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Ausgabe:

1969

Spalte:

346-347

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Käsemann, Ernst

Titel/Untertitel:

Der Ruf der Freiheit 1969

Rezensent:

Hegermann, Harald

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 5

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Wiles, Maurice F: The Divine Apostle. The Interpretation of
St Paul's Epistles in the Early Church. Cambridge: Cambridge
University Press 1967. VI, 162 S. 8°. Lw. 35 s.
M F. Wiles, Dean of Cläre College, Cambridge, hatte schon vor
einigen Jahren unter dem Titel The Spiritual Gospel eine Geschichte
der Auslegung und Wirkung des 4. Evangelisten in der
Alten Kirche vorgelegt (vgl. Rezension von E. Haenchen ThLZ 86,
!961, Sp. 505f.). Hier folgt nun ein nach Thematik und Anlage
entsprechendes Werk über die Paulusbriefe. Der deutschen Leser,
der im Blick auf die weit umfangreichere, jedoch nur die Auslegung
des Römerbriefes behandelnde Arbeit K. H. Schelkles, Paulus
der Lehrer der Väter (1956), einer solchen Darstellung auf gedrängtem
Raum skeptisch gegenübersteht, ist zunächst beeindruckt,
wenn er den Umfang des verarbeiteten Materials ansieht: das
Register der herangezogenen Väterstellen umfaßt über 10 Seiten
(S. 151-162).

Der Versuch, dieser Fülle in einem knappen Abriß Herr zu
werden, konnte nur gelingen, weil der Verfasser sich klarer Aus-
wahlprinzipien und einer straffen Gliederung bediente. Was die
Auswahl angeht, beschränkt sich die Arbeit im wesentlichen auf
die Pauluskommentare der Väterzeit, die im ersten Kapitel (S. 3-13)
kurz vorgestellt werden: für den Osten die Auslegungen und Ho-
milien des Origenes, Chrysostomos und Theodor von Mopsuestia,
dazu die bei K. Staab, Pauluskommentare aus der griechischen
Kirche (NTA 15, 1933) gut zugänglichen Fragmente anderer Ausleger
; für den Westen Victorinus, den Ambrosiaster, Hieronymus,
Pelagius und Augustinus. Diese Paulusinterpretationen begleiten
den Prozeß der Herausbildung des altkirchlichen Dogmas. Schon
von da aus lag es nahe, den Stoff den dogmatischen Hauptfragen
entsprechend aufzugliedern.

Daß sich bei den Auseinandersetzungen die verschiedenen Richtungen
bevorzugt auf Paulus berufen, hängt mit dem in der Alten
Kirche entwickelten Verständnis der Autorität des Apostels zusammen
. Die anfangs noch beachtete geschichtlich-individuelle
Seite der Gestalt (z. B. Kontroverse mit Petrus Gal. 2, Eigenheiten
des Briefstils) tritt zurück, und der Person wie den Worten wird
gleichermaßen unumschränkte Wertschätzung zuerkannt, wobei
gleichzeitig die theologische Sonderart des Paulinismus nivelliert
wird (c. 2, S. 14-25).

In Anlehnung an das bei modernen angelsächsischen Autoren
beliebte Schema challenge-answer wird die Paulusrezeption der
Väter zunächst als Antwort auf die Herausforderung verstanden,
die an die kirchliche Theologie herantrat. Im anthropologischen
Problemkreis (c. 3: nature of man, S. 26-48) erzwingt die Gegnerschaft
der Gnosis die Differenzierung des oap?-Begriffs. Von Clemens
von Alexandrien, der in dieser Frage noch ganz platonisch
bestimmt ist, und Origenes, der als Exeget den Bipolarismus bereits
nicht durchzuhalten vermag (vgl. seine Deutung von 1. Thes.
5,23 und Gal. 5,17), reicht die Skala bis zu den Antiochenern und
Chrysostomos, die mit je verschiedenen Deutungsmöglichkeiten von
oap§ rechnen und den gnadenhaften Charakter des Ttveüna betonen
. Analog erscheint zunächst die Entwicklung in der Deutung
des paulinischen Gesetzesbegriffs (c. 4, S. 49-72). Hier gab Marcion
den Anstoß, die Beziehung des Gesetzes zur Sünde und dessen
heilsgeschichtlichen Ort im Verhältnis zum Evangelium zu bestimmen
. Die weitere Entwicklung verläuft jedoch eher umgekehrt.
Am Anfang steht die sehr differenzierende - 6 verschiedene Bedeutungen
des vöuoc, bei Paulus unterscheidende - Sicht des
Origenes, während in der späteren Zeit, vor allem im Westen, sich
die bis heute nachwirkende Reduzierung auf den Unterschied von
zeremoniellem und ethischem Gesetz durchsetzt.

Wie eng der Blickwinkel trotz aller Vielfalt der Positionen ist,
zeigt das 5., der Christologie gewidmete Kapitel (S. 73-93). Wir
hören von der unterschiedlichen alexandrinischen und antioche-
nischen Auslegung der Adam-Christus Parallele, der Interpretation
des aus Kol. 1,15 entnommenen eluiiv-Begriffs und des
TipiircÖTOHOQ-Titels von Origenes bis Chrysostomos und lernen die
Stellen kennen, die in der Polemik gegen den Doketismus verwendet
werden. Es wird gezeigt, wie die Deutung der christologischen
Aussagen der paulinischen Texte bei den Auslegern des 4. und
5- Jahrhunderts durch die Kategorien der Zweinaturenlehre bestimmt
ist. Ein Abriß der Auslegungsgeschichte von 1. Kor. 15,28
(S. 88ff.) rundet das Bild ab.

Die beiden abschließenden Kapitel, die grace and faith (S. 94
bis 110) und faith and work (S. 111-131) betitelt sind, führen uns

zur Rezeption des Zentrums der paulinischen Theologie. Dem
Autor liegt daran, voreilige Urteile zurechtzurücken. Er zieht die
Linie aus, die von der Verordnung des Geistes bei Origenes bis
zum Primat der Gnade bei Augustinus führt; er zeigt auch, wie
Theodor von Mopsuestia auf seine Weise die eschatologische Komponente
der Gnade zur Geltung bringt. Freilich ändert dies nichts
daran, daß die an Paulus herangetragene Fragestellung schließlich
doch weitgehend auf die Thematik der kirchlichen Gnadenlehre
reduziert wird.

Als vor drei Jahrzehnten Eva Aleiths Monographie über das
Paulusverständnis der Alten Kirche (BZNW18, 1937) erschien
machte man ihrer Arbeit den Vorwurf, von einem Paulusbild ausgegangen
zu sein, das mehr an Luthers Lehre als an Paulus selbst
orientiert war (so Martin Werner, Die Entstehung des christlichen
Dogmas, S. 140, Anm. 132). Dies wird man dem im Anglikanismus
beheimateten Verfasser des vorliegenden Werkes nicht nachsagen
können. Um so eindrucksvoller ist das Ergebnis, daß sich für den
Leser dieser Studie die Geschichte der Paulusrezeption in der Alten
Kirche auf weiten Strecken als eine Geschichte der Mißverständnisse
darstellt. Hier erweist sich das Material als stärker als die
theologische Ausgangsposition.

Halle/Saale Wolfgang Wiefel

Käsemann, Ernst: Der Ruf der Freiheit. 4. Aufl. Unveränderter
Nachdruck der 3. Aufl. Tübingen: Mohr 1968. 210 S. kl. 8°.
Kart. DM 6,80.

In dem bekannten Streit um Bibel und Bekenntnis werden nicht
nur die Positionen moderner evangelischer Theologie, sondern
auch ihre einflußreichen Vertreter leidenschaftlich attackiert. Seit
seinem Kirchenvortrag in Hannover ist besonders Ernst Käsemann
Zielpunkt solcher Angriffe. Ihnen tritt die vorliegende
„Streitschrift" (S. 7) entgegen, vor allem in der ersten Auflage,
die für einen engeren Kreis gedacht war, jedoch schnell weite Verbreitung
erhielt. Dies erstaunt nicht. K. hat noch nie etwas Langweiliges
produziert; was er aber hier in zwei Wochen im Krankenzimmer
formuliert hat, übertrifft alles Frühere an Einsäte und
Energie. Dabei wird der Ton gelegentlich gereizt und verletzend
. Die eigentliche Bewegung in dieser Schrift ist
sachlich, ist eminent theologisch, ist eine wahre Bekennisbewe-
gung gegen ein anderes Evangelium. Wir haben ein Dokument
einer entschieden kirchlich engagierten Theologie vor uns, als
ein Prediger von Umkehr, Gnade und Freiheit tritt K. vor
seine Kirche. Die aus ihm sprechende Auftragsgewißheit muß als
prophetisch bezeichnet werden. Sind wir bereit, eine solche Stimme
in unserer Mitte ernstzunehmen? Prophetie muß allerdings geprüft
werden. K. legt seine Gründe offen dar. In verständlicher
Sprache arbeitet er aus dem NT als zentrale Verkündigung den
„Ruf der Freiheit" heraus, den er immer wieder in die gegenwärtige
Situation hinein prophetisch konkretisiert. Vor allem im Vorwort
(8-20) und Nachwort (164-170) in der jetzt zu besprechenden
ersten Auflage kommt die Situation zur Sprache, aber auch in jedem
einzelnen Abschnitt an geeigneter Stelle. Einleitend formuliert
er „das Thema" (21-27): Es geht um die Besinnung auf das wahre
Wesen der Kirche, das für alle annehmbar zu bestimmen sei als
die „Freiheit der Kinder Gottes". Mit 1. „War Jesus liberal?"
(28-58) wird der Grund gelegt; das Kriterium ist Jesus. Jesus war
liberal, allerdings nicht „im Namen eines humanen Ideals", sondern
anders als alle, in der „Freiheit der Gotteskindschaft", die
Jesu Gabe an die Welt ist (57). Jesu souveräner Umgang mit dem
AT und der Tradition zeigt sein Bewußtsein, vom Geist Gottes
erfüllt und mit einer einzigartigen göttlichen Sendung betraut
zu sein. Aus dieser heraus stellt Jesus den Menschen gerade nicht
vor undurchdringliche Geheimnisse, wo es um das Tun des Willens
Gottes geht, sondern vor die Gabe und Forderung der Liebe.
Liebe und Denken, Heiliger Geist und Vernunft gehören bei Jesus
zusammen; Gott will die Frommen dazu befreien, „menschlich und
sogar vernünftig" zu sein (42). Es besteht kein Anlaß, heute gegen
das theologische Programmwort „Mitmenschlichkeit" Sturm zu
laufen im Namen einer Alles-oder-Nichts-Orthodoxie. Dies ist
vielmehr unbußfertig und in Wahrheit häretisch. Die unbestreitbare
Gefahr, „Mitmenschlichkeit" zu Unrecht zur theologischen
Summe zu erheben, beurteilt K. als vergleichsweise unbedeutend.
Die nun folgenden Abschnitte 2-6 verfolgen den Weg der Freiheit
Jesu durch die urchristliche Geschichte und zeigen, wie sie da
von Anfang an gefährdet, umkämpft, verleugnet, andererseits