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Ausgabe:

1969

Spalte:

355-356

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Kettler, Franz Heinrich

Titel/Untertitel:

Der ursprüngliche Sinn der Dogmatik des Origenes 1969

Rezensent:

Beyschlag, Karlmann

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355

Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 5

356

K e 111 e r , Franz Heinrich: Der ursprüngliche Sinn der Dogmatik
des Origenes. Berlin: Töpelmann 1966. X, 56 S. gr. 8° = Beiheft
z. Zeitschrift f. d. neutestamentliche Wissenschaft u. d. Kunde
der älteren Kirche, hrsg. v. W. Eltester, 31. Lw. DM 18,-.

In einer Zeit, in der über wissenschaftliche Detailfragen oft
dicke Bände geschrieben werden, deren Lektüre zur Plage wird,
bedeutet eine Arbeit über ein Fundamentalproblem der Patristik,
die sich auf ganze 56 Seiten eines „Beiheftes" beschränkt, eine
wahre Erquickung, ja geradezu eine Überraschung. Die Überraschung
weicht dem Staunen, wenn die Nachprüfung ergibt, dafj
der Verf. für den Text seiner Darstellung mit ganzen 14y2 Seiten
auskommt, während den weitaus größten Teil die z. T. seitenlang
ausgedehnten Fußnoten einnehmen. Würde es sich um eine Anfängerarbeit
handeln, so müßte ein derartiges Mißverhältnis zwischen
Text und Fußnoten zweifellos bedenklich stimmen. Hier dagegen
hat ein anerkannter Origeneskenner eine Abhandlung geschrieben
, die durch ihren scheinbar befremdlichen äußeren Zuschnitt
in Wahrheit nur gewinnt, sofern nicht nur der Text von
allem entbehrlichen Ballast wohltuend entlastet ist, sondern auch
die Übersicht über Belege und Sekundärfragen in Form zusammenfassender
Fußnoten ganz erheblich erleichtert wird.

Welches war „der ursprüngliche Sinn der Dogmatik des Origenes
"? Der Verf. sagt es eigentlich schon auf der ersten Seite,
und seine ganze Abhandlung ist im Grunde nur eine Kette sorgfältigst
zusammengetragener Belege für den einen Satz: „Man
sollte. .. nicht bestreiten, daß Origenes Systematiker ist." Das
klingt für den, der von Harnacks Dogmengeschichte (vgl. Bd. I,
S. 652ff) oder Lietzmanns „Geschichte der Alten Kirche"
(vgl. Bd. II, S. 316ff) herkommt, wie eine Binsenweisheit. Und
wer z. B. Hai Kochs gediegene Studie „Pronoia und Paideusis"
(1932) über Origenes' Verhältnis zum mittleren Piatonismus zur
Hand nimmt, wird dort mehr als einen Berührungspunkt finden.
Allein seither hat sich, wie auf vielen Gebieten der Patristik, so
auch auf diesem, die „herrschende Lehre" ganz beträchtlich gewandelt
. Schon 1931 hatte Walther Völker in seiner Monographie
über „Das Vollkommenheitsideal des Origenes" (vgl. dagegen
Koch a. a. O. S. 329ff) die These vertreten, daß das Wesentliche
an Origenes gar nicht das „Philosophische", sondern eine durch
Vision und Ekstase getragene mystische Religiosität gewesen sei.
Dabei hatte sich auch der Quellengrund, von dem aus so argumentiert
wurde, dahin verschoben, daß weniger die philosophisch-dogmatischen
Hauptwerke des großen Alexandriners (De princ. und
Contra Celsum) als vielmehr die bis dahin weit weniger beachtete
homiletische Hinterlassenschaft, zumal die lateinischen Übersetzungen
(Rufin eingeschlossen!), in die erste Reihe der Origenesquel-
len getreten waren. Vollends die neuere katholische Origenes-
forschung (vgl. z.B. J. Danielou, Origene, 1948; Mme. M. Harl,
Recherches sur le nepl ÄpxSv d'Origene, Stud. Patr. III, TU 78,1961,
S. 57ff.; H. Crouzel, Origene et la Philosophie, 1962) hat sich von
dem scheinbar allzu einseitigen Bild des „Systematikers" (und damit
des „Ketzers") Origenes weitgehend losgesagt, um sich einem
komplexeren, kirchlicheren Origenesideal zuzuwenden.

Kettler leugnet nicht, daß die neueren Ansätze als solche durchaus
eine Bereicherung im Origenesverständnis darstellen. Aber er
wendet sich mit Nachdruck gegen den Verlust an systematischem
Profil, das mit der Uminterpretation des Origenes Hand in Hand
geht. Letztlich geht es dabei, wie der Verf. (S. 24/Anm. 109) richtig
sagt, „um das Origenes-Bild überhaupt". Wer den Systematiker
Origenes und sein bohrendes Fragen zugunsten des „komplexen"
Origenes preiszugeben entschlossen ist, verzichtet zwangsläufig damit
auch auf das Überragende, Bahnbrechende und die einmalige
Kühnheit dieses Zeugen der christlichen Wahrheit" (ebda.) zugunsten
lediglich gesteigerter apologetischer oder meditativer Motive
und einer der kirchlichen Tradition vollständig ergebenen Frömmigkeit
, welche Origenes höchstens gradweise, nicht aber grundsätzlich
über seine patristischc Umgebung hinaushebt.

Genau an diesem Punkt aber setzt Kettlers Argumentationsreihe
ein, die von der Erkenntnis ausgeht, daß Origenes sich - und
zwar in einer jahrzehntelangen „Permanenz seiner Auffassung" -
„über die Grundlinien seines Systems und dessen wesentliche Verästelungen
vollständig klar gewesen ist" (S. 47). Zwar wurzelt
Origenes als Christ - im Unterschied zur häretischen Gnosis -
letztlich in der Kirche (S. 45), allein er lebte zugleich nicht minder
bewußt und aufgeschlossen im „.wissenschaftlichen' Weltbild" des

mittleren Piatonismus (ebd. u. S. 47), das er, wie vor ihm schon
Philo, Justin, Tatian und Clemens Alexandrinus, nur mit unvergleichlich
größerer Kühnheit und Konsequenz „für das kirchliche
Christentum zu erobern und .. . fruchtbar zu machen suchte* (S. 47).

Wie aber kommt es dann, daß Origenes diese Systematik gerade
in seinem systematischen Hauptwerk nepl 'Apxöv weithin mehr zu
verschleiern als zu enthüllen scheint? Was bedeutet die bereits in
der Vorrede dieses Werkes offen ausgesprochene Bindung der Dogmatik
an die Kirchenlehre, obwohl sich die Letztere bei näherem
Hinsehen doch immer wieder in bloße „Anfangsgründe" und „Elementarlehren
" verwandelt, „über die der Fortgeschrittene hinausgewachsen
ist" (S. 3f.)? Warum bekennt sich Origenes einerseits
zu der paulinischen Auffassung, daß unser Erkennen hienieden
„Stückwerk" ist und bleibt (S. 8), während er andererseits in geradezu
gnostischer Weise zwischen „Unmündigen" und „Vollkommenen
", Glaube und Erkenntnis (I Kor 2,4ff.!), Exoterik und
Esoterik unterscheidet (S. 2f.; 9)? Was schließlich bedeuten die
auffallend wiederholten „Einschaltungen" gerade im Text von
nepl 'Apxüv, die zwischen „Lehre und Forschung" unterscheiden
(1,6,1; 6,4; 7,1; 8,4 = Hieron, ad Avit. 4; 11,8,4; 5,8) und offenbar
die beruhigende Überzeugung suggerieren sollen, als handele es
sich bei den über das kirchliche Kerygma hinausführenden Gedankenzügen
des Origenes lediglich um „Fragen und Probleme, die
wir nur darum vorgebracht haben, damit es nicht so scheinen
könnte, als seien sie von uns überhaupt nicht untersucht worden"
(S. 12ff.)?

Die Antwort auf diese Fragen ist eine doppelte, genauer: sie
hat gleichsam doppelten Boden: Einmal nämlich weist Kettler darauf
hin, daß jene Differenzierungen zwischen „Forschung und
Lehre", Esoterik und Exoterik, als solche gar nicht christlichen, sondern
- wie bekannt - einfach philosophischen Ursprungs sind
(vgl. die Hinweise auf Pythagoras, Plato, Plutarch, Clemens Alex.
S. 9; llf.; 44f.). Die Verkoppelung dieses Denkens mit dem kirchlichen
Kerygma, wobei die „Lehre" als „Exponent des Kerygma"
erscheint, ist also „sekundär" (S. 44f.). Etwas ganz anderes ist dagegen
das taktische Motiv, welches Origenes zwingt, sich den Anschein
zu geben, „als ob er nichts weiter als das Kerygma .lehre"
(S. 45), während er gleichzeitig seine eigene, tatsächlich „gemeinte
,Lehre'", d. h. sein vollständig vorauszusetzendes System, als bloße
„Forschung" (S. 46) tarnt und . . . tarnen muß. Damit aber stehen
wir - wie Kettler sagt - am „springenden Punkt" des Ganzen:
„Für ... Origenes scheint das Kernproblem nicht darin bestanden
zu haben, daß ihm wesentliche Probleme seiner .Erkenntnis'
unklar oder unsicher geblieben wären, so daß er um der Gewißheit
willen eines Halts oder einer Rückversicherung am Kerygma
bedurft hätte, sondern vielmehr darin, daß er das meiste von dem,
was ihm klar und gewiß war, nicht ebenso klar und deutlich sagen
durfte" (S. 47).

Eben hier liegt aber der „springende Punkt" auch in Kettlers
Konzeption: Die Vorstellung einer Systematik, deren festes Vorhandensein
nirgends i n , sondern überall nur hinter dem Text
gesucht werden muß, kann - jedenfalls auf christlichem Boden -
nur durch das Motiv einer taktisch offenbar notwendigen Zurückhaltung
begründet werden, deren Intention im Falle Origenes freilich
haarscharf an der Esoterik häretisch gnostischer Observanz,
vorbeiführen würde. Zugleich aber erhält Origenes eben damit
auch geistig einen ganz bestimmten Platz, und zwar außerhalb
der offiziellen Kirchlichkeit seiner Zeit, dessen Näherbestimmung
der Verf. bereits im Vorwort seiner Arbeit als weitere Aufgabe
anvisiert: Es geht einmal um den Zusammenhang zwischen Origenes
und der Valentinianischen Gnosis, zum anderen um den Zusammenhang
mit der Vorgeschichte des Neuplatonismus. An beides
fühlt man sich bei der Lektüre in der Tat auf Schritt und Tritt
erinnert.

Wollte man dem Verf. im Blick auf die Kürze seiner Abhandlung
einen Vorwurf machen, so wäre es der, daß er den Wechsel auf
die größere Perspektive dieser beiden Zusammenhänge zwar bereits
unterschrieben, aber einstweilen noch nicht eingelöst hat. Davon
abgesehen hat Kettler nicht nur eine bis ins philologische
Detail wahrhaft profunde patristischc Studie von glänzender
Akribie vorgelegt, sondern gleichzeitig eine ebenso faszinierende
wie - heute freilich - unkonventionell gewordene Origeneskonzcp-
tion erneuert, der ein lebhaftes wissenschaftliches Echo sicher sein
sollte.

Erlangen Karlmann Beyschlag