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Ausgabe:

1969

Spalte:

292-293

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Orthodoxie und Pietismus 1969

Rezensent:

Zeller, Winfried

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291 Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 4

KIRCHENGESCHICHTE. NEUZEIT

Beyreuther, Erich, Prof. Dr.: Kirche in Bewegung. Geschichte
der Evangelisation und Volksmission. Berlin: Christi. Zeitschriftenverlag
[1968]. 303 S. 8° = Studien für Evangelisation
u. Volksmission, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft für Volksmission
, 7. Pp. DM 15,80.

Eine Geschichte der Evangelisation, die nicht nur eine Geschichte
der Erweckungsbewegungen sein soll, ist sehr schwer
zu schreiben. Dazu braucht es eines klaren Blicks, eines sicheren
Griffs und guter Nerven. Denn der Begriff „Evangelisation" als
terminus technicus ist neueren Datums, die Sache sehr alt. In der
Geschichte der Kirche ist es ein in sehr verschiedenen Breiten
dahinfliegendes Flußband, das oft nur zu einem sehr schmalen
Rinnsal verkümmert ist. Erst die verschiedenen Revivals in den
angelsächsischen Ländern haben hier eine „Bewegung" erzeugt,
die auch in Deutschland zu Ausgang des 19. Jahrhunderts spürbar
, aber von den Landeskirchen mit größter Zurückhaltung, wenn
nicht gar Ablehnung, beobachtet wurde.

Erich Beyreuther, dem wir eine Reihe von Büchern zur Geschichte
der Erweckungen und des Pietismus verdanken, hat es auch für
seinen neuen Gegenstand nicht an Mut und Begeisterung fehlen
lassen. Selber seinem Thema persönlich verpflichtet und auch in
der Sprache mit einem Tropfen „pietistischen" Öles gesalbt, hat
er es unternommen, ein kirchengeschichtliches Gesamtgemälde
der Evangelisation und Volksmission zu entwerfen. Er hat hier
manche Vorgänger gehabt. Ich erinnere an den von ihm nicht
genannten, theologisch hochgebildeten Goßner-Missionar Georg
S t o s c h (Missionsgeschichte, 1905). Beyreuthers Buch, eine Auftragsarbeit
, ist für einen breiteren, an der Sache interessierten
Leserkreis gedacht. Es wäre daher unbillig, an seine Leistung mit
theologischen und kirchenhistorischen Maßstäben heranzutreten.
Der Wärme der Darstellung kann sich der gutwillige Leser nicht
entziehen. Und es ist auch gut, daß wir derartige Bücher, die wir
heute kaum besitzen und die nicht mit einer billigen Erbaulichkeit
geschrieben sind, wieder vorfinden. Aber da der Verf. nun
einmal Geschichte bieten will, die ein größeres Publikum
kennenlernen soll, wird man es dem Rez. nicht verübeln, wenn
er sehr große Partien des Buches, namentlich die ersten vier
Abschnitte, zumindest mit hochgezogenen Augenbrauen, durchmustert
hat. Nicht nur der unzulängliche Anmerkungsapparat,
auch die sehr vorsichtige Harmonisierungsweise der Darstellung
ist weithin unbefriedigend. Man hat den Eindruck, daß der Verf.
sich scheut, mutig zuzupacken und Urteile zu wagen, die nun
einmal von der Sache her geboten sind. Und wenn er etwa an
einer Stelle meint, daß der Historiker bisweilen seine Aufgabe
an die Geschichtstheologie abzugeben habe, dann muß der Historiker
in der Tat betreten schweigen (S. 25) obwohl er doch manches
noch zu sagen wüßte. - Ich will nicht jeden Abschnitt
kritisch durchgehen. Die Tendenz ist überall die gleiche: behutsame
Betrachtung. Kritisches Räsonnement ist nicht das Charisma
des Autors. Er geht gleichsam auf Zehenspitzen durch die Geschichte
, und wo Zensuren, vorsichtig genug, gewagt werden,
folgt ihnen ein Pst! Pst! Man möchte meinen, daß der Verf.
beim Eintritt in das 19. Jahrhundert, wo die von den Angelsachsen
ausgehende spezifisch moderne Evangelisationsbewegung
das deutsche Kirchentum und den konservativen und politisch
erzreaktionären Pietismus trifft, alle Register zieht und den
ausgelaugten Boden der Volkskirche und die in größter Wandlung
begriffenen gesellschaftlichen Zustände charakterisiert, aber auch
hier bleibt er ein liebenswürdiger Betrachter, auch wenn man
wohl spürt, wem sein Herzschlag gilt. Wie reizvoll wäre es gewesen
, die Voraussetzungen von Männern wie Moody, Mott, Elias
Schrenk, Samuel Keller zu prüfen und deren Individualität wie
menschliche Grenze sichtbar zu machen! Aber es werden auch hier
keine Horizonte geöffnet.

Ich habe auch Bedenken gegen den Titel des Buches. Ganz abgesehen
davon, daß nirgends ganz deutlich wird, was Beyreuther
unter Kirche versteht, bleibt doch zu fragen, ob denn die Kirchen
durch die Evangelisationen wirklich in „Bewegung" gerieten. Haben
die Großkirchen der freien Verkündigungsarbeit nicht immer
wieder ihr Mißfallen bekundet? Und hat schließlich der Amoklauf
der Theologen gegen den „Pietismus" nicht mehr Verwirrung als
Klarheit hervorgerufen? Die Verlegung der Volksmission in den

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Sektor „Innere Mission", damit die traditionelle Predigt nicht davon
beeinträchtigt werde, hat den Verf. leider auch nicht zum
kritischen Nachdenken angeregt. Zum Schluß bietet er eine sehr
summarische Aufzählung „volksmissionarischer" Aktivitäten nach
1Ö45, eine bunte Geschirrsammlung wie auf einer Musterschau. -
Beyreuthers Buch, man möchte seine Absicht loben, hat die geschichtliche
Aufgabe, die er sich gestellt, doch zu vordergründig
angepackt. Die unterscheidende Ordnung des Apostels,
„etliche zu Evangelisten", ist nicht mit der kritischen Fröhlichkeit
und theologischen Griffsicherheit zum Zuge gebracht worden, um
eine Kirche nicht allzu unbekümmert an ihre „Bewegung" glauben
zu lassen.

Berlin Karl Kapisch

Kantzenbach, Friedrich Wilhelmi Orthodoxie und Pietismus.

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus G. Mohn [1966]. 228 S.
8U = Evangelische Enzyklopädie, hrsg. v. H. Thielicke u. H.
Thimme, 11/12. Kart. DM 9,80.

Das Buch, Teil einer mehrbändigen Kirchengeschichte, ist von
der Absicht bestimmt, den evangelischen Christen mit dem neuesten
Stand der kirchengeschichtlichen Forschung vertraut zu machen
und dadurch den noch herrschenden Mißverständnissen über
Orthodoxie und Pietismus zu begegnen. Zu diesem Zwecke hat
der Verfasser die einzelnen Kapitel mit grundsätzlichen Erörterungen
über den gegenwärtigen Forschungsstand eingeleitet und
außerdem am Schluß des Bandes Hinweise auf grundlegende
Werke für eine weitergehende Orientierung geboten.

Was den Begriff der Orthodoxie anbetrifft, so lehnt Kantzenbach
mit Recht jene gängige Vereinfachung ab. Es gilt vielmehr,
jede geschichtliche Vielfalt und Vielschichtigkeit wahrzunehmen,
die gerade im 17. Jahrhundert die Theologie und die Frömmigkeit
aufzuweisen haben. Neben der lutherischen Orthodoxie, als deren
Hauptvertreter Leonhard Hutter, Balthasar Mentzer, Johann Gerhard
, Jakob Heerbrand und Nikolaus Hunnius erscheinen, erfährt
auch die reformierte Orthodoxie von Hyperius bis Cocceius eine
informierende Darstellung. Ausführlich wird auch auf die Sonderstellung
der Helmstedter Theologen und ihre Bemühungen um
eine Annäherung der Konfessionen eingegangen.

Hervorhebung verdient die Feststellung, daß um 1580 in der
lutherischen Kirche eine Frömmigkeitskrise zu beobachten ist, als
deren Überwinder Johann Arndt, Philipp Nicolai und Valerius
Herberger erscheinen. Von Arndt gehen Anregungen auf die Reformorthodoxie
aus. Als Vorläuferin des Pietismus stellt sie zugleich
eine Spätform der Orthodoxie dar. Auch Kirchenlied und
Kirchenmusik im Zeitalter der Orthodoxie werden im Überblick
gewürdigt. Spiritualismus und Mystik im Luthertum sind mit Darstellungen
der Gedanken von Valentin Weigel und Jakob Böhme
berücksichtigt.

In Auseinandersetzung mit A. Ritsehl versucht der Verfasser zu
zeigen, daß für die Entstehung und das Wollen des Pietismus in
erster Linie die deutsche reformorthodoxe Erbauungsliteratur,
weniger der Puritanismus, bestimmend gewesen ist. Wie Kantzenbach
darlegt, knüpft die pietistische Reform an das reformatorische
Programm an. Darauf weisen auch die Verbindungslinien
zwischen Spener und der reformorthodoxen Bewegung in Straßburg
hin. Speners theologische Eigenständigkeit hat sich in seiner
Wiedergeburtslehre niedergeschlagen, die zu einer Auflösung des
lutherischen Kirchenbegriffs, zu Individualisierung und Spirituali-
sierung beiträgt.

Francke und der Hallesche Pietismus wirken demgegenüber
nicht nur als breitere Volksbewegung, sondern erscheinen auch
durch Franckes stärkeren Anschluß an Luther und seine ökumenische
Weite kirchlicher geprägt. Die spiritualistischen Wurzeln
des Pietismus erfahren im Separatismus eine übersteigerte Ausprägung
. Freilich werden auch hinter dem Kirchengeschichtsver-
ständnis Gottfried Arnolds sowohl pietistische als auch spirituali-
stische Züge sichtbar. Tersteegen sollte man freilich neben dem
nicht berücksichtigten Joachim Neander besser dem reformierten
Pietismus zuordnen.

Auch in die moderne Zinzendorf-Forschung wird eine orientierende
Einführung gegeben. Die Kreuzestheologie des Trafen
erscheint als Grundlage seiner ökumenischen und missionarischen
Bestrebungen, während seine pädagogischen Bemühungen vom