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Ausgabe:

1968

Spalte:

826-827

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Werk und Wirken Paul Tillichs 1968

Rezensent:

Trillhaas, Wolfgang

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- inmitten des völkischen Rausches der dreißiger Jahre - von Anfang
an: Der Nazismus bedeutet Krieg! So wird dieser leidenschaftliche
Theologe, welcher bald als Direktor eines der Predigerseminare
der Bekennenden Kirche auf alle bürgerlich gesicherte Existenz
verzichtet, nicht nur dort engagiert, wo die Sache der Kirche
auf dem Spiele stand, sondern immer klarer auch dort, wo, z. B.
durch antijüdische Maßnahmen, im politischen Bereich Gerechtigkeit
pervertiert wurde. Das führt ihn im dritten Abschnitt seines
Lebens, vor allem im Krieg, zum letzten Einsatz: Der pazifistisch
orientierte, tief fromme Kirchenmann betritt den Weg politischen
Widerstandes - mit allen Konsequenzen. Er weift, daß er dabei

- angesichts der herrschenden Tradition deutscher Theologie und
Kirche - unter Umständen auch jede Möglichkeit für seinen Beruf
in der Zukunft aufgibt: In der „Zwielichtigkeit" seiner „Agentenexistenz
" stellt er sich auf einen Ort, von dem er weift, dafi er selbst
für die meisten Brüder der Bekennenden Kirche „außerhalb" des
kirchlich Verantwortbaren liegt. Tatsächlich wurden nach dem
Kriege die Stimmen laut, dafi Bonhoeffer nicht für die Sache Christi
gestorben ist. Der Hingerichtete selbst verstand es allerdings
anders: In der Nachfolge des Gekreuzigten gab es für ihn kein
„außerhalb" christlicher Verantwortung.

Der Bogen dieses Lebensweges eines Theologen, Christen und
Zeitgenossen ist groß und - auch im Blick auf die Kürze seiner
39 Jahre - außerordentlich gespannt. Er hat auch seine „Kehren"
(eben vom Theologen zum Christen" und vom „Christen zum Zeitgenossen
") - und seine Seitensprünge: so z. B. den Sprung nach
London 1933 und den zweiten Weg nach New York 1939. Auch die
„innere Seite" dieses Weges, vor allem seine literarische Tätigkeit,
hat ihre Paradoxien, Neuansätze und Retraktationen. Klafft nicht
z. B. zwischen dem Bonhoeffer der Finkenwalder Periode mit seiner
schon damals etwas berüchtigten „praxis pietatis" und dem
Bonhoeffer der Gefängnisse mit seinen Reflexionen über „nichtreligiöse
Interpretation" ein ausgesprochener Widerspruch? Hat dann
die scharfsinnige Monographie von Hanfried Müller „Von der
Kirche zur Welt" nicht recht mit ihrer These, daft eine „Harmonisierung
" einzelner Etappen von Bonhoeffers Theologie nicht möglich
ist, dafi sein Werk eindeutig „vom Ende her", also in der Perspektive
von „Widerstand und Ergebung", zu deuten ist, in nüchterner
Distanz zu den früheren Werken, vor allem zu „Gemeinsames Leben
", zu großen Teilen der „Nachfolge" und der „Ethik"?

Bethge ist weit davon entfernt, die Spannungen in der Theologie
Bonhoeffers zu leugnen. Er bringt für diese Spannungen sogar neue
Belege - z. B. in sehr instruktiver Differenzierung verschiedener
Manuskripte der „Ethik" (S. 803ff.). Dabei ist er aber fest überzeugt
: Organische Einheit dieses Weges, seine geistige und geistliche
„Identität" in der Fülle und im Wechsel mannigfaltiger Motive,
ist nicht zu bezweifeln. Das gilt konkret auch in bezug auf die
Frage nach dem Verhältnis des „letzten" zum „vorletzten" Bonhoeffer
. Bethge widmet „der neuen Theologie" der Gefängnisbriefe
einen konzentrierten Exkurs (S. 958-1000) und führt ihn souverän
zu klärenden und glaubwürdigen Ergebnissen. Nach Bethge wird
die eigentliche Intention von Bonhoeffer dort verpafit, wo die - in
moderner theologischer Diskussion so oft strapazierten! - Stichworte
„Mündig gewordene Welt" und „Nichtreligiöse Interpretation
" abstrakt, isoliert, ohne Rücksicht auf ihren Kontext aufgefafit
werden. Dieser Kontext wird aber von einer eindeutig vorangestellten
„Hauptfrage" beherrscht: „Wer ist Christus für uns heute?"
Von daher, vor dieser primär christologischen Frage, wird „sein
Reden von Mündigkeit zweischichtig und verflacht nicht positivistisch
" (S. 974) - das Stichwort bedeutet für Kirche keine Verklärung
beliebiger „Weltlichkeit" und „Gottlosigkeit", sondern Ruf zur
echten „t h e o 1 o g i a c r u c i s". Und die „nichtreligiöse Interpretation
" ist „mehr eine ethische als hermeneutische Kategorie und
sogleich ein Bufiruf an die Kirche und ihre Gestalt" (S. 987). Beide
Akzente - und der ganze Duktus der Gedankengänge des späten
Bonhoeffer - haben einen unaufgebbaren Kontrapunkt in der „Ar-
kandisziplin", in „innerer Dimension" des Christseins in Gebet, Meditation
, Gottesdienst und Versammlung. So gilt es - im christologischen
Kontext - diese Dialektik zu respektieren und nicht aufzulösen
: „Arkandisziplin ohne Weltlichkeit ist Getto, und Weltlichkeit
ohne Arkandisziplin ist nur noch Boulevard" (S. 992).

Es ist klar, dafi bei diesem „Primat der Christologie" und in dieser
Dialektik eine Kontinuität im theologischen Ringen Bonhoeffers

- welche Bethge in seinem Buch auch sonst gelegentlich bis in sehr
verwandte Formulierungen in verschiedensten Stadien verfolgt -

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viel sichtbarer wird. Und jener gespannte Bogen des Weges des
Theologen, Christen und Zeitgenossen - in seiner gelebten Dynamik
bestimmt keinem Kursbuch der Logik abgeschrieben - zeigt
doch eine bemerkenswerte „innere Logik", eine klare Identität und
Integrität im Denken und Sein. Mit bekanntem Bonhoefferschem
Bild ausgedrückt: In reicher Polyphonie des Lebens wird echter und
bleibender „cantus firmus" sichtbar. Solche Bilder und Wendungen
könnten vielleicht bei einer wissenschaftlichen Monographie als unangebracht
erscheinen - passend besser für das etwas berüchtigte
Genre der „Hagiographie" und der „Erbauungsbücher". Bethges
Buch ist gegenüber jedem Verdacht einer frommen Hagiographie
durch seine sachliche Leistung gewappnet. Es ist ein sauberes wissenschaftlich
-theologisches Werk. Und doch ist es meiner Ansicht
nach zugleich - und darin ist es wieder seinem „Gegenstand" treu -
ein „Erbauungsbuch höherer Ordnung": wirklich das Buch eines
Zeugen - und ein Ruf in die Nachfolge.

Das Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers ist ein Fragment geblieben
. In bezug auf das Fragmentarische menschlicher Existenz
hat Bonhoeffer in den Gefängnisbriefen das weise Wort geprägt:
„Wenn auch die Gewalt der äußeren Ereignisse unser Leben in
Bruchstücke schlägt..., so soll doch möglichst sichtbar bleiben, wie
das Ganze geplant und gedacht war, und mindestens . . ., aus welchem
Material hier gebaut wurde oder werden sollte" (Widerstand
und Ergebung, S. 80). Das Buch des Freundes erfüllt diesen Wunsch.
Der Plan und das Material dieses Lebens wird sichtbar - und erweist
sich in einem fast unwahrscheinlich hohen Grad für unsere
theologische und kirchliche Lage, vor allem wohl für die deutsche
Theologie, in welcher Bonhoeffer so tief verankert war und für
deren Neuorientierung er so viel geleistet hat, als ungeheuer
aktuell. Der Plan: das Zeugnis Jesu Christi in gehorsamer Nachfolge
in der Bekennenden Kirche und in der mündig gewordenen
Welt. Und das Material: etwa, um ein paar Beispiele zu nennen,
bewußte Absage an jedes Glasperlenspiel einer nur um sich selbst
kreisenden akademischen Theologie; Vorrang der „Ethik" vor der
„Hermeneutik" (ohne dabei die Bedeutung letzterer zu leugnen);
Nachdruck auf die soziale Dimension des Glaubens; Offenheit ökumenischer
Perspektive; Verständnis für die Dringlichkeit christlicher
Friedensarbeit; kompromißlose Absage an den Ungeist jedes
Nationalismus; persönliches Engagement in der Mitte des Lebens
im Gebet und Tun der Gerechtigkeit.

Die deutsche und ökumenische Theologie hat viele Gründe, dieses
Zeugnis in ihrer Mitte auch heute ernst und verbindlich gelten
zu lassen.

Prag J. M. L o c h m a n

[Tillich, Paul:] Werk und Wirken Paul Tillichs. Ein Gedenkbuch
. Mit der letzten Rede von Paul Tillich und Beiträgen von:
T. W. Adorno, E. Bloch, W. Braune, O. Haendler, E. Heimann,
I. C. Henel, M. Horkheimer, P. Kreyssig, W.-D. Marsch, H.-R.
Müller-Schwefe, U. Neuenschwander, W. Philipp, G. Rein, H.-J.
Rothert. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk (1967). 207 S.,
8 Taf. 8°.

Dieser Gedenkband vereinigt zehn Beiträge, im wesentlichen
pietätvolle Rückblicke und Bekenntnisse von Freunden und Schülern
Tillichs, mit der letzten Rede über die Bedeutung der Religionsgeschichte
für den systematischen Theologen, die Tillich wenige
Stunden vor dem Beginn seiner letzten Krankheit gehalten hat. Vorausgehen
eine Rundfunksendung, Gespräche mit M. Horkheimer,
Th. W. Adorno, E. Hermann und E. Bloch und sodann verschiedene
Gedenkreden, meist im Rahmen akademischer Versammlungen gehalten
von Otto Haendler, Walther Braune, Hans-Rudolf Müller-
Schwefe, Ulrich Neuenschwander (im Sender Beromünster), Peter
Kreyssig, Max Horkheimer, Wolfgang Philipp, Hans-Joachim
Rothert, Ingeborg C. Henel. Die paar Seiten, die wir in diesem Zusammenhang
Max Horkheimer verdanken, „Letzte Spur von Theologie
- Paul Tillichs Vermächtnis", vorweg schon in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung (7. April 1966) abgedruckt, stellen hierbei
das weitaus Tiefgründigste dar, weil es einige Achsengedanken
Tillichs, vor allem den Symbolbegriff, so skeptisch befragt, dafi
hieraus wirklich ein fortführendes Gespräch über den Hingeschiedenen
und mit ihm erhofft werden könnte. Leider ist der Band doch
etwas vordergründig zusammengestellt. Es fehlen die Gedenkreden,
welche Wilhelm Pauck, Mircea Eliade und Jerald C. Brauer in Chi-

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 11