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Ausgabe:

1969

Spalte:

286-287

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Luther Jahrbuch XXXV 1968 1969

Rezensent:

Koch, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 4

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Es ist nicht neu, die Reformation nach ihrer Auswirkung auf die
Bildung eines deutschen Nationalstaates zu befragen und zu bedauern
, daß Karl V. sich um seines Universalreiches willen für die
römische Universalkirche und gegen Luther entscheiden mußte,
so daß die Reformation zur Zersplitterung der Nation und zur
Stärkung des Landesfürstentums beitrug. Obgleich sich die Reformation
gewiß nicht als einigendes Band erwiesen hat, bleibt doch
die Frage, ob ohne die Reformation ein Nationalstaat entstanden
wäre. Schließlich haben alle deutschen Stände bereits in der Wahl-
kapHulation vom 3. Juli 1519 ihr starkes Mitspracherecht bei der
Keichsregierung verankern lassen. Und da die Machtpolitik der
Habsburger später sogar die katholischen Wittelsbacher an die
Seite der evangelischen Fürsten trieb, also sogar die Glaubens-
unterschiede überwand, muß man billig befürchten, daß der
Widerstand gegen die Habsburger innerhalb einer einheitlichen
Kirche noch größer geworden und den Territorialfürsten noch
'»ehr Machtzuwachs gebracht hätte, als es geschehen ist.

Gewifj wurde in Worms eine Entscheidung gefällt, durch die es
Ucht zur Bildung einer deutschen Nationalkirche, sondern der
Landeskirchen kam. Insofern wirkt die Entscheidung bis heute
nach, obgleich es weder die Schuld Karls V. noch die Luthers ist,
daß 50 Jahre nach Beseitigung der Landesherren unsere Kirche
noch eine landeskirchliche Struktur hat. Für Luther selbst aber
und den Fortgang der Reformation war 1521 die entscheidende
Frage, ob Luther widerrufen bzw. widerlegt werden würde. Luther
hat nicht widerrufen. Der Reichstag hat ihm keine Disputation gewahrt
und sich dadurch der Möglichkeit beraubt, die öffentliche
Meinung gegen Luther einzunehmen. Daher haben die Zeitgenossen
Luther als den Lutherus invictissimus gefeiert, der weder in
Augsburg noch in Leipzig noch in Worms besiegt werden konnte.
Und es läßt sich nicht übersehen, daß Luthers Auftreten in Worms
vielen Mut gemacht' hat, sich mit ihren reformatorischen Anschauungen
herauszuwagen, da sich das Reich als unfähig erwies,
diesen Ketzer zum Schweigen zu bringen. Damit entglitt die Reformation
sowohl der päpstlichen als auch der kaiserlichen Kontrolle
. Es vollzog sich, ohne daß die Beteiligten sich dessen bewußt
wurden, jene Trennung von Staat und Kirche, deren theoretische
Begründung durch Luther der Verf. begrüßt (97-99.147).

Über Luthers Verhältnis zur Spätscholastik steht die Forschung
erst am Anfang, soweit es sich um den geschichtlichen Nachweis
handelt, wie Luther deren Gedanken aufgenommen und verarbeitet
hat. Der Verf. wendet zurecht gegen Iserloh ein, daß Luther nicht
einfach als Nominalist verstanden werden kann, da der Nominalismus
schon selbst im 15. Jh. ein vielgestaltiges Gebilde war und
sich bei Luther Einflüsse der Mystik und des Augustinismus finden
(173). Noch viel weniger erforscht aber ist Luthers Beziehung
zu den Erfurter Humanisten. Dar Verf. schreibt (10): „Weder
die in Erfurt gelehrte nominalistische Philosophie noch der humanistische
Kreis des Mutianus Rufus in Gotha haben einen tieferen
, für uns noch erkennbaren Einfluß auf den jungen Luther
ausgeübt."

Ohne Zweifel ist es richtig, daß Luther sich weder als Nomina
list noch als Humanist einseitig verstehen läßt. Derartige geistesgeschichtliche
Einordnungen würden den Kern der Theologie
Luthers nur verdunkeln. Aber indem man das zurückweist, darf
man sich nicht dazu verführen lassen, den Einfluß der beiden
Strömungen zu unterschätzen. Es sei nur daran erinnert, wie viele
Gedanken der Zwei-Reiche-Lehre Luthers sich schon bei Ockham
finden und daß Luther sich bei seiner Ubiquitätslehre - auch wenn
sie sich gut in seine Christologie einfügte (125) - der Vorstellungen
über die verschiedenen Möglichkeiten an einem Ort zu sein
bediente, wie sie uns schon bei Ockham begegnen. Ebenso verhält
es sich mit dem Humanismus. Der Kreis um Mutian mag in der
Tat keinen großen Einfluß auf Luther ausgeübt haben, obgleich
Mutian selbst Luther schon 1516 in einem Brief als Martinus
n°ster bezeichnete, also zu seinen Gesinnungsgenossen zählte.
Mutian hat aber die Erfurter Humanisten erst gesammelt, als sie
sich nach der Pest von 1505 wieder in die Stadt wagten. 1501/1502
War ihr Haupt Nikolaus Marschalk, zu dessen Schülern Georg
sPalatin, Johann Lang und Crotus Rubianus - der später Mitverfasser
der Dunkelmännerbriefe war, mit Luther in einer Burse
wohnte und mit ihm zusammen arbeitete - gehörten. Um Luthers
Verhältnis zu diesen Humanisten beurteilen zu können, müßte
'•uthers Denken mit Marschalks Reformvorschlägen und nicht mit

den später ausgeprägte Anschauungen Mutians verglichen werden
. Es könnte sich dabei ergeben, daß Luther schon durch die
Marschalkschüler auf die Notwendigkeit einer Reform hingewiesen
wurde und seine Kritik in den Vorlesungen von 1513 bis 1516
keineswegs nur „die Kritik des Mönches an der Kirche" (36) war.
ja daß sogar einige Anliegen der Humanisten mit in Luthers refor-
matorische Entwicklung eingeflossen sind, obgleich er später sich
in einigen grundsätzlichen Fragen in scharfer Weise von Erasmus
trennte.

Ausschließlich der Theologie Luthers sind drei Kapitel gewidmet.
Das zweite Kapitel (22-36), „Die Theologie des jungen Luther ',
gründet sich vor allem auf die Römerbriefvorlesung, stellt also
Luthers Theologie vor dem Thesenanschlag dar. Das fünfte Kapitel
(56-63) bietet „Das Programm einer Reformation der Kirche nach
dem Evangelium" an Hand der Schriften von 1519 bis 1520, wobei
allerdings auf den Inhalt der Schrift an den Adel, „das umfassende
Sozialprogramm der Reformation zu einem Neubau der christlichen
Gesellschaft" (60), nicht eingegangen wird. Durch diese Einteilung
werden die bekannten Reformschriften vom jungen Luther
getrennt, dessen Theologie von der des ältern unterschieden zu
werden pflegt. Der Verf. stellt diese im elften Kapitel (120-151) als
„Die Theologie Luthers in ihrer ausgeprägten Gestalt" dar, wobei
es ihm um die Entfaltung der früheren theologischen Aussagen
Luthers geht und nicht um die Gegensätze, die ja auch vorhanden
sind. Einen relativ breiten Raum nimmt die Darstellung der sozialethischen
Lehren Luthers ein, weil sie offensichtlich für die Gegenwart
von besonderem Interesse sind.

Das besprochene Buch reizt durch seine klare und oft thesen-
artige Ausdrucksweise zur Auseinandersetzung - ohne daß sie
hier an allen Punkten durchgeführt werden kann -, besonders
dort, wo die Lutherforschung noch wenige Ergebnisse gebracht
hat. Diese Probleme hat es nicht weitergeführt. Das sollte man
aber von einer Jubiläumsschrift billigerweise auch nicht verlangen.
Ebensowenig ersetzt es eine Darstellung der gesamten Theologie
Luthers, die auf alle historische Bezüge eingeht. Es gibt auch keinen
absoluten Maßstab für das, was aus Luthers Theologie für die
Gegenwart besonders wichtig ist, so daß es auf jeden Fall dargeboten
werden muß bzw. weniger wichtig ist, so daß es weggelassen
werden kann. Es ist aber das Verdienst dieses Buches,
wesentliche Gedanken Luthers unkompliziert dargeboten und
Luthers Bedeutung als Reformator für die gesamte Kirche herausgearbeitet
und am Schluß sogar die Punkte genannt zu haben, in
denen seine Lehre für die ökumenische Bewegung zur Hilfe werden
kann. Wären alle Reformationsfeiem 1967 mit der gleichen
Zielstrebigkeit angepackt und durchgeführt worden, würde ihr
Ertrag für das theologische und kirchliche Leben größer gewesen
sein.

Leipzig Helmar Junghans

Luther-Jahrbuch XXXV, 1968. Jahrbuch der Luther-Gesellschaft
, hrsg. v. F. Lau. Hamburg: Wittig [1968], 176 S. 8°. Lw.
DM 16,-.

Dem Vorwort des Herausgebers nach gibt der erste Beitrag:
Walther von Loewenich: „Paul Althaus als Lutherforscher" (S. 9-47)
dem diesjährigen Jahrbuch sein Gepräge. Nachdem von Loewenich
auf die innere Bezogenheit und Durchdringung von systematischer
Theologie, neutestamentlicher Theologie und Lutherforschung bei
Althaus aufmerksam gemacht hat, skizziert er den theologischen
Werdegang des 1966 verstorbenen Theologen und weist auf die
Bedeutung hin, die Karl Holl für Althaus gehabt hat. Althaus hat
nach von Loewenich keine radikalen Wandlungen durchgemacht
und war „im besten Sinne des Wortes ein ,Vermittlungstheologe"
Den inhaltlichen Ertrag der Lutherforschung von Althaus stellt von
Loewenich vor allem an Hand der „Theologie Martin Luthers"
(Gütersloh 1962) dar, nicht ohne sie mit früheren Veröffentlichungen
Althaus' zu vergleichen. Rechtfertigungslehre, Gegensatz zwischen
theologia crusis und theologia gloriae, Christologie und
Abendmahlslehre, auch die Eschatologie, das Verhältnis zu Paulus,
Ethik und Zwei-Reiche-Lehre sind Brennpunkte von Luthers Theologie
in der Darstellung durch Althaus. Auch die Konfrontation
Luthers mit der Gegenwart kommt nicht zu kurz. Sie wird durch
von Loewenich - gewiß im Sinne von Paul Althaus - weitergeführt
, indem vor allem von der Exegese her kritische Fragen