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Ausgabe:

1969

Spalte:

448

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Metzger, Günther

Titel/Untertitel:

Gelebter Glaube 1969

Rezensent:

Ludolphy, Ingetraut

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Seite 1

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dieser wichtigen Stelle verdient, wenigstens in ihren Grundthesen
etwas substantiierter zu Wort zu kommen. Kantzenbach hält dafür
, daß ein einschneidender Zeitpunkt im Leben Luthers wohl
vorhanden gewesen sei, daß diese persönliche Befreiung aber
„nicht sofortige Folgen für die exegetische Ausdrucksweise" gehabt
zu haben brauche. „Die ganze Klarheit mußte sich Luther
noch mühsam erkämpfen" (1,68).

Im allgemeinen geht Kantzenbach in der Darstellung chronologisch
vor. Er entwickelt unter dem Thema des Vorabends der
Reformation das humanistische Programm und die Reformversuche
zeitlich vor Luther. Dann folgt die Darstellung zunächst
der Vita Luthers und der Reformationsgeschichte bis zur Protestation
der evangelischen Stände in Speyer 1529 (1,155).

Innerhalb der eingehaltenen Chronologie behandelt Kantzenbach
sehr gut gewählte Sachthemen, die die entscheidenden Phasen
der Reformation charakterisieren. Hier ist in mancher Passage
die Kunst des Weglassens meisterhaft gelungen, wenn etwa auf
Kosten einer mitgeteilten Faktenfülle so entscheidende Vorgänge
wie die Leipziger Disputation inhaltlich und konsequenzmäßig
deutlich herausgestellt werden. Melanchthon als Mitarbeiter Luthers
kommt in seiner reformationsgeschichtlichen Bedeutung
allerdings etwas unterbelichtet vor. Es mag auch nicht verhehlt
werden, daß in manchen theologischen Urteilen bisweilen etwas
unpräzis oder vereinseitigend formuliert worden ist. Vielleicht
sollte man ein Kurzvotum zu Luthers Taufauffassung doch nicht
folgendermaßen abschließen lassen: „Luther hat den Kinderglauben
auch noch im Großen Katechismus verteidigt, später
aber seine Meinung etwas modifiziert. Jedenfalls wertet er die
Taufe als das sozusagen soziologisch bedeutsam werdende Sakrament
" (1,101).

Der letzte Abschnitt des Bandes geht von der Chronologie ab
und gibt, jetzt nicht nur an Hand der Zeugnisse des jungen
Luther, einen Oberblick über die „Theologie Martin Luthers"
(1,167-241). Der Nachweis wichtiger Stellen in der Weimarer Ausgabe
in Zusammenhang mit dem Referat ist äußerst dankenswert.

Der zweite Band schildert eingangs die Situation des Augsburger
Reichstags 1530 und die Bündnisverhandlungen der nächsten Jahre
auf beiden Seiten. Es ist sehr sachgemäß, daß Kantzenbach nicht
in Verfolg der Pauschalurteile Luthers, sondern entsprechend den
historischen Faktizitäten die sehr zu differenzierenden Bewegungen
im Täufertum und Spiritualismus klar voneinander abhebt.
Derartige Historiographie ist bisher selten und deshalb besonders
wertvoll, weil sie bislang wenig beschrittene Gebiete in das Gesamtbild
einbezieht. Kantzenbach stellt hier zusammen, was auf
dem genannten Sektor in den Jahren seit Kriegsende an Neuem
erarbeitet worden ist.

Calvins Reformationswerk bekommt einen eigenen Abschnitt,
der sowohl seinen Werdegang als auch seine Gemeinsamkeiten
und Unterschiedenheiten mit bzw. zu Luther skizziert. Dem folgt
als paradigmatische Charakteristik der Gegenreformation eine
Abhandlung über den Gründer der Gesellschaft Jesu, Ignatius von
Loyola, und über das Konzil von Trient, welches die gegenrefor-
matorische Position für Jahrhunderte zementiert hat. Unter der
Oberschrift „Streitendes Luthertum" werden die Kämpfe im
lutherischen Lager bis hin zum Abschluß des Konkordienwerkes
referiert.

Der Appendixcharakter eines Überblicks über „Die Reformation
in Europa" wird vielleicht vom Vf. selbst empfunden, wenn er
schreibt: „Eine spätere ausführliche Darstellung der europäischen
Reformationsgeschichte liegt durchaus im Bereich der Möglichkeiten
der .Evangelischen Enzyklopädie' " (11.141).

Ab und in vermißt man den sehr gut für die Art der Darstellung
bemessenen Rahmen der Anmerkungen beim ersten Band
im zweiten. Die Literaturkontrolle bei wichtigen Punkten der
Darlegungen im zweiten Band wäre wünschenswert. In beiden
Bänden ist eine knappe, aber wohldurchdachte Sekundärliteraturauswahl
mitgeteilt. Sie rundet den positiven Gesamteindruck
des Werkes ab.

Einige offensichtliche Fehler müßten in der zweiten Auflage
korrigiert werden Z. B. ist Doernes nicht titelmäßig genau angeführter
Aufsatz im Lutherjahrbuch 1938 erschienen (1.249); die
Briefe Luthers in seinen letzten Lebenstagen sind nicht von Eisenach
, sondern von Eisleben aus geschrieben (11,52): Erasmus
hat seine Antwort auf Luther (Hyperaspistes) bereits 1526/27
geschrieben, nicht erst 1529 (1,153).

Berlin Joachim Rogge

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Metzger, Günther: Gelebter Glaube. Die Formulierung reformatorischen
Denkens in Luthers erster Psalmenvorlesung,
dargestellt am Begriff des Affekts. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht [1964]. 233 S. gr. 8° = Forschungen zur Kirchcn-
und Dogmengeschichte, 14. DM 28,-.

Verf. kann hier seine durch Prof. Ebeling geförderte und von der
Theologischen Fakultät der Universität Zürich angenommene Dissertation
gedruckt vorlegen. Er will unter bewußter Beschränkung
des Quellenmaterials, das bis zur ersten Psalmenvorlesung reicht,
die Struktur von Luthers früher Theologie erfassen und inter
pretieren, was ihm wesentlich gelingt. Als roter Faden dient dabei
der in dieser Vorlesung auffallend häufig vorkommende Begriff
des Affekts. Diesen hält er für besonders brauchbar, weil
er einerseits stark in der Überlieferung, die Luther vorfand, verankert
(Teil I der Arbeit) und andererseits geeignet sei, das
Neue auszudrücken, das Luther brachte, als er sich im Vollzug
der Exegese schrittweise immer stärker von der späten Scholastik
entfernte (Teil II der Arbeit). Verf. versteht darunter „eine
leidenschaftliche Bestimmheit des Menschen, in welcher Erfahrung
stattfindet", und zwar „Erfahrung ... im Sinne von Erleiden oder
Gestimmtwerden" (S. 9). Sich selbst erfährt der Mensch „im Affekt
. . . als wollendes, vitales Wesen, das leidenschaftlich Antwort
gibt auf die Frage, die das außer ihm Seiende in jeder Begegnung
an ihn stellt" (S. 9). Dabei interessiert als dieses Gegenüber
vor allem Gott. Vor ihm ist der Mensch in jeder Weise
der Empfangende, der - als Erneuerter - nur im - ebenfalls
geschenkten - Glauben antworten kann. Dieser Glaube prägt
dann das gesamte Leben des Christen, auch dem Mitmenschen
gegenüber. „Im Gehorsam des Glaubens leben heißt, von der
unmittelbaren Gemeinschaft mit Christus aus denken, erkennen,
handeln, leiden und hoffen" (S. 221f). An den Affekten läßt sich
deshalb die Richtung des Wollens des Menschen erkennen. Nicht
daß dieses Wollen Voraussetzung der Rechtfertigung werden
könnte. Vielmehr ist auch die Bewegung der Affekte auf Gott hin
durch diesen selbst gewirkte und somit Gabe Gottes.

In bezug auf Christus ist für Luther sowohl das „Anschaulich-
lirbildhafte" als auch „das Einmalige des Krcuzesgcschehcns"
(S. 222) wichtig.

Das Leben des Glaubenden spiegelt mit dem Prinzip des sub
contrario das „paradoxe Element", „das in der Abskonditätslehrc
der theologia cruciä" liegt (S. 222).

In der Schrift als dem Zeugnis von Christus begegnet der Mensch
dem Wirken Gottes, doch nicht nur in der Vergangenheit. Es ist
Aufgabe der Auslegung, das deutlich zu machen. Luther zeigt es
in seiner Vorlesung an den - auf Christus bezogenen - Psalmen.

Insgesamt ist zu beachten, daß Luthers Affektanschauung nicht
die Frage nach der psychologischen V/irklichkeit des Menschen
beantwortet, sondern die Frage nach dem Menschen angesichts
der Offenbarung, dessen Menschsein mit der konkreten Bindung
an Gott steht oder fällt.

Über diese Ergebnisse hinaus bringt die Arbeit viele wichtige
Erkenntnisse über die Abhängigkeit bzw. Selbständigkeit Luthers
bezüglich der ihn angehenden theologischen Überlieferung des
Nominalismus, Augustins und der Mystik. Beachtlich ist der wiederholte
berechtigte Hinweis auf die mönchische Affekterziehung,
die auch Luther geprägt hat.

Die zahlreichen scharfsinnigen Beobachtungen, Hinweise und
Anregungen, die - nicht nur in den gewissenhaften Anmerkungen
- mitgeteilt werden, könnten der Lutherforschung noch
stärker dienen, wenn sie durch ein Sachregister zugänglich gemacht
würden.

Was eine grundsätzliche Kritik an der sehr beachtenswerten
Arbeit betrifft, so hat Werner Schilling in seiner Rezension (vgl.
Luther-Jahrbuch 33 (1966), S. 141f) auf die »schwachen Stellen"
hingewiesen, die „dort liegen, wo . . . der moderne Aktualismus
und Existentialismus in den jungen Luther hineingelesen" werden
und „Luther als . . . Vater der existentialen Interpretation"
erwiesen werden soll, ohne auch Luthers Freiheit von deren Einseitigkeiten
zu unterstreichen (S. 141).

Hinsichtlich der Darstellungsart ist man genötigt zu fragen,
weshalb die oft unnötig komplizierte Diktion gewählt wurde.

Leipzig Ingetraut Ludolphy

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 6