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Ausgabe:

1969

Spalte:

455-457

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Schriften zur Grundlegung der Theologie 1969

Rezensent:

Hübner, Eberhard

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 6

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dacht. Dazu gehört z. B. die wichtige Frage nach einer selbständigen
Kunst der Klöster, d. h. ob in ihren Werkstätten eigene Stil-
cntwicklungen stattgefunden haben. Da weiterhin die Malerei der
kappadokischen Höhlenklöster (vielleicht auch der Typus des
Höhlenklosters?) auf die Kunst des Kiewer Rußland eingewirkt
haben, ergeben sich auch hier neue Fragestellungen. So, wenn etwa
erst jüngst bestimmte Stileigentümlichkeiten der Nowgoroder
Fresken- und Miniaturmalerei im Anschluß an Jerphanion unmittelbar
auf ostkirchliche, d. h. orientalische Einflußnahmen zurückgeführt
wurden (G. I. Vzdornov, Miniatjura iz Evangelija popa
Domki i certy vostocnochristianskogo iskusstva v novgorodskoj
zivopisi XI-XII vekov, in: Drevnerusskoe iskusstvo. Chudozestven-
naja kul'tura Novgoroda, Moskau 1968, 213 f.) Auch sonst finden
sich in den Malereien Novgorods nicht wenige ikonographische
Motive, die darauf schließen lassen, daß man dort die Bildschemata
sowohl Kleinasiens, wie ihre alten Traditionen im Orient
kannte (vgl. auch V. N. Lazarev, Istkusstvo Novgoroda, Moskau-
Icningrad 1947, 32 f., 49 f.). Andere Beispiele ließen sich aus der
Hagiographie beibringen, die ebenfalls Parallelen bei den Wandmalereien
besitzt, wie z. B. Alexius der Gottesmensch. Auch sehr
alte Handelsbeziehungen weisen auf direkte kulturelle Verbindungen
Altrußlands mit dem Orient unter Umgehung Konstantinopels
hin. Es ist durchaus möglich, daß die Auffassung R.s
vom grundsätzlich byzantinischen Charakter der kappadokischen
Höhlenmalereien unter Ausscheidung syropalästinensischer oder
mesopotamischer Einflüsse unter Heranziehung der altrussischen
Kunst am ehesten wird nachzuprüfen sein. Zumindest wird die
letztere ein wichtiges Kriterium für diese Nachprüfung bilden.
Auch die Frage nach der Bedeutung der Ikonographie für die Datierung
dürfte dann erneut gestellt werden. Darüber hinaus wird
die Darstellung des Verf.s angesichts des auch auf anderen
Forschungsgebieten, wie etwa der Hymnologie und Hymnographie,
hervorgehobenen eigenständigen Weitcrlebens orientalischer Kunst
und ihres Einflusses auf die byzantinische und außerbyzantini-
schc auf manchen Widerstand stoßen und eine fruchtbare Auseinandersetzung
veranlassen.

Halle/Saale Konrad Onasch

SYSTEM ATIS C H E TH E O LOGIK

Herrmann, Wilhelm: Schriften zur Grundlegung der Theologie
. Ii Mit Einleitung und Anmerkungen, Iii Mit Anmerkungen
u. Registern, hrsg. v. P. Fischer-Appel t. München •
Kaiser 1966/67. LI, 361 S. u. XIV, 380 S. 8° = Theologische Bücherei
. Neudrucke u. Berichte aus dem 20. Jahrhundert, Bd. 36,
1 u. 2. Systematische Theologie. Kart, je DM20,-.
Diese Auswahl von Aufsätzen Wilhelm Herrmanns, des Lehrers
Barths und Bultmanns, führt nicht nur in die Gedanken eines der
profiliertesten Systematiker der Jahrhundertwende ein, sondern
schließt auch wesentliche Hintergründe der gegenwärtigen theologischen
Lage auf. Zeitlicher Abstand und ein abgeschlossenes Lebenswerk
entnehmen das Werk Herrmanns dem theologischen
Tagesstreit. Seine „heimliche Gegenwart" (so treffend der Herausgeber
), vor allem auf dem Wege über seine großen Schüler,
macht es gleichzeitig höchst aktuell. P. Fischer-Appelt, der sich auch
sonst als Interpret Herrmanns ausgewiesen hat, ist zu danken
für die sorgfältige Edition. Hervorgehoben seien neben der informierenden
Auswahl die instruktive Einleitung und die Anmerkungen
des Herausgebers, die die Situation, in die hinein Herrmann
sprach, beleuchten und außerdem einen ausführlichen Literaturnachweis
bieten.

Die Aufsätze belegen die konstante Energie, mit der Herrmann
im Grunde durch sein ganzes Werk hindurch (die Auswahl umfaßt
die Zeit von 1876-1918) um eine einzige Frage kreist. Der Titel
der Sammlung bezeichnet sie genau. Es geht ihm, angesichts der
modernen Wissenschaft, die er, auch in Gestalt der Bibelkritik,
ohne Einschränkung bejaht, um die Selbständigkeit der „Religion"
und, daraus resultierend, um eine eigenständige Grundlegung der
Theologie. Im Anschluß an Kant und Schleiermacher geht er einen
dennoch eigenen Weg. Er denkt streng von Kants Unterscheidung
zwischen „reiner" und „praktischer" Vernunft, Wissenschaft und
sittlicher Existenz her, in der er das einzig angemessene Koordinatensystem
für eine eigenständige Theologie findet. Theologie ist

nicht im Raum der Wissenschaft, sie ist ausschließlich im Raum
des Glaubens anzusiedeln. Kants Unterscheidung hat sie endlich
und endgültig befreit „aus der unwürdigen Abhängigkeit von der
Wissenschaft" (1106). Schleiermacher aber gebührt nach Luther
der Rang eines „Reformators der Theologie" (1322, II 17), weil
seine Glaubenslehre „nicht Gedanken darbieten (will), die ein
Mensch sich aneignen soll, damit er Glauben habe, sondern Gedanken
, die in einem Christen leben, weil er Glauben hat", weil
bei ihm die „Lehre" „nicht oder wenigstens nicht in erster Linie
Aufgabe oder Gesetz für den Glauben, sondern Ausdruck des
Glaubens" ist (II 17). Solche Abkehr von Wissen und Wissenschaft
als Stütze und entschlossene Hinkehr zum Glauben als alleiniger
Quelle der Theologie mußte Herrmann unter seinen „liberalen"
wie „positiven" Fachgenossen isolieren (besonders kennzeichnend
dafür sind seine Auseinandersetzungen mit Troeltsch - gleich zwei
Aufsätze der Auswahl sind ihr gewidmet - und Pfleiderer). Er
erinnert statt dessen an einen anderen Einzelnen, an Franz Overbeck
, wenn er schreibt: „Das Christentum ist ursprünglich in die
Welt getreten mit der vollen Verzichtleistung auf den Beistand
menschlicher Weisheit. Erst als die Kirche anfing, die Welt zu beherrschen
, begründete sie das Vorurteil, daß ihr Glaube durch die
Wissenschaft bestätigt werde ..." (1116).

Gerade weil er sich an Kant anschließt, sind die Ausführungen
aufschlußreich, in denen Herrmann sich kritisch mit ihm auseinandersetzt
, ja sich von ihm in entscheidender Hinsicht zu trennen
versucht. Denn für ihn kann Kants Weg, Gott aus der sittlichen
Existenz des Menschen zu postulieren, einen wirklichen Gottesglauben
nicht begründen. „Kant hat gemeint, der religiöse Glaube an
den liebevollen und allmächtigen Gott sei eine einfache Folgerung
aus der sittlichen Forderung. Wer die letztere sich wirklich zu
Herzen nehme, komme ganz von selbst auf die befreiende Erkenntnis
Gottes. Das ist nicht wahr und kann nicht wahr sein.
Denn der Glaube ist nicht eine Frucht, die der in sittlicher Kraft
stehende Mensch hervorbringt; sondern der Glaube ist eine Kraft,
die dem sittlich schwachen und verlorenen Menschen geschenkt
wird, um ihn zu retten" (1122). Er wirft Kant Inkonsequenz vor,
insofern er trotz seiner „Unterscheidung der religiösen Vorstellungen
von wissenschaftlichen Erkenntnissen" nicht „von der Vorstellung
" loskomme, „daß die Religion als ein Allgemeingültiges sich
als ein Erzeugnis der Vernunft erweisen müsse" (II 37 210). Derselbe
Vorwurf trifft aber auch Schleiermacher, insofern er das
„Gefühl schlechthinnigcr Abhängigkeit" als psychologisches „Faktum
" hinstellt aus dem „apologetischen Verlangen", „die religiöse
Anschauung als notwendig zu erweisen" (I316ff.). Weil auch Kant
und Schlciermacher nach „Allgemcingültigkeit" schielen, die allein
der Wissenschaft zusteht, kommen sie über Ansätze zu einer eigenständigen
„Religion" und Theologie nicht hinaus. Hier will Herrmann
weiterführen.

Innerhalb des von Kant grundgelegten Koordinatensystems
knüpft auch er an die sittliche Existenz des Menschen an, ohne
aber aus ihr auf Gott zu schließen. „Die sittliche Existenz ist nicht
der Gott der Religion" (II249). Statt dessen wird bei ihm das „Erlebnis
" zum anthropologischen Ort, auf den eine besondere „Offen
barung" treffen muß, soll Gott wirklich in den Horizont des Menschen
rücken. Solches Erlebnis ist immer „persönliches Erlebnis",
es ist durch seinen „individuellen" Charakter konstituiert. Deshalb
kann es „nicht ein Objekt des wissenschaftlichen Erkennens"
werden. Dadurch wird seine Relevanz aber nicht tangiert. Vielmehr
verhalten sich solch „individuelles", „persönliches Erlebnis"
und das wissenschaftlich-allgemeingültig Aufweisbarc komplementär
zueinander. Beide Aspekte ergänzen sich zum Ganzen der
„Wirklichkeit". In diesem Zusammenhang will Herrmann die Bedeutung
Jesu, auf die er in allen seinen Überlegungen zielt, erfassen
. Das heißt sie artikuliert sich für ihn unter den Oberbegriffen
: sittliche Existenz und individuelles, nicht zu verallgemeinerndes
, deshalb nicht übertragbares Erlebnis. Das hat zunächst eine
Abgrenzung zur Folge. Ein Umschluß zwischen der Vergangenheit
Jesu und je meiner individuellen Gegenwart im Verständnis der
herkömmlichen, nach Herrmann metaphysischen Christo-
logie, die eine Offenbarung Gottes in diesem Sinne scheidet aus.
Es gibt nur die Pluralität der „täglich neuen Offenbarungen Gottes
", die sich in jeweils präsenten, individuellen Erlebnissen niederschlagen
(II 278). Der Umschluß zwi sehen der Vergangenheit Tesu
und je meiner Gegenwart ist vielmehr dadurch hergestellt, daß
er mit mir in meinem sittlichen und geschichtlichen,
auf Erlebnisse hin disponierten Menschsein koinzidiert. Jesu Er-