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1968

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Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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und besonders in den ersten Jahren Pius' IX. vor allem politische
Oppositionelle. Eine umfangreiche Arbeit leistete D. als Referent
für theologische Examensarbeiten. Seine Haupttätigkeit
aber wurde ab 1840 die Gemeindearbeit als Pfarrer der Kirche
S. Maria Maddalena: es entsteht aus D.s eigenen Erzählungen
ein einzigartiges Bild der Verbindung von Seelsorge und sitten-
polizeilicher Tätigkeit im damaligen Rom, wo der Pfarrer zugleich
der Vertrauensmann der Regierung war; die eingehende
Darstellung der seelsorgerlichen Arbeit D.s weitet sich zu einem
umfassenden, zuweilen saftigen Bild konkreten religiösen Volkslebens
, das einen ersten Höhepunkt des Buches bildet ('10-73).
Die ersten Spuren einer Gewissenskrise zeigen sich um 1835,
also lange bevor D.s hingebungsvolle karitative und seelsorgerliche
Arbeit in Rom endete; 1843 wurde ihm von der Inquisition
wegen Zweifels am Primat und wegen nationalitalienischer Tendenzen
der Prozeß gemacht; doch gelang es ihm in der Folge,
seine innere Krise zu verbergen, und er genoß bis zum Ende
die Achtung höchster kurialer Würdenträger. Von D.s Beziehungen
zu den italienischen Evangelischen, mit denen er sogleich
nach seiner Flucht in Kontakt trat, ist leider fast nichts bekannt.
Bei der Vorbereitung des letzten Schrittes hat ein ehemaliger
Dominikaner, der auf Korfu eine „italienische Kirche" gegründet
hatte und jetzt auf Malta lebte, eine Rolle gespielt; es gelang
D., unbeargwöhnt aus dem Kirchenstaat und Italien auszureisen,
zusammen mit einem schottischen Pfarrer aus Malta. Vergeblich
bemühte sich der Kardinal Ferretti mehrfach, auch im Auftrag
Pius' IX., D. zu einer ehrenvollen Rückkehr zu bewegen: D. berief
sich, bei aller persönlichen Hochschätzung des Kardinals
und des Papstes, auf unüberwindliche Gewissensgründe. Vinay
bemüht sich S. 82 ff., die Konversionsmotive zu klären: D. hat
offenbar schon lange unter dem Eindruck des geistlich-sittlichen
Verfalls seiner Kirche gestanden; daneben scheint ihn auch die
antinationale und antiliberale Haltung der ihm verbundenen Jesuiten
abgestoßen zu haben, während er in der anfangs liberalen
Politik Pius' IX. nicht den Willen am Werk sah, »Italien das
reine Evangelium und die heilige Religion unserer Väter wiederzugeben
" (S. 88); vorherrschend waren die theologischen
Gründe. D. ist dadurch, daß er als Theologe die Entstellung der
biblischen Lehren in Dogma und Sittlichkeit der römischen Kirche
konstatierte, zur Konversion veranlaßt worden, und sofort von
seiner Bekehrung an bis zum Ende stellt er das „sola scriptura"
den römischen Lehrtraditionen entgegen; das Papsttum wird ihm
zur Erscheinungsform des Antichrist. Seine evangelische Theologie
trägt von Anfang an einige charakteristische Züge der Er-
weckungstheologie der Zeit. Man wird annehmen müssen, daß
D.s Theologie sich aus der ihm seit 1834 erlaubten Lektüre „verbotener
Bücher" (S. 97, Anm. 79) gebildet hat: in zeitgenössischer
evangelischer Literatur fand er Hilfen, die ihm die orthodoxe
Literatur für die ihn täglich bewegenden geistlichen Probleme
nicht gab.

D.s weiteres Leben ist dem Evangelium unter den Italienern
wn Ausland (Malta, Genf) und der Missionierung Italiens gewidmet
. Das Buch schreitet in derselben Weise einer jeweils
breiten Schilderung des vielfältigen kirchlichen Milieus weiter;
neben D. erscheinen wohl alle wesentlichen Gestalten der evangelischen
Mission in Italien und werden sorgfältig gekennzeichnet
, so daß der Leser eine wertvolle Ergänzung (und Vertiefung
un spezifisch kirchlichen und theologischen Bereich) zu dem Buch
v°n G. S p i n i, Risorgimento e protestanti, Neapel 1958, erhält
. 1852 schließt D. sich der Waldenserkirche im Reich Sardinien
an, wo er zunächst als Pfarrer in Turin wirkt. Der Leser
erlebt die Anfänge des bedeutsamsten Wandels in der neueren
Waldenserg eschich.te mit: von der Kirche der Waldensertäler zur
Kirche in Italien. Die Hilfe des ausländischen Protestantismus
für diese Kirche vor dem Bürgerrechtserlaß Karl Alberts (1848)
wird gewürdigt: neben der Schweiz und England erscheint hier
die preußische Erweckungsbewegung in Gestalt des Turiner Botschafters
von Waldburg-Truchseß mit seiner aktiven Hilfe, aber
auch der theologische Einfluß von Hengstenberg und Neander
auf in Berlin ausgebildete, später einflußreiche Waldenserstu-
denten. Hier wie in Genf und Lausanne wurde mit der Theologe
der Erweckungsbewegungen der Waldenserkirche jener
evangelistischc Impuls gegeben, dessen sie im Risorgimento, in

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der Begegnung mit dem leidenschaftlichen Missionswillen italienischer
Patrioten bedurfte. Doch kam es zwischen „Waldensern"
und „Italienern" mit ihren teils kräftig darbystischen Tendenzen
bald zu erheblichen Spannungen; viele der evangelischen Italiener
warfen der Leitung der Waldenserkirche vor, sie wolle
ihre eigenen partikularen Traditionen den neuen Christen Italiens
aufoktroyieren, während Italien eines eigenen italienischen
Christentums: eines akonfessionellen Christentums zwischen römischem
Katholizismus und Protestantismus bedürfe. Recht und
Unrecht verschlingen sich in diesen Streitigkeiten auf mancherlei
Weise. Tatsächlich wirkten einige spezifische Waldensertradi-
tionen als Hemmschuh einer wirksamen Mission, was D. einige
Jahre lang auf die Seite der „Italiener" führte, ohne daß er sich
je ganz von den Waldensern gelöst hätte: sein Sinn für die Notwendigkeit
einer ernsten Theologie und einer zureichenden Kirchenordnung
hinderte ihn an einer vollen und endgültigen Identifizierung
mit den darbystischen Kreisen.

In der nuancierenden Darstellung der verschlungenen Wege
jener Jahre gelingt dem Verfasser edn Stück theologisch eindringender
Kirchengeschachtsschreibung, deren aktuelle Bedeutung
stets gegenwärtig wird: im Grunde waren es die theologiechen
Grenzen der Erweckungstheologie mit ihrer auf die innere
Wiedergeburt gerichteten Predigt, die auf allen Seiten verhindert
haben, daß dem Ethos des römischen Katholizismus in jener
Stunde der großen Gelegenheit eine wirkliche Alternative für
das konkrete Leben des Volkes entgegengesetzt wurde (wobei
die Frage durchaus nicht eindeutig positiv beantwortet wird, ob
eine andere, erdnähere Theologie etwa den großen Erfolg gebracht
hätte). Daneben aber fällt den leitenden Männern der
Waldenserkirche die Verantwortung dafür zu, daß sie der Mission
der bekehrten Italiener nicht genügend Verständnis entgegengebracht
, nicht genügend Freiheit gegeben haben, daß sie
den neuen Gemeinden nicht die Möglichkeit gegeben haben, ihre
eigenen Organisationsformen nach den Notwendigkeiten von Ort
und Zeit zu entwickeln und doch im engen Verband der „alten"
Waldenserkirche mit ihren wertvollen Gaben einer theologischen
Ausbildung und kirchlichen Ordnung zu bleiben. Freilich hat
man den Eindruck, daß einem Teil der evangelischen Bewegung
gegenüber mit ihrem Radikalismus und substanzarmen Enthusiasmus
solches Verständnis verlorene Mühe gewesen wäre. Um
so anziehender erscheinen in Vinays Darstellung einige Männer,
unter ihnen D., die die unheilvollen Extreme zu vermeiden und
die verschiedenen Charismen im Dienst der großen Missionsaufgabe
zu verbinden suchten: die Waldenserkirche konnte der
evangelischen Bewegung dauerhafte theologische Grundlagen geben
; die neuen evangelischen Gemeinden hätten der Waldenserkirche
helfen können, die neutestamentliche Vielheit der Ämter
wiederzuentdecken (S. 346 ff.). Vinay schließt mit einer kurzen
Erörterung über den Sinn und das Lebensrecht einer evangelischen
Diaspora in Italien; es ging und geht nicht um die Vergrößerung
einer bereits bestehenden evangelischen Konfession,
nicht um die Zerstörung des Katholizismus. Die evangelische
Diaspora in einem zur Hälfte katholischen, zur Hälfte laizistischen
Land soll durch ihr klares evangelisches Zeugnis ein Zeichen
der Wahrheit und der Gnade Gottes sein. Die antiklerikale
Polemik des Risorgimento ist abgetan; die Predigt hat nicht
direkt römische Mißbräuche zu geißeln: wo das nötig ist, geschieht
es durch das verkündete Wort Gottes selbst. Durch ihr
Zeugnis soll die Diaspora eine innere Erneuerung der römischen
Kirche fördern; gleichzeitig bietet die Diaspora denen, die die
römische Kirche ablehnen, eine neue Alternative zwischen Katholizismus
und atheistischem Freidenkertum.

Dem schönen, höchst informativen und sachlich fesselnden
Buch, das in einfachem und klarem Italienisch geschrieben, vorzüglich
ausgestattet und so gut wie fehlerfrei gedruckt ist, ist
ein großer Leserkreis zu wünschen.

Heidelberg Kurt-Victor S e I g e

B e g r i c h , Martin: Stadt und Staat Sao Paulo in Begegnung mit
den Protestanten (Die evangelische Diaspora 38, 1967 S. 119 bis
130).

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 1