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Ausgabe:

1969

Spalte:

280-281

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Leff, Gordon

Titel/Untertitel:

Heresy in the later middle ages 1969

Rezensent:

Molnár, Amedeo

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Theologische Literaturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 4

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einen neuen Naturrechtsbegriff ein. Für ihn war das Naturrecht
eine dem Menschen von Natur eingegebene Kraft, die ihn befähigte
, das Gute zu tun und das Böse zu meid*n, also das, was uns
bei den scholastischen Theologen als Synderesis begegnet. - Leider
hat der Verf. die Beziehung zu den Scholastikern nicht untersucht
. - Die Dekretisten nahmen zum grofjen Teil diese Ansicht
auf und stritten sich - genau wie die Theologen -, ob dieses
Naturrecht - bei den Theologen die Synderesis - im Verstand
oder im Willen liege. Der Verf. neigt dazu, diesen Naturrechtsbegriff
Rufins wegen seiner Verbreitung als den eigentlichen ka-
nonistischen zu betrachten (259). Die Dekretisten übernahmen
aber auch die Naturrechtsdefinitionen der Legisten und stellten die
verschiedenen Anschauungen nebeneinander. Die anglo-norman-
nische Schule brachte es 1185/90 bis auf sieben verschiedene
Naturrechtsdefinitionen.

Aus dem Dargebotenen wird deutlich, daß weder die Legisten
noch die Dekretisten sich einig geworden sind, was das Naturrecht
seinem Wesen nach ist. Ebenso schwierig war es, den Inhalt
des Naturrechtes festzustellen, wenn man über eine einfache Umschreibung
wie z. B. die Goldene Regel hinausging. In unserer Zeit
gibt es wieder ein starkes Interesse für das Naturrecht, und zwar
meist im Sinne der sog. Menschenrechte. Der Mensch will wissen,
welche Rechte er von Natur hat, die ihm nicht ohne Rechtsbruch
genommen werden können. Es stellt sich daher die Frage, ob zur
Zeit der Legisten und Dekretisten das Naturrecht sich gegen die
bestehenden Rechtsordnungen durchgesetzt hat.

Für die Legisten war es allgemeine Überzeugung, daß die Sklaverei
mit dem Naturrecht im Widerspruch steht. Daraus zogen
sie aber nicht den Schluß, daß die bestehende Gesellschaftsordnung
zu ändern sei, sondern sie rechtfertigten auf verschiedene Weise,
daß dieses Naturrecht (im Sinne Ulpians) durch das „Völkerrecht"
rechtens außer Kraft gesetzt sei. In gleicher Weise verfuhren die
Dekretisten, die sich von den Legisten nur dadurch unterschieden,
daß sie auf Grund ihrer Quellenlage mehr „Erklärungen" lieferten.
Viele sahen z. B. im Fluche Noahs über Harn (Gn 8,25) die gött- .
liehe Einsetzung der Sklaverei. Einige (so auch Rufin) deuteten die /
naturrechtlichen Freiheit des Menschen in einen Hinweis des Naturrechtes
um, während die Legisten die naturrechtliche Freiheit des
Menschen nicht angezweifelt hatten.

Überhaupt ist der Geltungsbereich des Naturrechtes ein eigenes
Problem. Legisten und Dekretisten waren sich einig, daß das
Naturrecht grundsätzlich immer, überall und vor anderen Gesetzen
gilt und unveränderlich ist. Aber schon die Legisten rechneten
damit, daß einzelne Rechte außer Kraft gesetzt werden könnten,
was von den Dekretisten noch erweitert und auf verschiedene
Weise gerechtfertigt wurde, auch mit der Feststellung, daß das
Naturrecht durch göttliche Eingebung geändert werden könnte.

Und hier stoßen wir auf das Hauptproblem, das das Naturrecht
dem Theologen stellt. Die Schrift berichtet, daß Gott Abraham befahl
, Isaak zu töten, und dem landnehmenden Volk Israel, die
Bewohner Kanaans zu vernichten. Sie bezeugt die Polygamie der
Erzväter und Gottes Gebot für das fliehende Volk Israel, von den
Ägyptern Kostbarkeiten und Kleider mitzunehmen. Zum Teil versuchten
die Dekretisten diese Gebote Gottes im Rahmen des Naturrechtes
zu rechtfertigen. Die Tötung der Kanaaniter war die Strafe
für ihren Götzendienst und die Beraubung der Ägypter der Ausgleich
vorenthaltener Löhnung. Huguccio (gest. 1210) stellte schließlich
grundsätzlich die Frage, ob Gott von den Zehn Geboten, die
als Umschreibung des Naturrechtes galten, dispensieren könnte.
Er beantwortete diese Frage mit einem glatten Ja. Gott kann von
allen Geboten dispensieren, außer von dem ersten. Weigand
schreibt dazu: „Huguccio zeigt sich damit als Voluntarist reinster
Prägung, der den Nominalisten des späten Mittelalters kaum
nachsteht" (439).

Mit dieser Feststellung ist das Problem aber nicht gelöst, sondern
gerade erst anvisiert. Es fragt sich nämlich überhaupt, ob
es ein Naturrecht gibt bzw. wie es beschaffen ist. Weigand hat
sehr deutlich gemacht, daß die Lösungen der Dekretisten vielgestaltiger
waren als die der Legisten, weil sie mehr Quellen
hatten. Er nennt unter den Quellen die Heilige Schrift, aber dabei
nur die Stellen, die positiv für das Naturrecht herangezogen wurden
, im wesentlichen die Goldene Regel und R 2,14-16. Aber zur
Naturrcchtsproblematik gehören auch die oben angeführten Gebete
Gottes, die das Naturrecht außer Kraft setzen. Stoßen bei den

Dekretisten nicht zwei ganz unterschiedliche Weltanschauungen
aufeinander, nämlich eine antike Vorstellung von der Unveränder-
lichkeit und ewigen Geltung des Kosmos, zu dem auch das Naturrecht
gehört, und das biblische Wissen um das geschichtliche Handeln
Gottes? Wenn man verfolgt, wie die Dekretisten sich über
das Wesen des Naturrechtes nicht einig wurden, wie sie die bestehenden
Verhältnisse auch gegen ihre Erkenntnisse aus dein
Naturrecht rechtfertigten und das Naturrecht durchlöcherten, um
die ihm widersprechenden Aussagen der Heiligen Schrift einzuordnen
oder auch dem Papst Rechte gegen das Naturrecht einzuräumen
, gewinnt man den Eindruck, daß ihnen die Synthese
von Antike und Christentum schlechter gelang als manchem
scholastischen Theologen.

Vor allem muß man sich aber davor hüten, die Vertreter des
Naturrechtes von den Voluntaristen zu trennen. Huguccio war
offensichtlich beides. Und auch die vielbcschimpftcn Nominalisten
dachten bei ihrem sog. Voluntarismus nicht an schrankenlose
Willkür, sondern sie wußten, daß Gott innerhalb der von ihm
selbst geschaffenen Ordnung und aus Liebe zu seinen Geschöpfen
handelt. Und das ist eben die Frage, ob im Wesen Gottes ein
Schöpfer der gesamten Natur für einen Christen nicht mehr als
Fundament für den Gegenstand zu finden ist, der unter dem Begriff
Naturrecht abgehandelt zu werden pflegt, als aus einer unklaren
antiken Naturrechtsvorstcllung.

Es ist das Verdienst der vorliegenden Arbeit, über die Naturrechtslehre
der Legisten und Dekretisten sorgfältig zu unterrichten
und dadurch vor jeder schwärmerischen Überschätzung der Bedeutung
des Naturrechtes zumindestens für die untersuchte Zeit zu
warnen - obgleich der Verf. mit seiner Arbeit einen positiven Beitrag
für das Naturrechtsdenken in unserer Zeit anstrebt - und zugleich
an das Naturrcchtsproblcm, das sich angesichts der Heiligen
Schrift stellt, heranzuführen, ohne es allerdings zu erörtern.

Leipzig Hclmar Junghans

L e f f , Gordon: Heresy in the Later Middle Ages. The Relation of
Heterodoxy to Dissent c. 1250-1450. I u. II. Manchester: Manchester
University Press; New York: Barnes & Noble (1967). X,
V, 800 S. gr. 8°. Lw. 90 s.

Die Fülle der in den letzten Jahrzehnten neu erhellten Quellen
zur sog. Ketzergeschichtc des Mittelalters wie auch zahlreiche
Einzeluntersuchungen drängen geradezu in die Richtung einer
neuen synthetischen Gesamtschau, die das bisher unbefriedigend
behandelte Thema „Vorreformation und Reformation" auf richtigere
Bahnen lenken würde. Franz Lau hat die heutige For-
schungslagc charakterisiert: „Nachdem lange Zeit diejenigen nicht
gut angesehen waren, die zuviel Vorreformation sehen wollten, wird
das Problem neuerdings wieder aufgegriffen" (Reformationsgeschichte
Deutschlands, Göttingen 1964, S. 14). G. Leff hat es gewagt
, ein Standardwerk zu schaffen, das das Phänomen der spätmittelalterlichen
Häresie als historisch gesetzmäßigen Übergang
von Hcterodoxie zur Ketzerei zur Darstellung bringt.

In drei Hauptteilen werden die Ketzerströmungen in ihrer Entwicklung
gesichtet entsprechend dem dominierenden Thema, von
dem sie bewegt wurden. Unter dem Stichwort „Armut und Pro-
phetie" wird so die Armutsdiskussion innerhalb des Franziskaner-
tums verfolgt, die endlich in die häretische Haltung der Fraticelli
mündet, indem vorher die joachimitische spiritualistischc Zukunftserwartung
historisierend umgewandelt wurde. Joachim von Fiorc,
Bonaventura, Gcrard von Borgo San Donino, Olivi, Ubertino werden
dabei zur Sprache gebracht. Die mystische Tendenz der „Einigung
mit Gott" charakterisiert die Ketzerei des freien Geistes, die
hier in ihren bunten Erscheinungen erfaßt wird und vom Hintergrund
der intellektualistischen Mystik Eckharts und des ockhami-
stischen Zweifels her gedeutet wird. Das ekklcsiologische Anliegen
der „Wahren Kirche" verbindet die Waldenser über Wyclif und
Lollarden mit dem Hussitcntum. Das einleitende Kapitel des Prologs
faßt eigentlich den Ertrag dieser Untersuchung zusammen.
Verf. ist bestrebt, den geschichtlichen Ort der Häresie im Spät-
mittclalter zu ermitteln. Als Voraussetzung gilt ihm, daß die
Quelle der Häresie nicht im Klassenkampf, sondern in der Span
nung zwischen christlichem Auftrag und der konkreten religiösen
Praxis zu suchen sei. Seit dem 13. bis zum 15. Jahrhundert erweist
sich die Häresie als Ausdruck jener Fragen, vor welche die mit-