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Ausgabe:

1968

Spalte:

929-931

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gogarten, Friedrich

Titel/Untertitel:

Luthers Theologie 1968

Rezensent:

Peters, Albrecht

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 12

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»Freiheit"? Wird unser theologisches Denken nicht zu einer
völligen Neuorientierung gezwungen, der gegenüber die Unterschiede
in den früheren Entwürfen der Rechtfertigungslehre als
sekundär erscheinen? Auf diese Fragen einzugehen, war nicht
die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung, aber sie kann weit
über ihre dogmcngcschichtlichc Relevanz zu ihnen anregen. Sie
ist jedenfalls geeignet, im ökumenischen Gespräch der Gegenwart
einen vorzüglichen Platz einzunehmen. Ihr wissenschaftliches
Niveau und ihre theologische Energie verdienen höchste Anerkennung
.

Erlangen Walther v. Loewenich

G o g a r t e n , Friedrich: Luthers Theologie. Tübingen: Mohr 1967.
HI, 250 S. gr. 8°. DM 23,-; Lw. DM 28,-.

Dieses letzte Werk von Friedrich Gogarten gibt dessen Vorlesungen
über Luther wieder; im Unterschied zu den Büchern von
Paul Althaus und Gerhard Ebeling faßt es mehr die Studien eines
Luthcrliebhabers als Forschers zusammen, wie die sporadische
Bezugnahme auf die Forschung bestätigt. Gogarten konzentriert
seine Schau Luthers auf das Paradox, dafj wir, indem wir vor
unserer Ohnmacht und Nichtigkeit erschrecken und diese dennoch
bejahend annehmen, uns darin als von einer gottheitlichcn Übermacht
angenommen und bejaht erfahren. Um diesen „excessus in
Bihilum", um jene „Rückkehr des Menschen in das ,Nichts' und
zugleich seine Herkunft daraus" (S. 147), kreisen heimlich alle
Analysen Gogartens. Dabei breitet er zugleich eine Fülle von
I-utherzitaten vor dem Leser aus, welche einen viel umfassendc-
ren Horizont erkennen lassen. Die hierdurch entstandene Spannung
zwischen den Luthertexten und Gogartens Auswertung charakterisiert
diese Studie.

Gogarten präludiert seine Sicht in den ersten fünf Abschnitten
(S. 11-63). Wie in seinen früheren Veröffentlichungen deutet er
I-uther als den letzten Christen, in welchem der Glaube eine lebendige
Sprache gewann (S. 14), und als den Menschen, welcher
das Tor zur Neuzeit aufstief) und doch für jene eine unassimilier-
barc Verlegenheit blieb (S. 16f ). Im Abschnitt über .Luthers Rin-
9en um die Erkenntnis von Gottes Gerechtigkeit" (S. 35-48) schildert
er Luthers reformatorischen Durchbruch als paradoxes Ineinander
von menschlicher Übernahme des Gottesurteils und göttlichem
Freispruch. Indem wir einstimmen in Gottes Richterspruch
und uns selber verurteilen, geben wir Gott die ihm gebührende
Ehre und erweisen uns darin als solche, die gegen sich selbst auf
Gottes Seite stehen und tcilgewinnen an seiner Gerechtigkeit. Di"
beiden Seiten dieses Paradoxes entfaltet Gogarten mit Hilfe der
sHchworte „Gesetz und Evangelium" (S. 48-63) als „doppelte Bestimmtheit
des Menschen" (S. 59).

In dem umfangreichsten Abschnitt über den „geknechteten Wil
len" (S. 128-171) und im hierauf folgenden zur Prädestination
(S- 171-181) bezieht Gogarten jenes Paradox auf das „Nichts". „Im
Glauben vermag ich mich dieser Nichtigkeit meiner selbst ohne
v°rbehalt auszusetzen, weil sich mir in ihr Gott offenbart" (S. 146).
jährend wir im Ethos das Nichts durch unsere Leistungen zu
überwinden suchen und es doch nur zu verdrängen vermögen,
"ehmen wir es im Glauben an (S. 148f). Jene Anerkenntnis des
N'chts alles Mcnschenstrcbcns im Großen wie unserer eigenen
Nichtigkeit als unserer Schuld im Kleinen eröffnet uns in der
H°ffnung die Zukunft. „Die Gewißheit dieses meines .Nichts'seins
v°r Gott, das ist die Gewißheit der Gnade Gottes. Und indem ich
diescs mein .Nicht'scin bekenne vor ihm. gebe ich Gott, was
G°ttcs ist. Denn in diesem Bekenntnis gebe ich mich ihm ohne
v°rbchalt. so wie er mich für sich fordert, a u f d a ß er sich mir
a|s meinen Gott geben kann" (S. 170).

Gogarten schließt sich in diesen geheimnisvollen Wendungen
dem Lutherverständnis des Neuprotestantismus an, wenn er es
Nth in Kierkegaards und Heideggers Nachfolge gleichsam nihilistisch
verfremdet. Dabei bleibt ein subtiler Synergismus beste-
ncn. welcher sich wie die gesamte Schau mit mehr Recht auf die
SnätnUgustinischc Mystik als auf Luther berufen könnte, wie
Scfion Fichte angedeutet hat, an dessen prägnantes Wort wir er-
'"nern möchten: „In Summa: Alle Heilsordnungen ohne Ausnahme
, außer der einfachen, daß man sich selbst verleugne und
Vcrnichte in jedem Sinne, mögen dieselben nun bestehen in

historischen Erkenntnissen, oder in gewissen, auf dieses Historische
gegründeten Übungen", entspringen dem „antichristlichen Prinzip
der Selbstliebe und Selbstobjektiviierung" und „sind Aufrechterhaltungen
desselben, mithin feindselig dem Christentume, und antichristlich
" (Staatslehre, Werk IV, S. 565).

Gemäß dieser neuprotestantischen Schau sucht Gogarten auch
Luthers Christusverständnis aufzunehmen, dazu setzt er mit Christi
Menschheit ein (S. 63-68), stößt dann über das Werk Jesu und dem
hierauf bezogenen Glauben (S. 68-95) vor zur Gottheit Christi
(S. 96-111). Er beruft sich dazu auf eine knappe Wendung aus den
Operationes in Psalmos: „Christus homo habitus Christum deum
sponte sua adducet" (WA 5,129,10), welche er im Sinne Fichtes und
Schleiermachers, Ritschis und Herrmanns deutet: „Wenn immer
einer sich dem willig aussetzt, was der Mensch Christus aus der
Kraft seines Menschseins an ihm wirkt, dann wird sich ihm eben
dieser Mensch in seiner Gottheit offenbaren" (S. 99). Dabei sieht
Gogarten durchaus, daß diese Interpretation Luthers nur möglich
ist, wenn man sich dabei „die überkommene Zweinaturcnlehre
nicht in die Quere kommen" läßt (S. 101).

Auch die Deutung der Zwei-Reiche-Lehre (S. 181-212) schwächt
ab; deren alttestamentlicher Hintergrund sowie der Bezug auf die
Trindtät bleibt ausgeblendet. Bei der Kirche (S. 213-227) trennt Gogarten
zwischen der inneren Geistkirche und dem äußeren Kir-
chentum; das öffentliche Amt erscheint primär als Ausfluß des allgemeinen
Priestertums, seine Stiftung durch Christus klingt an.
wird jedoch nicht ausgewertet (S. 222ff.). Die Diskrepanz zwischen
den aufgenommenen Zitaten und deren Deutung zeigt sich vor
allem im Abschnitt über das Abendmahl (S. 111-127). Gogarten zitiert
hier selbst die anstößigen Stellen aus „Daß diese Wort. . . noch
fest stehen", in denen Luther die altkirchlichen Einsichten zum
Pharmakon athanasias positiv aufgreift (S. 126f.), ohne sie jedoch
in sein Lutherverständnis einzufügen. Der Schlußabschnitt zu
Lutgers Lehre von der Schrift (S. 228-250) zeigt fein, wie der Reformator
nicht einem naiven Biblizismus verhaftet ist (S. 247ff),
wie man dies nach der Einleitung (S. 9f.) vielleicht vermuten
könnte. Als Schrifttheologe lese Luther die Bibel nicht wie ein
Gesetzbuch, sondern als Niederschlag der viva vox Evangelii und
könne uns in seinem anhaltenden Ringen um eine christozen-
trische Auslegung Hilfe und Vorbild werden.

Wenn der Rezensent sich fragt, worin die Bedeutung und das
Eigengewicht dieser letzten Veröffentlichung Gogartens liegen,
so überwiegen die negativen Aspekte:

1. Gogartens eigene Einsichten sind in seinen früheren Schriften
prägnanter ausgesprochen; vielfach wird man dieses Buch nur
verstehen, wenn man sie gegenwärtig hat.

2. Auch Gogartens eigenwillige Schau Luthers ist wohl klarer
im III. Buch seines grundlegenden Werkes: Die Verkündigung
Tesu Christi entfaltet, welches erst 1965 neu veröffentlicht wurde;
erinnert sei ferner an das 3. Kap. über „Gesetz und Evangelium
bei Luther" in dem Werk: Der Mensch zwischen Gott und Welt.

3. Zur wissenschaftlichen Analyse der Theologie Luthers reicht
diese Vorlesung nicht aus. Der neuprotestantischc Ansatz bei
Fichte ist zu offenkundig. Die futurische Eschatologie ist völlig
abgeblendet, die trinitarische Weite sowie der Bezug auf die
Schöpfung und die konkrete Geschichte deuten sich zaghaft an.
Die Christologie klammert die Inkarnation, die Auferstehung, die
kosmische Herrschaft und die Wiederkunft Christi aus; der Heilige
Geist als Spiritus Creator sowohl im geistlichen als auch im
weltlichen Regiment Gottes ist kaum ins Blickfeld getreten. Auch
die Lehre von den beiden Regimentcn, von der Kirche sowie von
den vier Stiftungen des geistlichen Regimentes (Predigt des Evangeliums
, Taufe, Schlüsselamt, Abendmahl), dieses alles wird nur
gestreift. Die Ergebnisse der Forschung nach dem zweiten Weltkrieg
sind nicht aufgenommen.

4. Zudem verbleibt eine sonderbare Diskrepanz zwischen dem
Zitierten und dem Rezipierten und Verarbeiteten; einem verstän
digen Leser sind hierdurch die Texte an die Hand gegeben, mit
deren Hilfe er die Auslegung zurechtrücken kann.

5. Die treffenden Lutherzitate und -belege, welche leider nicht
immer nachgewiesen sind (so müßte etwa auf S. 55 WA 101',.508
nachgetragen werden), empfehlen das Buch als eine erste Einführung
in Luthers Theologie. Gogartens engagierter Versuch, dem
durch den neuzeitlichen Nihilismus geprägten Menschen Luthers