Instanz aller Urteile. Sie
kommt, so möchte man sagen, in diesen Funktionen geradezu
immer neu zu ihrem Bewußtsein und legt sich selber aus. In diesen
Beobachtungen liegt, so will mir scheinen, die eigentliche, alle beiläufig
wahrzunehmenden Schwächen Tillichs weit überragende Bedeutung
des Theologen, der auch in diesen Bänden in gelassener
Klarheit spricht. Er wird die Theologie noch lange beschäftigen.

Göttingen WoIfgTng T r i I I h a a s

Daecke, Sigurd Martin: Teilhard de Chardin und die evangelische
Theologie. Die Weltlichkeit Gottes und die Weltlichkeit der
Welt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1968]. 425 S. gr. 8°.
Lw. DM 29,80.

Die gründliche und umsichtige Untersuchung, eine Hamburger
Dissertation (Referent Prof. D. Hans-Rudolf Müller-Schwefe), die
mit dem Straßburg-Preis 1967 der Stiftung F.V.S. zu Hamburg ausgezeichnet
wurde, stellt einen bedeutsamen Beitrag dar zu der erst
langsam in Gang kommenden Auseinandersetzung über Teilhard de
Chardin in der evangelischen Theologie.

Der Titel des Buchs bedarf einiger Erläuterungen und Abgrenzungen
; der Verfasser weist ausdrücklich darauf hin und gibt die
nötigen Ergänzungen in seinem ausführlichen Vorwort. Weder ist
die abgerundete Darstellung von Teilhards Gesamtsystem beabsichtigt
, noch ein Gesamtbild der Reaktion deutscher evangelischer
Theologie auf Teilhard. Der Untertitel sagt daher das Entscheidende
: Es geht dem Verfasser um das spezielle Problem der Weltlichkeit
Gottes und der Weltlichkeit der Welt, einerseits bei Teilhard
, andererseits bei jenen deutschen evangelischen Theologen,
die zum Denkentwurf Teilhards, in Gegensatz oder Annäherung, in
Beziehung stehen.

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 7