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Ausgabe:

1969

Spalte:

500-501

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dietzfelbinger, Christian

Titel/Untertitel:

Was ist Irrlehre? 1969

Rezensent:

Schmithals, Walter

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499

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 7

500

dische Jesus nur als der historische Jesus gesehen wird, bleibt er
eine Gestalt vergangener Geschichte und begegnet in der Gegenwart
nur der kerygmatische Christus (S. 13). Der Verf. möchte dagegen
„nach dem Menschen Jesus in einem weiteren, die Gegenwart mit
einschließenden Sinn" fragen, um durch dieses Bemühen „ein Gespräch
zwischen exegetischer und systematischer Theologie auf dem
Boden des Neuen Testaments in Gang" zu bringen (S. 9).

Wie sieht nun das neutestamentliche Zeugnis vom Menschen Jesu
aus? Wird in der Bekenntnisformel Rom. 1,3 f. die Erdenzeit Jesu
mit dem Prädikat Davidssohn bezeichnet, so knüpft der Evangelist
Markus an dieses Verständnis an, indem er Jesu menschliches Leben
in die Christusbotschaft einbezieht (S. 19-22). Welches aber war
der ursprüngliche Auftrag Jesu? Der irdische Auf trag Jesu (S. 23-65)
war auf das Volk Israel begrenzt (S. 23), in seiner Sendung an Israel
aber „nimmt Gott diese Welt als seine Schöpfung an" (S. 27). Im
Wort Jesu wird nicht in apokalyptischer Weise diese Welt verneint,
sondern „als Schöpfung erschlossen und gleichnisfähig für die Wirklichkeit
Gottes" (S. 35). Was das Verständnis der Gottesherrschaft
angeht, so werden drei Etappen der Überlieferungsgeschichte voneinander
unterschieden: „Jesus proklamiert die Heilsvollendung
dieser Welt unter der Herrschaft Gottes. Die nachösterliche Gemeinde
überträgt die Ausagen Jesu auf die neue Schöpfung, die mit
Jesu Auferstehung begründet ist, und erfährt die Gegenwart des
Auferstandenen im Geist. Markus greift auf das diesseitige Verständnis
der Gottesherrschaft bei Jesus zurück, weil für ihn in der
irdischen Gemeinde schon jetzt die Herrschaft Gottes aufgerichtet
ist" (S. 40). In der Verkündigung der Urgemeinde wird Jesu irdisches
Wirken in verschiedener Weise gesehen (S. 66-911- Während
für Paulus der irdische Auftrag Jesu hinfällig geworden ist, hält
die Jerusalemer Gemeinde an der Jesusüberlieferung fest, „interpretiert
sie aber von Kreuz und Auferstehung her, ebenfalls apokalyptisch
" (S. 91). Für Markus sind Kreuz und Auferstehung Jesu
gegenwärtige Heilsereignisse, so daß für ihn „Jesu irdisches Leben
wieder eine positive Bedeutung" gewinnt (S. 91).

Welche systematischen Konsequenzen lassen sich aus den tradi-
tionsgeschichtlichen Analysen ziehen? In einer zusammenfassenden
Auswertung wird betont (S. 92-107), dafj die Gemeinde aus dem
Bild des irdischen Jesus Weisung für ihr Handeln in der Welt empfängt
. „Die urchristlichen Lehraussagen sind also Hilfen zur Erhellung
der geschichtlichen Ereignisse" (S. 97). Jesu Botschaft, die uns
die Welt als Schöpfung Gottes erschließt, enthält auch Weisungen
für uns, um dem modernen Problem der Säkularisation begegnen
zu können (S. 101). Denn „Jesus lebt unser menschliches Leben
so, wie Gott es bei seiner Schöpfung gewollt hat" (S. 100). Darum
sind wir in seiner Person „zu schöpfungsgemäßem Handeln freigestellt
und zugleich vor der Illusion bewahrt, die Welt in das Reich
Gottes verwandeln zu können" (S. 105).

Der Verf. hat in seiner Untersuchung eine wichtige Aufgabe angepackt
, indem er nach dem Verständnis des Menschen Jesus in der
neutestamentlichen Theologie fragt und aus dem exegetischen Befund
systematische Folgerungen zu ziehen versucht. Seine Antworten
bleiben jedoch skizzenhaft, sind vielfach exegetisch nicht hinreichend
begründet und bisweilen mehr von systematischen Erwägungen
als von Beobachtungen an den Texten bestimmt. So vertritt
er konsequent die These, Jesus beschreibe in seiner Verkündigung
der Gottesherrschaft das Reich Gottes als eine diesseitige Wirklichkeit
(S. 37 u. ö.). Gottes Herrschaft komme in dieser Welt zur Vollendung
(S. 38). Daher wird es unvermeidlich, die Sprüche vom Eingehen
in das Reich Gottes der Verkündigung des irdischen Jesus
abzusprechen und als „apokalyptische" Redeweise der Gemeinde anzusehen
(S. 44 f.). Jesus erwarte „die Gottesherrschaft als die Vollendung
der Wege Gottes mit seiner Schöpfung" (S. 51), so daß „unsere
Welt eine nicht mehr zu überbietende Aufwertung" erfährt, indem
sie als Schöpfung Gottes offenbar wird (S. 96). Können aber
diese Sätze wirklich als Summe des exegetischen Befundes anerkannt
werden, oder wird hier nicht zugunsten einer systematischen
These der Sachverhalt verschoben? Auch im Aufweis des Bildes vom
irdischen Jesus in der urgemeindlichen Tradition, der paulinischen
Theologie und der Darstellung der Evangelisten müßte sorgfältiger
und genauer differenziert werden, als es in diesem schematisierenden
Entwurf geschehen ist. Die mit Nachdruck gestellte Frage, was
es bedeutet, daß die irdische Weisung Jesu mit seiner Auferstehung
in Kraft gesetzt ist (S. 105), verdient jedoch Gehör und sollte gründlich
bedacht werden.

Göttingen Eduard L o h s e

Bultmann, Rudolf: Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des
Neuen Testaments, ausgewählt, eingeleitet u. hrsg. v. E. D i n k -
ler. Tübingen: Mohr 1967. XXVII, 554 S. gr. 8°. DM 39,-; Lw.
DM 45,-.

Eine gesammelte Herausgabe der exegetischen Aufsätze Bultmanns
war längst überfällig. E. Dinkler hat sich dankenswerterweise
dieser Aufgabe angenommen derart, daß „kein Aufsatz nur
aus wissenschafts-biographischem oder theologiegcschichtlichem Interesse
abgedruckt worden" ist (IX). Dinklers Einleitung stellt dementsprechend
die einzelnen Beiträge aus 45 Jahren in ihrer noch
aktuellen Bedeutung vor, wobei er von Anlaß und besonderer geschichtlicher
Situation der einzelnen Aufsätze ausgeht. Die insgesamt
24 Untersuchungen kreisen im wesentlichen um drei Problemkreise
: sieben Beiträge zum johanneischen Schrifttum dienten Bultmann
zur Vorbereitung der Johanneskommentare; die übrigen Aufsätze
befassen sich, von einigen Spezialthemen abgesehen, zum
größeren Teil mit der paulinischen Theologie, zum kleineren mit
der synoptischen Tradition, wobei die Frage nach der Bedeutung
des historischen Jesus diese beiden Bereiche oft verbindet. Man vermißt
keine wesentliche Untersuchung, doch hätte man sich über den
Abdruck solcher Rezensionen gefreut, die weiterführende exegetische
Erkenntnisse enthalten; nur die ausführliche Auseinandersetzung
mit O. Cullmanns Monographie .Christus und die Zeit' hat
der Herausgeber aufgenommen. Daß der für Bultmanns Denken
überaus eindrucksvolle Aufsatz über Jesus und Paulus' von 1936
aus der Vergangenheit geholt wird, erscheint mir als besonders erfreulich
. Drei Register erschließen den Reichtum des chronologisch
geordneten Bandes, dem außerdem eine um Vollständigkeit bemühte
und bis 1967 fortgeführte Bibliographie Bultmanns beigegeben
wurde.

Mit Recht bemerkt der Herausgeber in seinem Vorwort, daß die
religionsgeschichtliche Basis der Bultmannschen Exegese besonders
stark heraustritt, wenn man die exegetischen Aufsätze insgesamt
vor Augen hat. Es wäre zu wünschen, daß die Fruchtbarkeit des
rcligionsgeschichtlichen Ansatzes gerade für die theologische' Exegese
der gegenwärtigen Generation wieder stärker bewußt würde.
Die heute üblich gewordene einseitige Bevorzugung der jüdischen
Traditionen unter Betonung der Apokalyptik und der Qumran-
schriften und bis hin zu dem grotesken Versuch, die Gnosis als
wurzelhaft jüdische Bewegung zu beurteilen, stellt ohne Frage eine
dogmatische Vorentscheidung dar, die dem Verstehen des
Neuen Testaments aufs Ganze gesehen erheblichen Eintrag tut.

Mehr freilich noch wünscht man dem vorliegenden Band die
Wirkung, daß er die Einheit von historisch-kritischer Exegese
und theologischer Interpretation des Neuen Testaments im Lebenswerk
Bultmanns wieder stärker ans Licht bringt. Es ist längst üblich
geworden, Bultmanns historischer und philologischer Leistung
zwar Respekt zu zollen, die .dogmatischen' Ergebnisse seiner Arbeit
aber unter Absehung von dem Umstand zu beurteilen, daß sie beanspruchen
, unmittelbarer Ertrag der Auslegung des Neuen Testaments
zu sein. Damit wird jener Effekt der Bultmannschen Arbeit
zunichte gemacht, der auch dann bleibende Geltung beansprucht,
wenn Bultmanns Theologie selbst nur noch theologiegeschichtlichen
Rang besitzt: Die fundamentale gegenseitige Bezogenhcit von biblisch
-reformatorischem Dogma und historisch-kritischer Methode.
Daß der heranwachsenden Generation die Theologie Bultmanns
nicht mehr viel zu sagen hat, mag bedauerlich, zugleich aber angesichts
der Geschichtlichkeit aller theologischen Arbeit unvermeidlich
sein. Daß dabei die durch Bultmann beispielhaft verwirklichte
Einheit von Exegese und Dogmatik verlorengeht, kann man nur
mit Betrübnis, ja mit Schrecken feststellen, und man ist Dinkler
dankbar, daß er in seiner Einleitung mit Nachdruck den Finger in
diese von vielen kaum mehr bemerkte, von anderen gar begrüßte
Wunde der heutigen Theologie gelegt hat.

Berlin Walter S c h m i t h a I s

Dietzfelbinger, Christian: Was ist Irrlehre? Eine Darstellung
der theologischen und kirchlichen Haltung des Paulus. München:
Kaiser [1967]. 63 S. 8° = Theologische Existenz heute, hrsg. von
K. G. Steck u. G. Eichholz, 143. DM 4,80.

Anlaß zu dieser Studie gibt die im Sinne der sogenannten Bekenntnisbewegung
speziell von W. Künneth artikulierte Forderung,
die Kirche müsse gegenwärtig unbedingt bindend erklären, was Irrlehre
und was reine Lehre sei.