Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1969

Spalte:

266

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bjerkelund, Carl J.

Titel/Untertitel:

Parakalô 1969

Rezensent:

Haufe, Günter

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

265

die dritte Möglichkeit: Luther hat sich in der Präfatio weder im
Zeitpunkt noch im Inhalt geirrt; vielmehr wird in den bemerkbaren
Differenzen zwischen Vorlesung und Präfatio jene Entwicklung
deutlich, die Luther selbst bis zu spontaner Erleuchtung
durchgemacht hat, deren Gehalt sich vorher jedoch bereits deutlich
ankündigt. Man muß dabei berücksichtigen, daß begriffliche
Klarheit Ausdruck gedanklicher Klarheit ist. Solange noch in den
Begriffen der Demutsgerechtigkeit, auch wenn sie verwandelt
worden. Glaubensgerechtigkeit ausgedrückt wird, ist eine letzte
begriffliche und gedankliche Klarheit noch nicht erreicht. Erst der
volle existentielle Bezug - das mir gesagte und von mir geglaubte
Wort meiner Rechtfertigung um des Christus willen -
schafft diese Klarheit.

Von besonderer Bedeutung für die Erfassung der Gedanken
Luthers ist Hübners Gesichtspunkt, Luthers Denkstruktur enthalte
eine »crsonale und eine ontische Seite; beide Seiten werden an den
Gegriffen Sünde und Gerechtigkeit aufgezeigt. Der Ausgangspunkt
des Denkens liegt im ontischen Bereich, sein Schwerpunkt jedoch
im personalen Bereich. Die Sünde erscheint ontisch als Abneigung
gegen das Gute und als Hinneigung zum Bösen und darin als
Widerspruch oegen Gottes Willen als eine „seinshafte Verderbtheit
in die tiefsten Schichten menschlicher Existenz" (TSV was ein
Gebrechen der Natur, nicht aber die Natur selbst ist (28-30V Luther
■*t nicht Lehrer eines metaphysischen Dualismus; der Gegensatz,
den er sieht, enthüllt sich als ein voluntaristischer. Luther spricht
vom homo ineurvatus in se. An dieser Stelle liegt für ihn das
^reiheitsnroblem des Menschen. Personal stellt sich die Sünde als
Falsches Verhältnis zwischen Mensch und Gott dar. insofern der
Mensch im Stolz auf seine Leistung sich vor Gott behauptet, wäh-
rend das rechte Verhältnis die Liebe zu Gott Charitas doit wäre.
Hie Predigt der Gerechtigkeit Gottes stellt dem Menschen sein
Sünder-sein roram deo - vor Gott, eine für Luther entscheidende
Dimension, die sich von dem coram hominibus unterscheidet - vor
Augen. Insofern der Mensch Gottes Urteil annimmt, daß er coram
den Sünder ist. dieses Sünder-sein mram deo also zum Wissen in
nobis wird kommt es zur Rechtfertiguno des Menschen. Sie vollzieht
cirh forensisch d.h. im Urteilsspruch Gott**, als Tmnu-
tatio. d h. Gott spricht dem Menschen die Gerechtiakeit des Christus
als seine Gerechtigkeit zu. Der Gedanke der Satisfaktion um
d«renfwi11nn dies oeschieht. oewinnt bei Luther seino Veransrhau-
"ehung im Bilde des Tausches, das in der ..Freiheit oinos Christon-
menschen" zu dem des ..fröhlichen Wechsels" wird. Das ist ein
personaler Vorgang, in dem der Mensch simul instits et poeoator
'st. Dieses personale Geschehen der Rechtfertiguna hat aber auch
s°ine ontische Seite. Der Mensch, der Gottes Freispruch vernommen
hat. beginnt sich in Liebe Gott und dem Guten zuzuwenden
und von der Verkehrtheit seines Seins als Hinneigung zum Bösen
'ich abzuwenden. Tm Bild vom Christus als dem Arzt, der soino
Kranken heilt, vollzieht sich dieses Geschehen, das ein eschatolo-
gischcr Vorgang ist. Denn erst im Tode wird der Mensch vom
Rosen frei und gelangt auch ontisch zu der Gerechtigkeit, die ihm
Personal imputiert ist (vgl. Hübner 108-11^ Mit RMit mprht
Hübner darauf aufmerksam, daß angesichts der Unterscheidung
der beiden Seiten in Luthers Denken der alte Streit um forensische
und effektive Rechtfertigung bei Luther sich als „falsche Frag"
Stellung" erweist (115, dazu 128V Man wird über Hübner hinaus
sagen müssen i Das Wort, das als forensisch-imputioronder Frei-
snruch ergeht, ist wirksames Wort, das am Menschen zu wirken
beginnt, eine eschatologische. d. h. auf die Zukunft geschehende
Wirkung. Es verleiht dem Menschen nicht eine seinshafte Erhöhung
wie in der scholastischen Theologie die Gnade, sondern
wirkt dem voluntaristischen Grundcharakter des Denkens Luthers
entsprechend conformitas voluntatis dei (155-162), die vom Widerspruch
gegen Gottes Willen angefochten bleibt.

Mit Recht macht Hübner darauf aufmerksam, daß Luther im
tiefsten nicht Systematiker, sondern Prediger ist (13). Ist jedoch
das. was Luther unter dem gepredigten Wort versteht, mit der von
Hübner übernommenen Formulierung von A. Brandenburg sachgemäß
ausgedrückt: „Repräsentation der Hcilstat durch das Wort
bei Luther" - oder müßte man nicht von der Realpräsenz des
Hcilbringers Christus im Wort sprechen? Zuletzt: Rom. 5,5 redet
Paulus von der Liebe Gottes zu uns, Luther aber von der Liebe
zu Gott. Rom. 7 scheint uns nicht nur vom Menschen unter dem
Gesetz vor der Gnade zu reden, sondern vom Menschen unter dem

266

Gesetz vor der Gnade vom Standpunkt des Glaubenden aus,- Rom. 7
spricht nicht vom Menschen, wie er sich selbst von sich aus sieht,
sondern wie er seine Vergangenheit jetzt vom Glauben her sieht.
Auf S. 161 muß es 1. Sam. 2,6, nicht 1. Kön. 2,6 heißen: Hübner
zitiert wohl nach LXX. Seine Arbeit ist eine gern begrüßte förderliche
Studie.

Eiscnadi Walter Grundmann

Bjerkelund, Carl J.i Parakalo. Form, Funktion und Sinn der
parakalo-Sätze in den paulinischen Briefen. Oslo: Universitets-
forlaget fl967l. 243 S. gr. 8° = Bibliotheca Theologica Norvegica
, ed. by A. Holter, J. B. Hygen, A. Kragerud, J. Nome, 1. Kart.
Norw. Kr. 48,-.

Diese von N. A. Dahl angeregte Arbeit will eine formgeschichtliche
Untersuchung der sogenannten itaocmotV-Sätze (= p.-Sätze)
in den paulinischen Briefen liefern. B. rechnet dazu in erster
Linie jene Sätze, die mit napawxkS eingeleitet werden, wobei auf
das Verbum die Konjunktion oüv oder 5r, weiter das Objekt i'uSc
sodann ein mit &i& -Genitiv eingeleiteter präpositionaler Ausdruck
und endlich die eigentliche Aufforderung folgen. Eine zweite
Gruppe von Sätzen, die die gleiche typische Konstruktion, aber
ohne ipyo<*h«x8. aufweisen, sowie eine dritte Gruppe von Sätzen,
die trotz anderer Konstruktion mit den beiden ersten Gruppen
vorwandt sind, werden von B. gleichfalls zu der Satzkategorie der
p.-Sätze gerechnet. Insgesamt umfassen dip drei Gruppen innerhalb
der Paulus-Briefe (ohne Past.) 1P Belege. War die bish"rige
Forschung geneigt, die p.-Sätze der Gattung der Paränese zuzuweisen
und ihren Stil als Predigtstil zu bestimmen, so geht es B.
um den Nachweis, daß die Form der p.-Sätze ähnlich wie die Form
der von P.Schubert schon 1039 untersuchten Danksagungssäfve
(BZNW 201 „eine Art Briefstil" (S. 221 ist.

Um Funktion und Inhalt der p.-Sätze in diesem Sinne sachgemäß
zu beurteilen, durchforscht B. die Panvrusbriefe. die Inschriften,
die griechischen wie die iüdischen Schriftsteller und die apostolischen
Väter nach Parallelen. Allgemeines Resultat dieser Durrh-
sicht ist, „daß Aufforderungen von der Art der p.-Sätze haunt
sächlich in brieflichen und diplomatischen, nicht aber in rhetorischen
und paränetischen Zusammenhängen vorkommen" (S. 10OV
Die nächsten Parallelen zu den paulinischen n.-Sätzen finden sich
in einigen hellenistischen Königsbriefen an freie griechische Städte.
Sie verwenden TcepawaM! als „einen würdigen und Urbanen Ausdruck
der Aufforderung, dem alles Befohlende oder Untertänige
fernliegt" IS. 110V Wird schon von diesem Tatbestand her das
briefliche Verständnis der paulinischen p.-Sätze gestützt, so b«
müht sich B. im zweiten Teil seines Buches, diese These dnreh
eine sorgfältige Analyse der p.-Sätze in den einzelnen Paulus-Briefen
zu erhärten und zu erläutern. Das Ergebnis: Die Form der
p.-Sätze ist griechischen Ursprungs; notrymcv' hat in diesen Sätzen
weder befehlenden noch flehenden Charakter, sondern wird im
Sinne der Aufforderung dort gebraucht, wo die Frage der Autorität
des Apostels kein Problem darstellt; der präoositionale Ausdruck
ist als eine Art Beschwörungsformel aufzufassen: p.-Sätze
mit präpositionalem Ausdruck bezeichnen den Obergang zu einem
neuen Briefabschnitt, der nicht unbedingt paränetischer Art sein
muß; die vapmmMS-Struktur ist wie die EÜYnotar"-Struktur als
briefmäßig anzusehen, und zwar auch dort, wo sie zu einem paränetischen
Abschnitt überleitet (Rom. 12: l.Thess. 4t: wo die Ermahnungen
als Konklusionen theoretischer Erörterungen erscheinen
, gebraucht Paulus bei der Oberleitung nicht n«pnwrS . Theologisch
besagt das Ergebnis: die p.-Sätze haben aus der Diskussion
im das Verhältnis von Indikativ und Imperativ auszuscheiden,
.hre Funktion besteht nicht darin, den Obergang vom Evangelium
zur Paränese zu vermitteln, denn ihre Bedeutung liegt „nicht auf der
theologischen, sondern auf der Ebene der persönlichen, brüder
üchen Begegnung" (190V

Durchführung und Ergebnis dieser subtilen Untersuchung bestätigen
einmal mehr die Fruchtbarkeit formgcschichtlicher Fragestellung
. B.'s Grundthese vom briefmäßigen Charakter der p.-Sätze
wäre wohl nur zu erschüttern, wenn sich wahrscheinlich machen
ließe, daß Paulus hier bereits innerhalb einer christlichen Tradition
mündlicher Paraklese steht. B. unterläßt es leider, die form-
gcschichtliche Fragestellung durch die traditionsgeschichtliche zu
ergänzen. Vielleicht kann eine Neuauflage diesen Mangel beheben.

Leipzig Günter Haufe

Theologische Litcraturzeitung 94. Jahrgang 1969 Nr. 4