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Ausgabe:

1969

Spalte:

366-368

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wintsch, Hans Ulrich

Titel/Untertitel:

Religiosität und Bildung 1969

Rezensent:

Jacob, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 5

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beherrschende Stellung der Rechtfertigungslehre im südlichen
England zur Reformationszeit von Phänomenen begleitet ist, die
nicht gerade Lutherfreundlichkeit verraten. Richard Hooker (1554
bis 1600), einer der „bedeutenden Wortführer des anglikanischen
Kirchenbewufitseins" (S. 381V bekannte sich zwar zur Rechtfertigungslehre
, setzte sich aber im Gegensatz zu vielen Reformatoren
auf dem europäischen Festland „in verständnisvoller Weise. . . mit
dem Gegner auseinander und erhob es ausdrücklich zum Grundsatz
, nicht in der gleichen kindischen atomistischen Art gegen ihn
zu polemisieren, wie es von ihm gegen die evangelische Seite geschah
" (S. 393f). „Die Rechtfertigungslehre ist eine Weile Thema
geblieben, aber gerade bei Hooker, dem einflußreichsten ihrer
Denker, zeigt sich der Umbruch, dafi sie zum Nebenkriegsschauplatz
wurde. Thre Funktion . . . übernahm die Inkarnationslehre
und die Versöhnungslehre" (S. 395V Der Rcchtfertigungslehre
wandte sich der Puritanismus betont zu und dann erst wieder
John Wcslcv und die methodistische Bewegung. Aber gerade in diesem
Prozeft innerhalb des Anglikanismus fügte sich „zur Glau-
bensgerechtigkeit die T.cbensgerechtigkeit. . . und das Zielbild des
Christen in der Heiligkeit der vollkommenen Liebe zu Gott"
(S. 395f.).

Festschriften pflegen eine kleine Auflage zu haben, weil oft ein
enges Feld von Fachgelehrten darin Specialissima verhandelt. In
dieser Gabe zum 65 Geburtstag Hanns Rückerts wird jedoch das
transparent, was der hervorragende Reformationshistoriker jahrzehntelang
wie wenige andere verstehen gelehrt hat: Geist und
Geschichte der Reformation!

TWlin Joachim Rogjie

n v r* r h | Martin- Kritischer Spiritualismus NIM den Anfangs-
lahr^n dor Reformation fZKG 79 1968 S. 363-374V

Kraus. Hans-Joachim: Calvins ryoe tische Prinzipien (ZKG 79
10K<5 s. 320-341)

Locher Gottfried W.: Zu Zwifiglis „Professio fidei". Beobachtungen
und Frwägunaen zur Pariser Reinschrift der sogenannten
Fidei Evnositio 'Zwinqliana XTT. 1968 S. 689-7001.

PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Hirsch, Emanuel: Schleiermachers Christusglaube. Drei Studien.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus G.Mohn [1968]. 110 S. 8°.
Kart. DM16,80.

Der Verf. der vorliegenden Studien, der unter anderem bereits
in seiner „Geschichte der neueren Theologie" eine umfassende
Darstellung der Theologie Schleiermachers gegeben hat. unternimmt
es nunmehr, den Christusqlauben in Schleiermachers Weihnachtsfeier
, seinen Oster- und Himmelfahrtspredigten und den
Predigten von Jesu Sterben am Kreuz zu durchleuchten. Von den
drei Studien dürfte die Untersuchung der Weihnachtsfeier am bedeutsamsten
sein. Mit Recht betont H., daß in dieser Schrift nicht
nur die Frömmigkeit Schleiermachers zu Wort kommt, sofern sie
■ aus Novalis Blut und Leben getrunken hat" - ein Moment, das
bisher in der Schleiermacher-Forschung zuwenig Beachtung fand -,
sondern dafi Schleiermachers Weihnachtsfeier auch besonders ein
zentraler Ausdruck der „Auseinandersetzung zwischen modernem
Denken und christlicher Frömmigkeit" ist.

Aus der Fülle des Gedankenreichtums des Verf.s zu diesem
Thema sei nur das Wichtigste herausgehoben. Man muß ihm zustimmen
, wenn er in der Rede Eduards den krönenden Abschluß
der Weihnachtsfeier sieht. Denn in ihr hat Schleiermacher in der
Tat die große Thematik seiner Lebensarbeit: die Kombination
von „weltlicher Vernünftigkeit und christlichem Erlösungsbewufit-
sein" wenigstens andeutungsweise fortgeführt. Christus als Erlöser
und die das Sein durchdringende Vernunft sind zutiefst eins
MS); Da Schleiermacher das Ewige als „alles erscheinende Dasein
durchwaltendes Sein und Wesen" versteht, bilden für ihn christliche
Frömmigkeit und weltgestaltende Humanität eine Einheit.
W. weist im Rückgang auf Kierkegaard zutreffend auf die große
Schwäche der Christusdeutung Schlciermachers hin. Unvereinbar
Urft dieser Deutung erscheint dann die Feststellung des Verf s. daß
die Weihnachtsfeier „betont protestantisch sei" und dafi Schleier-
nacher sich hier wie auch in seiner Reifezeit als der bis ins Letzte
aufgeschlossene „Erzprotcstant" erweise (27f.). In meinen Arbeiten

über Schleiermacher habe ich darauf hingewiesen, daß der Kern
des lutherischen Glaubens als theologia paradoxa im Bereich des
theologischen Denkens Schleiermachers keinen Platz hat, was nicht
ausschließt, daß einzelne protestantische Züge in seinem Weltbild
auftauchen.

In seiner zweiten Studie beschäftigt sich H. mit sieben Predigten
aus den Jahren 1813-1829, die ein geschlossenes Bild von der
Ostcr- und Himmelfahrtspredigt des älteren Schleiermacher geben,
und verbindet damit eine Betrachtung der von Rütenik herausgegebenen
Vorlesungen über das Leben Schleiermachers, wobei
besonders auf die unhaltbare Konstruktion eines ersten und zweiten
Lebens Jesu bei Schleicrmacher hingewiesen wird. Das zweite
Leben Jesu mit seiner durchgeistigten Scheinhypothese erscheint
wie „eine Gespenstergeschichte ohne alle historische Realität".
Auch in seinen Osterpredigten entwirft Schleiermacher ein rein geistiges
Bild des Erlösers unter Ausklammerung alles Geschichtlichen
. Mythischen und Wunderhaften. Auch diese zweite Studie
von H., die neben der Kritik auch Feinheiten der Aussagen
Schlciermachers hervorhebt, läßt deutlich erkennen, wieweit
Schleiermachers Deutung des Geschichtlichen noch entfernt ist von
dem Geschichtsverständnis des späteren Historismus.

Die letzte Studie wendet sich Schleiermachers Predigt von Jesu
Sterben am Kreuz zu in den Passions- und Karfreitagsprediqten in
der Zeit seiner Reife. Als Kanon dieser Predigten nennt H. den
Satz Schleiermachers: „Ich kann mir keinen Moment denken, wo
das Verhältnis zwischen Gott und Christus alteriert gewesen wäre:
es muß immer dasselbige gewesen sein, und das Einssein mit
dem Vater kann niemals aufgehoben sein." Daher sind Gottverlassenheit
und Tod keine negativen Mächte, die die Einheit mit
dem Vater zerstören könnten. In einem kritischen Vergleich dieses
Christusbildes mit der Theologie des Kreuzes bei Luther und
Kierkegaard weist H. zutreffend darauf hin, dafi Schleiermacher
eine Gestalt des Christusglaubens in sich getragen hat. die ihn
für das „Letzte, Dunkelste und Heiligste in Person, Wort und
Geschichte Jesu von Nazareth blind gemacht hat".

Auch wenn man die Akzente der Divergenz zwischen Schleiermacher
und dem Protestantismus im ganzen noch schärfer durchgeführt
hätte, bedeuten die Studien des Vf. eine wertvolle Bereicherung
der Schleiermacher-Forschung, die ausgezeichnet in die
Tiefe der Problematik von Theologie und Philosophie bei SrhlcW-
macher einführen und sich in ihrer klaren Sprache auch dem Laien
als einführende Lektüre anbieten.

Kiel Werner S c h u 1 t r

Wintsch, Hans Ulrich: Religiosität und Bildung. Der anthropologische
und bildungsphilosophischc Ansatz in Schleicrma'-hers
Reden über die Religion. Zürich: Juris-Verlag J9n7. 191 S. 8°
= Zürcher Beiträge zur Pädagogik, hrsg. v. L. Weber, 6. Kart,
sfr. 24,-.

Die vorliegende Arbeit ist unter dem gleichen Titel als Zürcher
Dissertation erschienen. Der Verfasser ist Pädaqoge und hat die
Absicht, „den anthropologischen und bildungsohilosonhischen Gehalt
der Reden über die Religion herauszuarbeiten" (9). Dies geschieht
in zwei großen Teilen. Der erste beschäftigt sich mit dem
Wesen der Religiosität überhaupt, im zweiten wird „der Frage
nach der bildungsphilosophischen und pädagogischen Relevanz der
Religiosität nachgegangen" (8). Das wichtigste Ergebnis der Arbeit
lautet: Religiosität und Bildung sind gegenseitig abhängig Denn
Religiosität ist für Schleiermacher „Streben nach einem universalen
Weltverständnis". „Religiosität ist allseitige Welt-Emnfänglichkcit.
Welt-Hungrigkeit, unstillbare geistige Neugier, grenzenloser Bil-
dungswillc und grenzenlose Bildsamkeit" (184).

Wohlgemerkt, es geht hier um Religiosität und nicht um Religion
. Schlciermacher ist nach Meinung des Verf. weit davon entfernt
, etwa irgendeiner positiven Religion eine solche Bedeutung
für die Bildung einzuräumen. Im Gegenteil, mit Religion haben die
Reden überhaupt wenig zu tun. Sie sind „kein theo-logicum. sondern
ein anthropo-logicum" (5V Um dies bereits terminologisch
sicherzustellen, wird in den ersten beiden Abschnitten Religiosität
als „subjektive Befindlichkeit" (11) und „höchstes Bildungszirl"
(22) von der mehr objektiven Religion und der „vordergründigen",
mit geistiger Unselbständigkeit verbundenen Frömmigkeit begrifflich
differenziert. Es folgt die Beschäftigung mit den grundsätzlichen
Aussagen Schleiermachcrs über die Religiosität. Der Verf,
arbeitet heraus, daß Religiosität bei Schleicrmacher als das