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Ausgabe:

1968

Spalte:

850-851

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gebhardt, Georg

Titel/Untertitel:

Die Stellung des Erasmus von Rotterdam zur römischen Kirche 1968

Rezensent:

Moeller, Bernd

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 11

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seinem um 1375 geschriebenen Traktat „De fide et ecclesia" und der
auf ca. 1489 zu datierende Briefwechsel zwischen dem ebenfalls aus
der Pariser Universität hervorgegangenen, dann in Holland wirkenden
Jakob Hoeck (f 1509) mit seinem schon bisher als theologischen
Vorläufer der Reformation gewerteten Landsmann Wessel
Gansfort (f 1489). Das Kapitel über Rechtfertigung und Prädestination
stellt vier Theologen einander gegenüber: den in Oxford
und Cambridge lehrenden und als Prediger gerühmten Dominikaner
Robert Holcot (f 1349) mit seinem Kommentar zur Sapientia
Salamonis und den als Erneuerer des Augustinismus bekannten, als
Erzbischof von Canterbury ebenfalls 1349 verstorbenen Thomas
Bradwardina, dem Oberman 1958 ein eigenes Buch gewidmet hat,
mit seiner Schrift gegen Pelagius, weiter den Occamisten Gabriel
Biel (■{• 1495) mit einer um 1460 in Mainz gehaltenen Neujahrspredigt
und Luthers Ordensoberen, Lehrer und Freund Johann von
Staupitz (f 1524) mit seinem 1517 gedruckten „Tractatus de execu-
tione aeternae praedestinationis", der Luther stark beeinflußt hat.
Bezüglich des spätmittelalterlichen Kirchenbegriffes kommen der
tschechische Vorreformator Jan Hus (f 1414) mit seinem von der
neueren Forschung bekanntlich wieder positiver gewerteten „Tractatus
de ecclesia" zu Wort und die - wie Oberman zeigt - dem
Konziliarismus weniger geplant denn aus momentaner kirchenpolitischer
Notlage den Garaus bereitende Bulle „Execrabilis" des
Papstes Pius II. vom Jahre 1460. Zur Erklärung der Eucharistielehre
am Vorabend der Reformation werden ein Traktat über die
Messe des späteren Kardinals Cajetan (f 1534) aus dem Jahre 1510,
eine Quaestio aus dem Jahre 1503 veröffentlichten Sermonenbuch
„Aurea rosa" des ebenfalls aus dem Prozeß Luthers bekannten
römischen Kurialen Silvester Mazzolini Prierias (f 1523) und ein
vielleicht an Luther gerichteter und von Zwingli 1525 publizierter
Brief des von Wessel Gansfort beeinflußten Holländers Cornelius
Hendrikson Hoen (f 1524) aus dem Jahre 1521 herangezogen.
Endlich wird an 1522 veröffentlichten Bibelkommentaren des französischen
Humanisten Jacques Lefevre d'Etaples (f 1536) und an
des Erasmus von Rotterdam (f 1536) Vorrede zu dem von ihm
1505 besorgten Druck der Annotationes zum Neuen Testament des
Lorenzo di Valla über Fragen der Exegese, des sensus litteralis
oder spiritualis gehandelt.

Wie man sieht, umfaßt das Betrachtungsfeld rund zwei Jahrhunderte
und reicht vom Spätmittelalter bis in die frühe Neuzeit
und über das usuell angenommene Anfangsdatum der Reformation
hinaus. Die behandelten Theologen waren nicht immer Zeitgenossen
und auch nur zum Teil echte Dialogpartner. Man vermißt unter
ihnen Persönlichkeiten, die bisher üblicherweise zu den Vorreformatoren
und Vorläufern der Reformation gezählt wurden, wie
etwa Valdes, John Wyclif und Girolamo Savonarola oder Johann
Pupper von Goch und Johann Ruchrat von Wesel. Auf sie wird
aber wenigstens zum Teil in den einleitenden Abschnitten verwiesen
. Wenn man im Hinblick auf diese Männer, aber auch sonst
hier und dort als Leser des Obermanschen Buches vor der Frage
steht, ob überall die instruktivsten Beispiele für die zu charakterisierende
theologische Diskussion gewählt wurden beziehungsweise
nicht auch andere zumindest möglich gewesen wären, so
muß man doch die Entscheidung des Autors respektieren, der wohl
als der beste Kenner der spätmittelalterlichen Theologiegeschichte
gelten darf und zweifelsohne aus seiner hervorragenden Kenntnis
der Materie ein interessantes und imponierendes Zeitbild entworfen
hat. Oberman wendet sich mit seinem Werk nicht an Spezialisten
, sondern an ein weiteres an dergleichen Fragen interessiertes
und sie studieren wollendes Publikum. Gleichwohl sind sowohl
die abgedruckten Texte als auch die jedes Kapitel einleitenden
Darlegungen und erst recht der 50 Seiten zählende erste einführende
Abschnitt ausreichend auch mit Hinweisen auf die am Ende
des Buches auch bibliographisch zusammengefaßte Spezialliteratur
und Quellen kommentiert. Um der Studenten willen, denen doch
wohl einige Lateinkenntnisse zuzutrauen wären, und wegen der
Verwendbarkeit des Buches im Lehrbetrieb der Universitäten und
Colleges mag freilich bedauert werden, daß der lateinische Originaltext
aus den größtenteils nicht leicht erreichbaren Editionen
nicht der englischen Übersetzung der Quellen wenigstens im
Paralleldruck beigegeben wurde. Der Rezensent wagt zur Übersetzung
kein Urteil und muß es sich auch versagen, zu einzelnen
Punkten der historischen Ausführungen Obermans Stellung zu

nehmen. Ihm erscheint die Feststellung wichtiger, daß vom Autor
eine wichtige, der Lösung harrende Frage aufgeworfen und mit
einer klaren These beantwortet wurde, die erörtert werden sollte.
Dazu wollte auch diese Anzeige anregen und einen bescheidenen
Beitrag liefern.

Saarbrücken Harald Zimmermann

Gebhardt, Georg, Dr. phil.: Die Stellung des Erasmus von
Rotterdam zur römischen Kirche. Marburg/L.: Edel [1966]. II,
440 S. 8°. DM 28,-.

Diese Arbeit, eine historische Dissertation der Universität-Frankfurt
(Otto Voßler), sucht den Nachweis zu führen, daß Erasmus
ein „orthodoxer Katholik", ein „treuer Sohn seiner Kirche" gewesen
sei. Der Verfasser schließt sich damit an eine in der Erasmusforschung
der letzten Jahrzehnte vorherrschende Überzeugung an,
übertrifft allerdings mit der Eindeutigkeit seines Ergebnisses alle
seine Vorgänger, von dem großen Liberalen Jan Huizinga bis zu
dem Katholiken Rudolf Padberg. Er hat „die Erasmianischen Gedanken
stets vor dem Richtstuhl der Kirchentradition auf Orthodoxie
und Häresie geprüft" (26), und es bleibt nach längerer oder
kürzerer, einfacher oder gewundener Erörterung kein „Verdacht",
kein „Bedenken" gegen den Humanistenfürsten zurück, keines der
heiklen Themen, die je zur Debatte gestanden haben - Trinitäts-
lehre, Beichte, Scholastik, Heiligenverehrung, Mönchtum, Papsttum
, Priesterweihe, Transsubstantiation, Zölibat -, bleibt im Zwielicht
, und in der Regel wird die dogmatische Unbedenklichkeit des
Erasmus bis zu Lehräußerungen der Gegenwart hin verfolgt -
nur im Fall der Stellung zur Unfehlbarkeit des Papstes muß zugestanden
werden, daß der Humanist vor dem Dogma von 1870
nicht bestehen könnte; aber in diesem Fall entschuldigt ihn sein
Frühergeborensein.

Der Rezensent gesteht, daß er mit dem Verfasser in der Grundüberzeugung
übereinstimmt; wäre das nicht der Fall, so würde
ihn die Lektüre dieses Buches wohl in ernste Zweifel gestürzt
haben. Die Arbeit ist in penetranter Weise apologetisch gestimmt
und ausgerichtet. Die Eindeutigkeit des Resultats wird erreicht
durch beträchtliche theologische und historische Unzulänglichkeiten
der Beweisführung. Die theologiegeschichtlichen Ausblicke, mit
deren Hilfe der Traditionsbeweis geführt wird, stützen sich jeweils
auf Handbücher sowie in einzelnen Fällen auf zufällig dazu-
gezogene Einzelliteratur; die besten oder gar alle Arbeiten zu
einem Thema sind nirgends studiert und entsprechend undifferenziert
, ja zum Teil, wie vor allem im Fall des Papstkapitels, auch
fehlgeleitet und unrichtig sind die Darlegungen des Verfassers.
Seine Kräfte waren in dieser Hinsicht wohl überfordert, zumal er,
was er im Vorwort zu bedenken gibt und was in der Tat in der
Arbeit nicht ganz selten durchscheint, selbst nicht Theologe ist.
Freilich muß man meines Erachtens im Blick auf die historischen
Aspekte der Arbeit noch dringlichere Fragen stellen.
Die Art und Weise, in der Erasmus abgefragt wird, kann man
nur als ungeschichtlich bezeichnen. Der Verfasser glaubt wahrzunehmen
, daß von der Zeit an, in der die Theologie bei dem
Rotterdamer zentrale Bedeutung gewann, also von etwa 1514 an,
dessen Meinungen wesentlich unverändert geblieben seien - daß
die Reihe der im engeren Sinn theologischen Werke erst so spät
beginnt, geht darauf zurück, daß Erasmus sich vorher „noch nicht
genügend vorbereitet" fühlte, doch wuchs in ihm vorher schon
der Drang zur Theologie und zur Kirchlichkeit wie ein „Strom,
welcher - immer stärker anschwellend - schließlich die Dämme
bricht", und immerhin erfolgte diese Wendung früh genug, um
den „Erasmusverteidiger" zu der „freudig überraschten" Beobachtung
zu bringen, daß Luthers Auftreten für sie keine Rolle gespielt
habe (28 ff.). Aber da häufen sich nun die Probleme: Daß Erasmus
von 1514 bis 1536 nahezu ohne Schwanken gleich gelehrt habe,
ist eine unhaltbare und auch in der Literatur längst widerlegte
Prämisse, der Verfasser jedoch rechnet in der Weise mit ihr, daß
er seine Zitate weithin ohne jeden Blick auf die zeitlichen Gegebenheiten
wählt, aufeinandertürmt, eines, das in seinem Sinn mißverständlich
ist, durch ein anderes interpretiert usw. Jede theologische
Äußerung des Erasmus gilt als Teil eines Lehrgefüges, alle feineren
Nuancen, Entwicklungen, Akzentuierungen, Specifica werden im
Eifer des Rechtgläubigkeitsbeweises verschliffen, andere Motive