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Ausgabe:

1968

Spalte:

830-831

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Steck, Odil Hannes

Titel/Untertitel:

Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten 1968

Rezensent:

Osswald, Eva

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durch den Priester Esra in die Schranken gewiesen (S. 96). Die
Wirksamkeit Nehemias gefiel dem Chronisten nicht. Nehemia
wurde in das chronistische Bild der Perserkönige eingezwängt. Die
Könige und deren Vertreter hatten die materielle Existenz der Kultgemeinde
zu ermöglichen und sie von der Politik freizuhalten. Die
Kultgemeinde ihrerseits verzichtete auf jede politische Aktivität und
wünschte ihrer Frömmigkeit zu leben. Nach Anschauung des Chronisten
hatte Nehemia diese Grenzziehung durchbrochen, so hat er
es als Zionist gesehen, nach Kellermanns Anschauung. Im Phänomen
des Zionismus sieht er den letzten Grund, der den Chronisten
zu einer durchgreifenden Korrektur des Nehemiabildes veranlaßt.

Nach Kellermann ist die Serubbabelinterpretation des Chronisten
ein Parallelfall zu seiner Nehemiainterpretation. Der Chronist
macht den Messiasprätendenten und zionistischen Vorkämpfer Se-
rubbabel zu einem Priester, aber aus dem Reformer Nehemia wird
ein rein politischer Statthalter. Eine Vermischung beider Bereiche
war nicht zulässig. Kellermann findet die Ursache der verschiedenen
Behandlung der beiden Gestalten in der größeren historischen
Bedeutung Serubbabels.

Der nachchronistische Redaktor sieht es aber anders als der
Chronist. Nach seiner Sicht bilden David, Esra und Nehemia die
Fundamente der Jerusalemer Kultgemeinde. Nach Kellermanns Ansicht
wie der anderer Forscher war er ein Levit des ausgehenden
2. Jahrhunderts v. Chr., dessen Sympathien den hasmonäischen
Hohenpriestern und Königen galt. Der Redaktor erreicht eine klare
Aufwertung der Gestalt und des Werkes Nehemias. Mit Esra zusammen
bildet er den Antityp zum Werke Davids, und Kellermann
sieht darin eine bewußte Korrektur des chronistischen Bildes.

So ist die Nehemiaüberlieferung einen langen Weg gewandert.
Am Anfang stand Nehemias Appellationsschrift an Gott, die Nehemia
-Quelle selbst, kein historisches Protokoll, sondern eine tendenziöse
Berichterstattung. Der Chronist nahm die Nehemia-Quelle in
seine Geschichte der Jerusalemer Theokratie auf. An der Gestalt
und dem Werk Nehemias brachte er aber seine Korrekturen an und
paralysierte dessen Bedeutung für die Kultgemeinde durch die Gestalt
des Schriftgelehrten Esra, die den Statthalter in seine Schranken
weisen sollte.

Andere Interpretationen der Nehemiagestalt folgten aber, z. B.
die apokryphe Nehemia-Quelle, die aus II. Makk. 1:10-2:18 erschlossen
werden kann. Der letztgenannte Abschnitt des Et. Makka-
bäerbuches zeigt auch mit Sir 49:13, daß man im 2. Jahrhundert
v. Chr. vielleicht von einer makkabäisch-hasmonäischen Nehemia-
renaissance sprechen kann. Zu dieser Zeit ist auch die Redaktion
des chronistischen Werkes durch einen prohasmonäischen Leviten
geschehen. Das III. Esrabuch dagegen ist mehr chronistisch als der
Chronist selbst. In der Geschichte der Kultgemeinde hat Nehemia
als ein unbedeutender, vermutlich als ein Zeitgenosse Serubbabels
und als persischer Kommissar keinen Platz mehr.

Nach dieser literarischen und überlieferungsgeschichtlichen Untersuchung
der Nehemiaquelle und der Nehemiagestalt diskutiert
Kellermann in den drei letzten Kapiteln seines Buches die historischen
Probleme der Nehemiageschichte, die geschichtliche Rolle
Nehemias in der Auseinandersetzung zwischen zionistischem und
theokratischem Israel, und die Geschichte Nehemias.

Nach Kellermanns Auffassung (und Neh. 6:6f.) besteht kein
Zweifel, daß Nehemia aus einem alten judäischen Fürstengeschlecht
und wahrscheinlich aus einer Seitenlinie des alten Davidhauses
stammte. Mit dieser Hypothese meint Kellermann viele dunkle
Stellen in der Nehemiageschichte aufhellen zu können. Hinter Nehemia
stand eine gesetzeseifrige, zionistische Minorität, die durch
den Wiederaufbau der Stadtmauern und die politische Abtrennung
von Samaria ein judäisches Staatswesen schaffen wollte. In der Geschichte
Nehemias kam so der schon immer schwelende Kampf zwischen
zionistischem und theokratischem Israel um die politische
Lebensform der nachexilischen Gemeinde offen zum Austrag.

Über das Schicksal Nehemias hat Kellermann auch seine Meinung
. Sein Werk scheiterte in tragischer Weise an der Überspanntheit
seiner eigenen Partei und am Widerstand der theokratischen
Führungsschicht gegen die politische Bevormundung durch die Diaspora
. Man muß damit rechnen, daß Nehemia das Opfer der Auseinandersetzungen
zwischen Zionismus und Theokratie geworden
ist. Am Ende konnte es der theokratischen Gegenpartei und den
Gegnern in Samaria nicht schwerfallen, den unbequemen Rivalen
des Hohenpriesters in Jerusalem loszuwerden.

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Der einzige Beleg Kellermanns für diese Hypothese liegt in der
Mitteilung, daß Nehemias Statthalterschaft nach zwölf Jahren ein
Ende nahm (Neh. 5:14). Sonst baut er auf seine eigenen Theorien.

Das Buch hat nützliche Register und eine gute Auswahl von Ne-
hemia-Literatur im Literaturverzeichnis.

In der zukünftigen Diskussion über Nehemia muß und wird
Kellermanns Buch in Betracht gezogen werden.

Oslo Arvid S. Kapelrud

Steck, Odil Hannes: Israel und das gewaltsame Geschick der
Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuterono-
mistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum
und Urchristentum. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag d.
Erziehungsvereins 1967. 380 S. gr. 8° = Wissenschaftl. Monographien
zum Alten u. Neuen Testament, hrsg. v. G. Bornkamm u.
G. v. Rad, 23. Kart. DM 39,80; Lw. DM 41,80.

Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine Dissertation
, die im Sommer 1965 von der Theologischen Fakultät der
Universität Heidelberg angenommen wurde (Referat: Prof. D. G.
Bornkamm, Korreferat: Prof. D. G. v. Rad). Für den Druck sind nur
unwesentliche Veränderungen vorgenommen worden.

Die Aufgabe des Verfassers besteht darin, Entstehung, Überlieferung
und Verwendung der historisch nicht gedeckten, generellen
Vorstellung vom gewaltsamen Geschick der Propheten Israels,
die sich häufig in ur- und frühchristlichen Texten findet (Belege
S. 15, Anm. 1), zu untersuchen. Dabei benutzt er die traditions-,
genauer vorstellungsgeschichtliche Methode, wobei auch Textkritik,
Literarkritik, Formgeschichte und Redaktionsgeschichte mit herangezogen
werden.

Den vier Hauptteilen, in die drei Exkurse eingeschaltet sind,
hat der Verfasser Voruntersuchungen vorangestellt, in denen er in
sehr gründlicher Weise einige schwierige Synoptikerstellen analysiert
, wobei er zu dem für den weiteren Gang der Untersuchung
wichtigen Ergebnis kommt, daß Luk. 11, 49ff. und Luk. 13, 34f., wo
die Vorstellung vom gewaltsamen Geschick der Propheten begegnet,
auf Grund spätjüdischer Traditionsstücke gestaltet worden sind.

Der erste Hauptteil handelt von der Ausbildung dieser Vorstellung
in der deuteronomistischen Tradition. Dabei geht der Verfasser
von Neh. 9, 26 aus, wo erstmals pauschal von der Tötung der
Propheten, die Israel zur Umkehr ermahnten, gesprochen wird, und
zwar im Rahmen des deuteronomistischen Geschichtsbildes (dtrGB).
Nach seiner Ansicht beruht Neh. 9, 26 auf der generellen deuteronomistischen
Prophetenaussage (dtrPA), die allerdings im deuteronomistischen
Geschichtswerk nur einmal in 2. Kö. 17, 7-20 vorkommt
. Von einem generell gewaltsamen Geschick ist freilich in
2. Kö. 17,13f. nicht die Rede. Die dtrPA hat jedoch in der dtr
Quelle C des Jeremiabuches, im Sacharjabuch und in 2. Chron. 36,
14-16 Weiterbildungen erfahren. Somit ergibt sich, daß sich die
Vorstellung vom gewaltsamen Geschick der Propheten erst allmählich
herausbildete, „um die die Katastrophe(n des Nordreichs und)
Judas bewirkende stete Halsstarrigkeit des vorexilischen Israel
rückschließend auch im Blick auf die Propheten selbst umfassend
auszusagen" (S. 80). Sie entspringt also theologischem, nicht biographischem
Interesse.

Im zweiten Hauptteil geht es um die Überlieferungsgestalt der
dtrPA bei Josephus in der rabbinischen und in der urchristlichen
Tradition, die, wie eine genaue Untersuchung der Formulierungsstruktur
und des Wortfeldes zeigt, nicht nur literarisch vom AT beeinflußt
, sondern durch lebendige Überlieferung geprägt ist. Das
Urchristentum hat die im Spätjudentum offensichtlich sehr verbreitete
Vorstellung übernommen. Anhangsweise geht der Verfasser
auch auf die Überlieferungsgestalt der dtrPA im Koran ein.

Der dritte Hauptteil „Die vorchristliche Überlieferung der Vorstellung
vom gewaltsamen Geschick der Propheten als Moment der
dtrPA im Zusammenhang der Überlieferung des dtrGB" ist in
erster Linie der lebendigen Überlieferung des dtrGB, die sich von
587 v. Chr. bis in die Jahrzehnte nach 70 n. Chr. in verschiedenen
Stadien vollzogen hat (vgl. dazu S. 184ff.), gewidmet. Obwohl die
dtrPA nicht immer im Rahmen des dtrGB enthalten ist, hält es der
Verfasser für berechtigt, die Überlieferung des dtrGB in die Untersuchung
einzubeziehen, da es keinen Beleg für die dtrPA außerhalb
des dtrGB gibt. Als theologische Träger der lebendigen Überlieferung
des dtrGB und somit der Ausbildung der Vorstellung vom gewaltsamen
Geschick der Propheten kommen nach seiner Ansicht in
erster Linie die Leviten in Frage, deren Wirksamkeit, die auf Um-

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 11