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Ausgabe:

1969

Spalte:

451-453

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wolf, Günter

Titel/Untertitel:

Rudolf Kögels Kirchenpolitik und sein Einfluß auf den Kulturkampf 1969

Rezensent:

Fascher, Erich

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nomen des Kirchenkampfes wird mit vielen eindrucksvollen
Beispielen belegt, und sofern der Leser nicht schon anderwärts
Belehrung empfangen hat, erfährt er auch hier nur, was seine
Kenntnis bereichert, aber wenig Erkenntnis fördert.
Überall steht der Vf. im Kampf mit der Stoffülle, die ihn hindert,
den eigentlichen Problemen ernsthaft auf den Leib zu rücken,
von denen es im Kirchenkampf genügend gegeben hat.

Aber ich möchte dem Vf., dessen immenser Fleiß Anerkennung
verdient, nicht Unrecht tun. Eine Enzyklopädie darf nicht mit
einer historiographischen Monographie verwechselt werden. Eine
Enzyklopädie soll vornehmlich ein Thesaurus von wissenswerten
Fakten sein. Dennoch bleibt zu fragen, ob diese Art von Kompendium
heute noch die richtige Form ist, Geschichte zu vermitteln
, zumal der Vf. in seinen früheren Bänden sich an dieses
Prinzip nicht gehalten und auch in dem vorliegenden Buch darüber
hinausgestrebt hat. Das seit Jahrzehnten zu beobachtende
Absterben der Geschichte als Bildungselement erfordert von dem
Historiker ein Höchstmaß von Darstellungskunst, in der das
Leben in der Geschichte dem Leser entgegentritt.
Enzyklopädien in dem üblichen Sinne vermögen das nicht zu
leisten. Daß auch die Kirchengeschichte immer wieder umgeschrieben
werden muß, ist ein geisteswissenschaftliches Wesensmoment,
das nur der Doktrinär leugnet.

Ich mache noch einige sachkritische Anmerkungen. Vermißt habe
ich die Erwähnung des s. Zt. eifrig diskutierten „Jahrhunderts
der Kirche" von Otto Dibelius, dessen Grundtendenzen nach 1945
eine gewisse Wiederbelebung erfahren haben. Dafür hätte dessen
„Prozeß" (S. 175f.) gut fortfallen können. Ob Stefan George und
Rainer Maria Rilke für die geistige Situation nach 1918 repräsentativ
waren, ist mir zweifelhaft. Das war vielmehr Oswald Spengler
, der nur knapp genannt wird, dessen Schicksalsgedanke und
Untergangshypothese jedoch viele Theologen bewegt hat. Ganz
unerwähnt blieb die bürgerliche, antidemokratische neukonservative
Strömung, der gerade viele Luthertheologen sympathisch
gegenüberstanden. In Barths Anselmbuch wird nicht „Cur deus
homo?", sondern ein Abschnitt aus dem Proslogion interpretiert.
Im zur Weiterarbeit empfohlenen Literaturverzeichnis vermisse
ich die Bücher von Wilhelm Niemöller; die „Marxismusstudien"
haben nicht E. Thier und Iring Fetscher zum Verfasser,
Thier war dort zweimal mit Beiträgen vertreten, Fetscher seit
dem 2. Bande Herausgeber der bis jetzt in fünf (nicht zwei)
Bänden erschienenen und als Schriften der Ev. Studiengemeinschaft
publizierten Reihe. Die Herausgabe von Bonhoeffers „Gesammelten
Schriften" ist seit 1961 mit vier Bänden zum Abschlufj
gekommen. Unbedingt hätte genannt werden müssen Bethges
monumentale Bonhoeffer-Biographie, die zugleich Wesentliches
zur Geschichte des Kirchenkampfes bietet.

Berlin Karl K u p i s c h

Wolf, Günter: Rudolf Kögels Kirchenpolitik und sein Einfluß
auf den Kulturkampf. Bonn 1968. 515 S. Druck der Rheinischen
Friedr. Wilhelm Universität.

Diese Bonner Doktordissertation steuert schon von ihrem Vorwort
an auf ein klares Ziel los: Das weit verbreitete Bild von Bismarcks
Kulturkampf als einer preußisch-römischen Auseinandersetzung
zu ergänzen und richtiger zu zeichnen durch „angemessene Würdigung
der Evang. Kulturpolitik in jener Zeit", die jetzt durch
Auswertung bisher schwer zugänglicher Archivquellen und umfangreicher
Privatakten und Briefe des Hofpredigers D. Rudolf
Kögel möglich geworden ist. Anstelle farbloser Berichte über den
Kampf zwischen Bismarck und der Evang. Hofpredigerpartei
kann Wolf eine dramatische Auseinandersetzung zwischen Bismarck
, seinem Kultusminister Falk und dem Konsistorialpräsi-
denten Herrmann auf der einen Seite, und Wilhelms I., seines
Hofpredigers Kögel und dessen Amtskollegen auf der anderen
Seite entfalten. Dabei spielt der Briefwechsel zwischen Kögel,
dem Flügeladjutanten des Königs, Generalfeldmarschall v. Man-
teuffel, sowie dem König selbst, eine besondere Rolle. Diese Originalakten
werden auf S. 391-434 in Faksimile und Umdruck wiedergegeben
. Durch die Benutzung des Kögeischen Nachlasses war
der Vf. in die Lage versetzt, das Bild Kögels schärfer, d. h. weniger
positiv herauszuarbeiten, als es sein Biograph und Sohn sowie
dessen Freunde gesehen haben. Es wird eine uns zwar befremdliche
, aber seinerzeit doch höchst erfolgreiche Methode deutlich,
deren Anwendung dem Hofprediger und persönlichen Seelsorger

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entscheidenden Einfluß auf den alten Monarchen und seine Entschlüsse
sicherte. Aus der verdeckten Position des Seelsorgers,
der keinerlei staatliches Amt vor Ministern zu verantworten hat,
konnte Kögel gegen Bismarck und Falk, gegen die liberale Theologie
in der Kirche und auf den Hochschulen, ja auch gegen die
Schulgesetze dadurch wirksam werden, daß er bei der Stellenbesetzung
mit Unterstützung seines Lehrers Tholuck (er lieferte
ihm „hilfreiche Gutachten"; und durch eine geschickte Personalpolitik
, die den Synoden eine Mehrheit der positiven Union
sicherte, eine mit Kultusgesetzen nicht zu beseitigende Macht aufrichtete
, welche die Tätigkeit des Kultusministers und damit die
Intentionen des Regierungschefs Bismarck in ihrer Wirkung erheblich
einschränkte. Die gesamte Kulturpolitik in Kirche und
Schule wurde letztlich nach dem Grundsatz rechtgläubiger Unionspolitik
gestaltet, wie sie Wilh. I. als Erbschaft seines Vaters erhalten
wissen wollte. In diesem Bestreben wurde der alte König
immer wieder von seinem Holprediger und Seelsorger bestärkt,
während sein Kontrahent Falk nicht das Ohr des Königs hatte.
So kam es zu einem jahrelangen zähen Kampf hinter den Kulissen
. Durch intime Gespräche und eine ganz geheime Korrespondenz
zwischen Kögel und Manteuffel kam es zu Entscheidungen
, die weder Bismarck noch Falk verhindern konnten. Wie
sich Kögel diese Position zäh und zielstrebig erworben hat, wird
vom Verf. eingehend geschildert. Er hat sich seine Arbeit nicht
leicht gemacht. Um die Grundlagen der theologischen und kirchenpolitischen
Anschauungen Kögels herauszuarbeiten hat er (auf
S. 13-45) den Einflufj des Elternhauses, der theologischen Lehrer
Tholuck und Jul. Müller sowie des Kirchenrechtlers Friedr. Jul.
Stahl in ihren verschiedenen Linien aufgezeigt. Erwecklicher Pietismus
, eine lutherisch geprägte Unionshaltung und eine politisch
konservative Einstellung sind hier miteinander verschmolzen.
Kögels Lebensweg führt von der Landgemeinde Nakel über die
deutsche Gemeinde in Den Haag zur Berufung an den Berliner
Dom. Dabei wird auffällig deutlich, dafj keine dieser Berufungen
glatt von statten ging. In Nakel wurde Kögel nach 13 vorher
gegangenen vergeblichen Bewerbungen durch Vermittlung des
Posener Konsistoriums gegen den Willen der Gemeinde interimistisch
eingesetzt. Auch die Berufung in die Gemeinde der
niederländischen Residenz war nicht, wie es Kögels Sohn und
Biograph darstellt, Zeichen „einer göttlichen Fügung, sondern
erfolgte nach intensiven persönlichen Bemühungen von guten
Freunden und nach ausgedehnter Korrespondenz Kögels" (S. 53),
um einen Lieblingsplan des E. O. K. in Berlin zu durchkreuzen.
Aber man lese auf S. 53 ff nach, wie es Kögel dank seiner theologischen
Einstellung und praktischen Geschicklichkeit gelang,
diese aus Deutschen und Niederländern, aus Lutheranern und Reformierten
, aus Hochadel und Proletariat zusammengesetzte Gemeinde
zusammenzuschließen und durch Gründung einer deutschen
Schule die Einheit von Deutschtum und Christentum zu wahren.
Ist Kögels Frage: Unser Zeitalter ist das der Mission und Revolution
zugleich. Wohin werden sich die Massen wenden? So wollte
er vor allem durch christlichen Unterricht Bewahrung und Rettung
der Jugend sicherstellen (S. 58). Ebenso bunt gemischt war
die etwa 10-12 000 Seelen zählende, über die ganze Stadt Berlin
verstreute Domgemeinde, der sehr viel Tagelöhner, Arme, Witwen
und Waisen angehörten, die der Unterstützung bedurften. Ebenso
bunt gemischt war auch die konfessionelle Zusammensetzung.
Auch diese Gemeinde hat Kögel mit grofjem Geschick zu leiten
gewußt. Er war als Prediger bei der königlichen Familie so sehr
geschätzt, daß der alte König gegen den Willen des Kronprinzen
die Konfirmation der Enkelkinder durch Kögel durchsetzte. Frau
Kögel selbst hat in ihrem Tagebuch von erheblichen Spannungen
zwischen König und Kronprinz berichtet (S. 181). Im Herbst
1873 hatte Kögel seine wichtige Schlüsselposition erlangt, als er
in die Stelle des zweiten Hofpredigers aufrückte, mit der automatisch
die Funktion eines königlichen Schloßpfarrers und Seelsorgers
verbunden war. Weitere Einzelheiten hier darzulegen erlaubt
der zur Verfügung stehende Raum nicht. Interessant ist
lediglich Wolfs Feststellung, dafj Kögel gegen das leidenschaftlich
abgelehnte Schulaufsichtsgesetz noch keine kirchenpolitischen
Aktionen unternehmen konnte, weil er noch nicht die Vertrauensstellung
in unmittelbarer Nähe des alten Königs hatte (S. 132).
Durch ein Handschreiben des Königs bestätigt, unternahm er
(zwischen dem 18. und 22.1.1874) eine Intervention beim König
gegen die Zivilstandsgesetzgebung, und zwar gerade zu der Zeit,
da Falk mit seinem Rücktritt gedroht hatte. Obergehen wir pein-

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 6