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Ausgabe:

1968

Spalte:

856

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kisch, Guido

Titel/Untertitel:

Melanchthons Rechts- und Soziallehre 1968

Rezensent:

Kohls, Ernst-Wilhelm

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Makrokosmos des katholischen Liberalismus spiegeln sollte, hat
als Augustiner mit den führenden Geistern des italienischen
„Evangclism" enge Berührung gehabt, so etwa mit Contarini, dessen
vermittelnde Funktion sehr hervorgehoben wird. Er vertrat
das sola fide, allerdings nicht zuerst deshalb, weil es eine Formel
lutherischer Reformation, sondern weil es eine Erkenntnis wichtiger
Vertreter der Tradition war. Contarinis Traum war die
„inward reconciliation" (S. 14) mit den protestantischen Schismatikern
. Als der Rechtfertigungslehre zugeneigt schildert McNair
auch Bernardino Ochini, der Vermiglis Weg mehrfach gekreuzt hat.
Als Ochino in diesem Sinne in Neapel predigte, war der „Evan-
gelism" geboren. Starke Anstöße dazu gab auch der Laienprediger
Juan de Valdes, der vor seiner neapolitanischen Zeit (1536) Eras-
mianer war. Valdes' Schriften lassen einen Geist erkennen, der
weder Katholizismus noch Protestantismus, weder Erasmianismus
noch Erleuchtung („Illuminism", S. 41) ist, aber Elemente von allen
vier Faktoren enthält. (Der Leser fragt sich natürlich, wie er eine
solche vom Verfasser behauptete Begriffs- und damit Sachhäufung
theologisch approbabel rubrizieren und dann verstehen soll.) Eine
Probe der Rechtfertigungsauffassung bei Valdes in und zwischen
den genannten Faktoren gibt der Verfasser leider nicht. Immerhin
ist Valdes mit seiner Lehre von Einfluß auf Vermigli gewesen.
Die in Italien verbreitete Literatur über die Glaubensgerechtigkeit,
so meint McNair, hat Rom mehr geschadet als der Sacco di Roma.
Er erwähnt besonders den Trattato eines Benediktinermönchs, der
die Gedanken seines Meisters Valdes im Sinne des „sola fide ex
merito Christi imputativo" (S. 43) enthalten haben soll. Valdes
war Paulinist, er hat den Römerbrief gelesen und war nicht einfach
Lutheraner oder Erasmianer. Die tiefste und wirkungsvollste
Abhängigkeit in diesem Traktat weist auf die Schriften Calvins,
genauer: auf seine Institutio. 1536 hat Valdes begonnen, Calvin,
Bucer, Luther und Zwingli zu studieren.

In diesem theologisch derart gefüllten Raum findet McNair
Vermigli vor. Auch er war Humanist, bevor er Calvinist wurde
(S. 123).

Die Wahl zum Prior des Konvents in Lucca (1541) eröffnete
neue Möglichkeiten. Hier waren durch Kaufleute, die im Norden
gereist waren, lutherische Schriften verbreitet. Vermigli begnügte
sich nicht mehr mit der Predigt gegen die schlechte Moral der
Stadtgeistlichkeit. Sein Kloster St. Frediano wurde das erste und
letzte der Reform zugewandte theologische College im vortriden-
tinischen Italien. Es war eine Miniaturuniversität, und Vermigli
war ihr Rektor. Als er 1542 sein Amt verlieft, hatte er vielen seiner
Kanoniker die Gedanken Calvins, Zwingiis, Melanchthons und
Bucers vermittelt (S. 230 f.). Wenn er über Contarini und andere
Reformer hinausging, dann lag das daran, daß er sich schließlich
zu einer anderen Haltung zur kirchlichen, d. h. römischen Autorität
durchrang.

Die Sommermonate 1542 gehören für Vermigli und für die
Sache der Reform in Italien zu den notvollsten Episoden. Die Rücksichtnahme
auf die Tradition seiner Kirche und ihre Autorität hielt
Vermigli noch zurück von evangelischen Abendmahlsfeiern. Er
befand sich in dem verwerflichen Stand der Heuchelei, die er
länger durchzuhalten nicht mehr bereit war. Als schließlich ein
Vikar der Augustinereremiten, Fra Girolamo, nur wegen Lehrabweichungen
eingekerkert worden war und außerdem eine „monumental
indiscretion" (S. 259) eines Kollegen, die die Inquisition
für Lucca heraufbeschwor, geschehen war, verließ Vermigli seine
Kanzel. Er stand vor folgendem Dilemma (S. 264): „. . . either he
must deny the truth from the pulpit, or the pulpit would be
denied to him."

Die folgenschwerste Entscheidung seines Lebens ist jedoch nicht
zuzurechnen der drohenden Inquisition, nicht dem Frontwechsel
der Senatoren Luccas, nicht dem Arrest Fra Girolamos, nicht der
Indiskretion eines Kollegen, nicht der drohenden Suspension von
der Kanzel, nicht dem Murren seiner Mönche, nicht den Vorladungen
durch seine Feinde oder den Warnungen der Freunde.
Das waren Teilfaktoren. Die entscheidende Schlacht, so urteilt
McNair, wurde geschlagen und gewonnen in Vermiglis Gewissen.
Er konnte nicht das leben, was er glaubte. Er war zu der Ansicht
gekommen, „that Catholicism was wrong and Protestantism right"
(S. 267). An diesem Satz zeigt sich, daß der Verfasser zu unscharfen
und verallgemeinernden Urteilen neigt. Gerade seine eigenen Dif-

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ferenzierungen müßten ihn von dem unkritischen Gegenüberstellen
von Katholizismus und Protestantismus zurückhalten. Beide
Größen haben eine erhebliche, in der wissenschaftlichen Begriffsbildung
ernstzunehmende Variationsbreite. Luthers Urteile über
Zwingli sind nur ein Beispiel dafür, wie komplex der Begriff
reformatorischer Theologie ist.

Es ist sehr dankenswert, daß McNair den bisher äußerst spärlich
beleuchteten Raum des italienischen Reformismus durch seine
Teilbiographie Vermiglis erhellt hat. Wenn er manche Angaben
zur theologischen Profilierung der geschilderten Reformer schuldig
bleibt, muß das zu einem Teil auch durch den faktischen Quellenmangel
begründet gesehen werden.

Berlin-Biesdorf Joachim R o g g e

K i s c h , Guido: Melanchthons Rechts- und Soziallehre. Berlin:
de Gruyter 1967. 307 S., 5 Taf. gr. 8°. Lw. DM 48,-.

Der Basler Rechtshistoriker, der seine Untersuchungen zur
Rechtsgeschichte des 16. Jahrhunderts monographisch mit seinem
Werk „Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit" (Basel 1960)
eröffnet hat, setzt dieses wissenschaftliche Vorhaben nun mit der
vorliegenden Studie über Melanchthon fort.

Gerade Melanchthon ist in der bisherigen Melanchthon-Literatur
nur ganz am Rande unter rechtsgeschichtlichem Aspekt betrachtet
worden (vgl. den einleitenden Forschungsüberblick, S. 19 ff.), obgleich
doch sein reformatorisches und organisatorisches Wirken
mit diesem Bereich ständig unmittelbar verknüpft gewesen ist.

Diese letztgenannte Tatsache unterstreicht der Verfasser im
2. Kapitel des ersten Teiles seiner Untersuchung (S. 44 ff.) und
analysiert insbesondere die zahlreichen persönlichen Beziehungen
Melanchthons zu zeitgenössischen Juristen, die Melanchthon einerseits
zum Teil beeinflußt hat oder von denen er andererseits selbst
in seiner Rechtslehre beeinflußt worden ist, wie das durch den
aus St. Gallen stammenden Wittenberger Juraprofessor Hieronymus
Schürpf (1481-1554) speziell der Fall gewesen ist (3. Kapitel,
S. 50 ff.).

Der zweite Teil der Untersuchung ist der eigentlichen Sachproblematik
gewidmet.

Die Anfänge der Rechtsanschauung Melanchthons lassen bereits
in seinen verschiedenen juristischen Declamationes und Orationes
die Herausstellung des divinitorischen Charakters etwa des Naturrechts
deutlich erkennen (S. 80 ff.), eine Auffassung, die Melanchthon
früh auf Recht und Staat als grundsätzliche göttliche Ordnung
ausdehnt (S. 91 ff.). Die Abkehr vom mosaischen Recht
(S. 102 ff.) und die - zutreffend sicherlich unter Schürpfs Einfluß -
zunehmende Hinneigung Melanchthons zum römischen (und kanonischen
) Recht (S. 116 ff.) stellt einen interessanten Wendepunkt
innerhalb der Melanchthonischen Rechtslehre dar - vergleichbar
seinen Wandlungen und Wendungen auf theologischem Gebiet.

Nicht minder aufschlußreich ist innerhalb der Rechtslehre
Melanchthons die Auffassung des römischen Rechtes (S. 131 ff.)
selbst und vor allem die Auffassung des Epieikeia- und Aequitas-
begriffes (S. 168 ff.). Der Verfasser konstatiert in beiden Bereichen
bei Melanchthon eine weitgehend moralisch und auch biblizi-
stisch umdeutende Interpretation. Die Frage der Vorbilder der
Rechtsanschauungen Melanchthons hat der Verfasser künftigen
Forschungen vorbehalten. Die Namen von Gerson und Thomas,
aber auch von Budaeus und Cantiuncula werden in diesem Zusammenhang
schon angeführt (S. 184).

Innerhalb der ausführlichen Literaturverarbeitung vermißt man
die einschlägigen Untersuchungen von Ernst Troeltsch, Vernunft
und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon,
Göttingen 1891; Der s., Die Soziallehren der christlichen Kirchen
und Gruppen (Ges. Schriften, Bd. I), Tübingen 1912, Neudruck
1965; auch Friedrich H ü b n e r, Natürliche Theologie und theo-
kratische Schwärmerei bei Melanchthon, Gütersloh 1935.

Insgesamt hat der Verfasser mit der vorliegenden Untersuchung
einen der wesentlichsten Bereiche der geistesgeschichtlichen Bedeutung
Melanchthons analysiert, zudem seine Studien durch den
Quellenabdruck der wichtigsten einschlägigen Äußerungen Melanchthons
bereichert (S. 185-298), was der Benutzer zusammen mit
den beiden Registern dankbar begrüßen wird.

Marburg Ernst-Wilhelm Kohls

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 11