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Ausgabe:

1969

Spalte:

435-437

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Walker, Rolf

Titel/Untertitel:

Die Heilsgeschichte im ersten Evangelium 1969

Rezensent:

Strecker, Georg

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 6

436

Walker, Rolf i Die Heilsgeschichte im ersten Evangelium. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1967. 161 S. gr. 8° = Forschungen
z. Religion u. Literatur d. Alten u. Neuen Testaments,
hrsg. v. E. Käsemann u. E. Würthwein, 91.

Im Anschluß an Adolf Schlatterl skizziert Vf. in fünf Thesen
des einleitenden Abschnittes das redaktionelle Verständnis Israels
im Matthäus-Evangelium und hebt dabei besonders die heilsgeschichtlich
zu interpretierende Zäsur zwischen Israel und den
Heiden hervor („Problemstellung", Tl. I, S. 9-10). Solche Charakteristik
geht über Schlatters Anliegen hinaus. Im folgenden beabsichtigt
Vf. die historische Intention des Redaktors Matthäus
entschlossen nachzuzeichnen. Gerade darin erfüllt seine Unter
suchung auch hetite noch eine Aufgabe und wird auf Interesse
rechnen dürfen.

Zur Frage „Israel im Matthäusevangelium" (Tl. II, S. 11-74)
zeigt Vf. in eingehender Auseinandersetzung mit einer Auslegung
, die aus der matthäischen Terminologie die Verhältnisse
des zeitgenössischen Judentums erschließen möchte, daß die Bezeichnungen
für die „Repräsentanten Israels" nicht auf individuelle
, innerjüdische Unterschiede, sondern auf „eine homogene
Einheit" zu beziehen seien (S. 13). Dies gilt beispielsweise für
den Begriff „Pharisäer und Sadduzäer", der sich „gegen jede
historisierende Einordnung" (gemeint ist: historische Verifizierung)
sperre und nichts anderes als „ein literarischer Baustein in der
vom Evangelisten entworfenen Heilsgeschichte" sei (S. 16). Dies
gilt auch für den Ausdruck „die Schriftgelehrten und Pharisäer",
der nicht von pharisäischen Schriftgelehrten zur Zeit des Matthäus
, sondern - wie auch das einzelne „Schriftgelehrte" bzw.
„Pharisäer" - von der einen „das (damalige) Israel des Matthäus-
Evangeliums literarisch repräsentierenden Lehrerschaft" spreche
(S. 20). Und die Gruppe der „Oberpriester und Ältesten des Volkes
" als der „Exponenten der Christus-Todfeindschaft Israels auf
dem Boden Jerusalems" stelle eine „Handlungseinheit" dar
(S. 32.30); entsprechend die Begriffe „ihre Synagogen", wodurch
„die Identität Israels mit seinen Repräsentanten", oder „dieses
Geschlecht", wodurch die „eschatologisch qualifizierte heilsgeschichtliche
Stunde" gekennzeichnet sei (S. 35.38). Von hier aus
meint Vf. im Sinn des Evangelisten „Israel als Einheit des Bösen"
bezeichnen und bei der Verarbeitung des Traditionsgutes durch
den Redaktor Matthäus eine „Peiorisierung" des Textes nach
weisen zu können (S. 38ff.). Gewiß müssen die in diesem Zusammenhang
genannten Beobachtungen und gezogenen Folgerungen
nicht sämtlich überzeugen. Zum Beispiel führt die Erkenntnis der
typischen Bedeutung der israelitischen Lehrerschaft den Verfass«
zur Bestreitung der Ansicht, Matthäus habe sich „in seinem Evan
gelium zum christlichen ,Schriftgelchrten' bekannt oder sich gar
selbst als solchen verstanden"2. Es ist auch einzuwenden, daß die
Darstellung Israels im Matthäus-Evangelium stärker differenziert
ist, als Vf. zu erkennen gibt1. Aber die Tatsache der Typisierung
und der weitgehend negativen Zeichnung Israels durch den Evangelisten
Matthäus ist zweifellos richtig gesehen und damit die
Aufgabe, beides in die Gesamtkonzeption des Matthäus einzuordnen
, gestellt.

Vf. versucht in einem dritten Teil („Die Heiden im Matthäusevangelium
", S. 75-113) dieser Aufgabe nachzukommen, indem er
untersucht, „wie Matthäus das Verhältnis der beiden Größen
.Israel' und .Heidenwelt' im einzelnen bestimmt, welche hcilsgc-
schichtliche Anschauung er auf dem Hintergrund der .erledigten'
Heilsgeschichte Israels mit dem Komplex der Heiden in seinem
Evangelium verbindet" (S. 75). Die „Erledigung" der Hcilsge-
schichte Israels, d. h. die Ablösung durch die Heiden war schon

') A. Schlatter. Das Evangelium nach Matthäus, Erläuterungen zum Neuen
Testament Bd. I, 1961, S. 325f.

S. 29. - Dies angesichts von 23.34 (hier wirkt doch die nachöstcrlichc. kirchliche
Situation ein), von 23,8-10 (wo der matthäisi.he Jesus zwar bestimmte Titel,
nicht aber die Funktion des Lehrers ablehnt: zu S. 24f.) und vor allem von 13,52
(hier spricht Matthäus eindeutig von einem „zum Jünger gewordenen", also christlichen
Schriftgelehrten, gleichgültig, wie dieser verstrnden igt, ob als Repräsentant
der Tradition oder als „Excmpel der seltsamen r.cdenkenlosiqkcit aller .Nachfolge
'" : zu S. 28f ).

1) Vgl. 21,11: Wenn die „Volksmenge" Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem
als .Propheten" bcgrüfjt. so ist mit diesem Ruf die Höhe des Jüngerbekenntnisses
zweifellos nicht erreicht (so S. 64), aber d-e Stellungnahme der 5 X X O L
ist doch deutlich von der Ablehnung Jesu durch die .Repräsentanten" abgehoben;
so zeigen es elwa die verschiedenen Reaktionen auf die Täuferpredigt (21.26).

im voraufgehenden auf das Jahr 70 datiert worden (S. 56ff.). Die
Frage, worin die Kontinuität der Heilsgeschichte besteht, möchte
Vf. nicht durch den Hinweis auf den Volksbegriff (= „das
wahre Israel"), sondern auf die ßaaiAeCa beantworten: „Mögen
auch die Adressaten derßaoi.A.e Ca wechseln, die Gabe der ßaoiAe Ca
toö öeoö bildet das Kontinuum zwischen Israel und der
neuen heilsgeschichtlichen Größe" (S. 81). Die letztere sei nicht
mit der Kirche, sondern mit den Heiden identisch (S. 9.82 u. ö.).
Zur Begründung dieser These verweist Vf. vor allem auf 12,15ff.;
22,10; 24,14; 25,31ff.; 27,54 ; 28,18ff. Hier ist in der Tat die Ausrichtung
der Botschaft an die gft- ausgesprochen bzw. vorausgesetzt
; dies ist - wie zugestanden werden sollte - für die nachösterliche
Situation des Matthäus charakteristisch. Allerdings sind
die Belege von unterschiedlichem Gewicht (z. B. ist 12,18-21 ein
vormatthäisches Reflexionszitat, das also nur mit Vorsicht für die
matthäische Redaktion in Anspruch genommen werden kann), und
es ist zwischen der universalen Ausrichtung der Botschaft (z. B.
28,18ff.) und der „Erwählung" der Heiden zu unterscheiden4.
Darüber hinaus bekräftigt das singularische £dvei in 21,43 den
auch sonst im Matthäus-Evangelium vorhandenen ekklesiologi-
schen Akzent (zu S. 80.82f.; vgl. auch 18,15ff.: das kirchliche,
nicht der Zeit Jesu einzuordnende Disziplinarinstirut!), so daß
der kirchliche Charakter der Anschlußphase der Heilsgeschichte
doch festgehalten zu werden verdient. In diesem Zusammenhang
ist das Problem des Zeitpunktes der heilsgeschichtlichen Ablösung
Israels von besonderer Bedeutung. Wie gesagt, identifiziert Vf.
ihn mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70. Nun ist - wie 22,7
im allerdings stark paränetisch geprägten Kontext zeigt - dieses
Datum für Matthäus von Belang; freilich wohl nur mit Bezug
auf die Folge, nicht aber als Setzung der heilsgeschichtlichen Ablösung
; denn der Beleg steht sachlich isoliert, aus 23,32ff, läßt
sich solche Datierung nicht erheben*. Die genannte These führt
denn auch bei der Interpretation von 28,18ff. zu dem Eingeständnis
einer „fühlbaren Spannung", da der Auftrag zur Mission unter
allen Völkern eindeutig bei der Erscheinung des Auferstandenen
in Galiläa, nicht aber in zeitlichem oder sachlichem Zusammenhang
mit der Zerstörung Jerusalems erteilt wird (S. 113). Dieser
Schwierigkeit läßt sich entgehen, wenn man annimmt, daß der
Text nicht nur besagt, daß die Ablösung Israels mit der Erscheinung
des Auferstandenen schon gegeben ist, sondern auch,
daß die universale, nicht negativ (also auch nicht antijüdisch)
präjudizierte Geschichte einer Kirche aus Juden und Heiden von
hier ihren Anfang nimmt".

Aus diesen Gründen wird gegenüber der zu Beginn des vierten
Teils („Die Heilsgeschichtc im Matthäus-Evangelium", S. 113-149)
ausgesprochenen These, „Matthäus arbeitet seine Apostelgeschichte
so energisch in die von ihm vorgelegte vita Jesu ein, daß sein
Werk keiner Ergänzung durch ein zweites Werk bedarf" (S. 114),
Zurückhaltung zu üben sein (ohne daß deswegen das für die matthäische
Redaktion nachweisbare ekklesiologische Interesse bestritten
werden muß); denn auch der Aufriß des Evangeliums von
der Geburt bis zu Tod und Auferstehung Jesu demonstriert die in
sich geschlossene, von der Geschichte der Kirche abgegrenzte Größe
des vergangenheitlichen Lebens Jesu. Dies aber schließt um so
mehr die grundsätzliche Anerkennung des historisch-hcilsgcschicht
liehen Schemas ein, wie Vf. es für Matthäus nachzeichnet: die
dreifache Sendung Johannes des Täufers, Jesu und der Jesus

'•) Hierzu meine Arbeit .Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie
des Matthäus". 2. Aufl. 1966, S. 33f. (anders als 1. Aufl. S. 331). 117f.219 Anm. 1
u. ö. Da6 diese Darstellung einen .Bruch" enthalte, lägt sich nur dann behaupten
wenn man zuvor postuliert, die Ablösung der heilsgeschichtl.chen Vorzugsstellung
Israels bzw. die Berufung der Heiden könne im Sinn des Matthäus nicht zur
Bildung der Kirche aus Juden und Heiden führen (»o Vf. S. 93 Anm. 72; 107
Anm. 126: 111 Anm. 141).

•'•) Zu S. 56K.92. - Eine entsprechende Deutung von 23,32 müfjte durch die
Bestreitung der in 24.1 zweifelsfrei ausgesprochenen Zäsur dieses Abschnittes gestützt
werden, ferner d n' tt p T l (23.39) ordnet das .Verlasscnwcrden d»s
Hauses" in die Leben-Jesu-Situation, also nicht in das Jahr 70 ein.

«) Es wäre eine Überspitzung des Gedankens der heilsgcschirhtlichcn Ablösung
Israels im Matthäus-Evangelium, wollte man aus ihm folgern, die Kirche des
Matthäus habe sich nicht im Gegenüber zu Juden befunden. Das Gegenteil gehl
vielmehr aus 10.17f. hervor, will man nicht eine zeitlich hcilsgeschichtliihc
Differenzierung der Sendung der Jünger Jesu (zunächit an Israel und .sodann" zu
den Heiden) in diesen Tezt eintragen (zu S. 77). - Vgl. auch - abgesehen von der
allgemeinen kirchlichen Situation im Ausgang des ersten Jahrhundert» - 10,23;
23,34;. 28.15.