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Ausgabe:

1969

Spalte:

504-506

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ridderbos, Herman N.

Titel/Untertitel:

De pastorale brieven 1969

Rezensent:

Güttgemanns, Erhardt

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graphien von griechischen Hss des NT. Zum ersten Mal, seitdem es
eine ntl. Textforschung gibt, ist es damit möglich, mehr als vier
Fünftel des Gesamtbestandes dieser Hss an einem und demselben
Ort zu kollationieren. Fernziel der Arbeit, in deren Dienst sich das
Institut stellt, ist eine endlich Tischendorfs bis jetzt unentbehrliche
Ausgabe ersetzende, von alten oder neuen Theorien über die Geschichte
des Textes unbelastete große kritische Edition des griechischen
NT unter Heranziehung selbstverständlich auch der alten
Übersetzungen. Eine Vorarbeit dafür, die Ermittlung der auszuscheidenden
Minuskelhandschriften, ist bereits im Gange, und zwar
durch Probekollationen mit Hilfe eines 1000 geeignete Stellen umfassenden
, über das ganze NT ausgebreiteten Netzes; bewährt sich
das bei den ersten 1000 ausgewählten Minuskeln ermittelte Verhältnis
, so läßt sich schätzen, daß von den jetzt bekannten 2754
höchstens 300 ganz für die geplante Ausgabe kollationiert werden
müssen, eine in absehbarer Zeit zu bewältigende Arbeit.

Schon jetzt ist durch die neuesten Papyrusfunde die bis in die
jüngste Zeit von fast allen Neutestamentlern als erwiesen betrachtete
Theorie mehrerer Rezensionen des griechischen Textes (der sie
ablehnende H. J. Vogels stand unter den Textkritikern isoliert da)
erschüttert worden; übrig bleibt lediglich, daß die grofje Masse der
Hss einen Text bietet, der sich schließlich als byzantinischer Reichstext
praktisch durchgesetzt hat. Erledigt ist ebenso die Überschätzung
der vom Codex Cantabrigiensis mit Vetus Latina und
Vetus Syra vertretenen Lesarten; sie sind zwar alt, aber darum
noch nicht ursprünglich; die 26. Auflage des Nestle setzt zahlreiche
Lesarten ohne Klammern in den Text, die bis jetzt um jener Zeugen
willen entweder in den Apparat verwiesen oder in Klammern gesetzt
waren, beispielsweise die so oft zu Unrecht bestrittene Stelle
Lk 22,19b.20. Ein Vergleich des Textes schon der 25. Auflage des
Nestle mit dem Textus receptus und den Ausgaben von Tischendorf
, Westcott-Hort, von Soden, Souter, Vogels, Merk, Bover, Tasker,
Kilpatrick sowie dem 1966 veröffentlichten Greek New Testament
ergibt, daß der von Eberhard Nestle auf Grund seines Mehrheitsprinzips
gewonnene Text, der das Fazit der textkritischen Arbeit
des 19. Jahrhunderts zog, nicht nur für seine, sondern weithin auch
für unsere Zeit den consensus omnium getroffen hat, abgesehen
vor allem von den Westcott-Hort proklamierten „Western non-
interpolations"; nach deren in der 26. Auflage vorgenommenen Beseitigung
wird das erst recht festgestellt werden können. Die in
Alands kurzgefaßter Liste der griechischen Hss des NT (Berlin
1963) verzeichneten 76 Papyri werden jetzt eingehend beschrieben,
die von Sß7, 5ßn und gebotenen Texte erstmals im Druck publiziert
. Eine dringende Warnung vor der Annahme in der handschriftlichen
Überlieferung nicht belegbarer Glossen, Interpolationen
und Redaktionen nach Beginn der Verbreitung eines ntl. Buches
ergeben die neu entdeckten Papyri und die bisher aufgearbeiteten
Minuskeln. Die beliebte Hypothese der Blattvertauschungen im
Johannesevangelium bringen die ältesten Papyri zu Fall, die den
aus Doppelblättern zusammengefügten Codex als die älteste feststellbare
Form des christlichen Buches erweisen.

Abgesehen von der photographischen Sammlung des Handschriftenmaterials
, schon allein eine imponierende Leistung, kann Aland
auf folgende Arbeiten seines Instituts hinweisen: Vorbereitung der
völlig neu gestalteten 26. Auflage des Nestle; Lieferung der Kollationen
der griechischen Hss für The Greek New Testament; Synopsis
quattuor evangeliorum; Vorbereitung der Edition sämtlicher
Texte aus Jo enthaltenden Papyri; Abschluß der von Adolf Jülicher
begonnenen Ausgabe der altlateinischen Evangelienhandschriften;
Vorbereitung einer kritischen Ausgabe des koptischen Textes der
Katholischen Briefe. Es ist sehr dankenswert, daß man in diesem
Bande jetzt eine Übersicht über die in anderthalb Jahrzehnten geleisteten
Arbeiten des Instituts, vor allem seines Leiters, die neu
gewonnenen Erkenntnisse und die künftigen Pläne besitzt. Er stärkt
die Zuversicht, daß der Plan der großen Ausgabe gelingen wird, wenn
die notwendige personelle und materielle Hilfe nicht ausbleibt. Die
Kritik Alands an dem von M. M. Parvis und G. G. Willis als Joint
Editors der Oxford Critical Edition of the Greek New Testament
verwandten Specimen ist scharf, aber völlig berechtigt; es steht zu
hoffen, daß auf diesem Wege nicht länger Zeit und Kraft unnütz
vertan werden.

Drei Abhandlungen betreffen andere als textkritische Probleme. In
dem Vortrag „Das Problem des neutestamentlichen Kanons" (1-23)
schlägt Aland eine Diskussion unter den Konfessionen über Aus-

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Wahlprinzipien und Auslegungsprinzipien vor mit dem Ziel einer
Reduktion des überlieferten Kanons. Richtig sagt A., daß dies die
Erlangung der Einheit der Kirche bedeuten würde; vielleicht sei es
utopisch, davon überhaupt zu sprechen. Sicher utopisch ist es aber,
Voraussetzung und Folge umkehren zu wollen,- die Einheit im
Glauben war Voraussetzung für die Schaffung des Kanons, nicht dessen
Folge; und sicher utopisch wäre es, von der katholischen Kirche
und der Orthodoxie zu erwarten, daß sie den seit dem 4. Jahrhundert
festgehaltenen Kanon jemals ändern würden. Erheblich mehr
verspräche eine Diskussion über das Problem der Anonymität und
Pseudonymität in der christlichen Literatur der ersten beiden Jahrhunderte
(24-34), die A. in Gang bringen möchte. An Archäologen
wenden sich die Bemerkungen zum Alter und zur Entstehung des
Christogramms an Hand von Beobachtungen bei W und s^375
(173-179), die fragen, ob nicht das Christogramm ursprünglich ein
Staurogramm gewesen sei.

Bonn Karl Th. Schäfer

Ridderbos, Hermann, Dr.: De Pastorale Brieven. Kampen: Kok
1967. 307 S. gr. 8° = Commentaar of het Nieuwe Testament, aan-
gevangen door S. Greijdanus f en F. W. Grosheide. Lw. hfl. 27.50.
Dieser Kommentar des Gelehrten an der Theologische Hoge-
school in Kampen wird über den niederländischen Bereich hinaus
wohl nur wegen seiner energischen Apologie der Echtheit der Pastoralbriefe
interessieren und als ein weiteres Dokument für die
traditionelle niederländische Neigung zur Orthodoxie (Reveil, Apologetische
Schule von Utrecht, Doleantie etc.) angesehen werden.
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die ausführliche Einleitung
(S. 5-37) zu dem im übrigen weithin philologischen Kommentar
(S. 41-171: 1. Tim.; S. 175-249: 2. Tim.; S. 253-303: Tit.),
die Adressaten und historischen Hintergrund (S. 5-14), die Echtheitsfrage
(S. 14-32), den allgemeinen Charakter, Ort und Zeit
(S. 32-37) behandelt.

Die eigentliche Apologie der Echtheit ist in vier Abschnitte mit
einigen Unterabschnitten gegliedert1-. I. Die altkirchliche Bezeugung
(S. 15-17); II. Die Polemik gegen die Irrlehre (S. 17-19); III. Der
Kirchenordnungscharakter dieser Briefe (S. 19-21); IV. Sprache und
Stil (S. 21-32). Hinzu kommen freilich andere apologetische Überlegungen
in den übrigen erwähnten Abschnitten. Ridderbos gelangt
beim Abwägen des pro und contra immer wieder zu dem
Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit der Echtheit ist größer als die der
Unechtheit; denn die Unklarheiten über den historischen Hintergrund
sind kein sicherer Beweis für die Unechtheit (S. 14 f.). „Es
bleibt ein non liquet, freilich nicht als ein asylum ignorantiae, sondern
als die Anerkennung der Begrenztheit unserer Erklärungsmöglichkeiten
; eine Anerkennung, in der wir uns für die Gegenwart
mit um so mehr Freimut gründen, als ein anderer Ausgangspunkt
als der der prinzipiellen Echtheit nicht nur das non liquet,
sondern nach unserer Meinung obendrein das non possibile mit
sich bringt" (S. 32).

Entscheidend ist nun, wie diese Apologie mit den in der Einleitungswissenschaf
t erörterten Schwierigkeiten für die Echtheit fertig
wird. Ridderbos konzediert zwar, daß die in den Pastoralen (1. Tim.
1,3; 3, 14; 4, 13; 2. Tim. 1,4.8.15-18; 2,9; 4,6 f. 9.11.12 f. 16 f. 21;
Tit. 1,5; 3,12 f.) vorausgesetzte historische Situation nicht in das
Geschichtsbild der Apg. paßt (S. 8-11); aber daraus folgert für ihn
nur das Postulat, es handele sich um eine Lebensperiode des Paulus
nach Apg. 28 und den Gefangenschaftsbriefen (S. 9-12), die
(Phil.; Kol.; Philem.) nach Ridderbos aus Rom geschrieben sind
(S. 6.14 und ders., Aan de Kolossenzen. 1960, 107 ff.). Dieses Postulat
wird erkauft mit dem Implikat einer Freilassung aus der (dann

1. ) Gefangenschaft und einer 2. Gefangenschaft in Rom wegen

2. Tim. 1,8.17; 2, 9; 4,16 (S. 12). Daß die Pastoralen selbst auch in
2. Tim. 4,16- trotz Euseb., hist. eccl. II, 22,2 f. nur von einer einzigen
Gefangenschaft wissen, ist für Ridderbos ein nach dem kürzlichen
Gespräch zwischen Paulus und Timotheus, Titus verständliches
argumentum e silentio (S. 13). Zwar können wir uns „von
dieser seiner letzten Lebenszeit und von seinen in ihr unternommenen
Reisen kein einigermaßen deutliches, noch weniger ein detailliertes
Bild machen" (S. 12); aber vielleicht gehört hierhin die

') Ich übersetze die Zitate Inj Deutsche.

J) Hier wird ein erstes Verhör in ein- und derselben Gefangenschaft erwähnt.

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 7