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Ausgabe:

1968

Spalte:

749-750

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Barrett, Charles K.

Titel/Untertitel:

Jesus and the gospel tradition 1968

Rezensent:

Haufe, Günter

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Seite 1

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749

Theologische Literatvirzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 10

750

Hier wird dem Leser allerhand an Gedankenarbeit zugemutet
und eine Menge gelehrte Arbeit vorgetragen. Z. B. zerlegt D.
Luk. 4,16-30 in drei Nazarethberichte: 16-22 ordnet er vor Mt. 4,13
ein, hier wird Jesus bewundert; 23-24 schlägt ihm schon Feindschaft
entgegen, das hier Berichtete gehört hinter die Kapernaum-
überlieferung; ein ganz selbständiger Bericht ist in 25-29 zu
sehen. Auch zwischen V. 23 und V. 24 ist noch quellenmäßig zu
scheiden. Neben solchen der historischen Rekonstruktion verpflichteten
Textoperationen finden sich treffliche Bemerkungen
zur Umprägung der Tradition durch den Evangelisten, z. B. hier:
„Lukas vertauscht das Erstaunen der Nazarether (Mt und Mk)
in Bewunderung" (67). Der Gedanke, der Synopse gleich einen
kurzen Kommentar dieser Art beizugeben, ist ausgezeichnet. Eine
französische Wortkonkordanz schließt sich an (155-184), die
schätzungsweise 400-500 Stichwörter nachweist und dabei eine
Reihe interessanter Tabellen vorlegt und kurz auswertet, z. B. zu
Amen, Diable-Satan, Esprit Saint, Fils de Dieu, Fils de l'Homme,
Gehenne, Royaume, um nur einige zu nennen; unter Parabolcs
werden z. B. alle synoptischen Gleichnisse verzeichnet. Ein entsprechendes
griechisch-französisches Verweisregister folgt 185-188.
So ist ideenreich und liebevoll hilfreiches Material für den Benutzer
bereitgestellt.

Band II bietet den Text in wunderbar übersichtlichem Satz. Die
Anordnung ist wie'bei Huck-Lietzmann - alle drei Ew. sind fortlaufend
gedruckt. Die Übersetzung ist sehr wörtlich, vielleicht
manchmal sklavisch-wörtlich. Trotzdem lautet Luk. 1,28 natürlich:
„Joie ä toi, Pleine-de-gräce!" Doch vgl. Luk. 2,14b: „Et sur terre,
paix aux hommes qu'il aime!" Wichtige Textvarianten sind in
einem sehr gut lesbaren Apparat beigegeben, wo die Bezeugung
etwa im Umfang von Nestle zitiert ist. Stichproben: Die Kurzform
in Luk. 11,2-4 steht exakt im Text. Luk. 24,12 steht in Klammern
im Text und wird im App. als sekundär bezeichnet. - Die johan-
neischen Parallelen sind jeweils beigegeben. Wo immer es angeht,
ist von Sinnzeilen Gebrauch gemacht.

Die beiden schön ausgestatteten Bände sind in vieler Hinsicht
eindrucksvoll, und sie sind ein erfreuliches Dokument für die neue
Hinwendung zum biblischen Wort; für analoge deutschsprachige
Unternehmungen wird aus der ideenreichen Hilfsmittelbeigabe
manches zu lernen sein.

Leipzig Harald Hegermann

Barrett, C. K.: Jesus and the Gospel Tradition. London:
S. P. C. K. 1967. XI, 116 S. 8°. Lw. 25 s.

Das anzuzeigende Buch enthält die Shaffer Lectures, die C. K.
Barrett 1965 an der Yale University Divinity School gehalten hat.
In großen Linien, wie sie der Rahmen dieser Vorlesungen verlangt
, geht B. der historischen und der theologischen Frage nach,
die mit dem Namen „Jesus" gegeben sind. Im Anschluß an die
vorpaulinische Glaubensformel l.Kor. 15,3f. handelt er im ersten
Kapitel unter dem Stichwort „The Tradition" von der Eigenart
der synoptischen Überlieferung. Sie enthält weder reine Historie
noch reine Fiktion. Jesus-Tradition ohne theologisches Interesse
hat es nie gegeben. Vorösterlicher und nachösterlicher historischer
Kontext liegen in den Evangelien in- und nebeneinander. Das
vorherrschende Interesse an der Überlieferung ist ein christo-
logisches, wobei freilich kritische Durchsicht lehrt, daß keine der
christologischen Selbstaussagen des synoptischen Jesus ohne weiteres
auf den historischen Jesus zurückgeführt werden kann.
Jedoch enthält die Evangelienüberlieferung nichtsdestoweniger
„historical roots for the lordship of Jesus" (S. 29), die einerseits
auf eine „story of a lord incognito" schließen lassen, die andrerseits
nach Ostern eine explizite christologische Entfaltung verlangten
. Mit alledem hat sich B. das Feld frei gekämpft, auf
dem sich seine folgenden Rekonstruktionsversuche erheben.

Unter dem Stichwort „Christi Crucified" greift das zweite Kapitel
zunächst die Frage nach Jesu Leidenserwartung auf. Verrät auch
die jetzige Gestalt der synoptischen Leidensweissagungen theologische
Reflexionen der nachösterlichen Gemeinde, so kann doch
nicht die Möglichkeit bestritten werden, daß eine historische
Voraussage zugrunde liegt, die freilich dann den Tod im „gleichen
cschatologischen Kontext" interpretiert haben muß wie Jesu Dienst
im Ganzen. Die dabei vorauszusetzende Kombination von Men-
schensohnbegriff und Leidensgedanke findet B. ansatzweise bereits
im Danielbuch. Der Menschensohn von Dan. 7 repräsentiert

das gläubige Israel, dessen Leiden nach 11,35 sühnende Funktion
besitzt und nach 12,3 göttliche Rechtfertigung erfährt. Spuren
der Evangelienüberlieferung deuten allerdings darauf hin, daß
Jesus zunächst nicht unbedingt mit seinem Tode vor dem Eintritt
der apokalyptischen Endereignisse in Jerusalem gerechnet hat.
Jesu Gebet in Gethsemane (Mk. 14,36), seine als Parusiewort
gedeutete Aufforderung zur Wachsamkeit an die Jünger (Mk.
14,34.38) sowie den Schrei der Gottverlassenheit am Kreuz (Mk.
15,34) interpretiert B. als Zeugnisse einer unerfüllt gebliebenen
Erwartung. Desgleichen wird die jüdische Erwartung, der Messias
werde in der Passanacht kommen, in Anschlag gebracht. Sofern
der Leidensgedanke dann doch eine Rolle spielte, erwartete Jesus
vermutlich ein gemeinsames Sterben mit seinen Jüngern vor dem
apokalyptischen Eingreifen Gottes. Leidensankündigungen wie
Mk. 8,34-37 und 10,39 könnten das ursprünglich vorausgesetzt
haben. Jesu letztes Mahl mit seinen Jüngern wäre dann wenigstens
teilweise Zurüstung auf dieses gemeinsame Sterben gewesen.
Vom stellvertretenden Einzelsterben Jesu redet erst die nachösterliche
Gemeinde in Anpassung an das tatsächliche Geschehen
(Mk. 10,45). Die juristische Verantwortung für den Tod Jesu lag
allein bei den Römern. Voraus ging jedoch der theologische
Dissensus mit den jüdischen Autoritäten (Legalismus-Gnade) sowie
der Umstand, daß Jesu Auftreten im Zusammenhang revolutionärer
Zeitereignisse (Barrabas, Schächer am Kreuz!) beinahe notwendig
messianisch-politisch mißverstanden werden mußte.

Im dritten Kapitel wendet sich B. unter dem Stichwort „Christ
to Come" der Frage zu, ob Auferweckung und Kirchengründung
in Jesu Zukunftserwartung einen Platz hatten. Rechnet der synoptische
Jesus eindeutig mit einem Zeitraum zwischen Auferweckung
und Parusie, so gehen die diesbezüglichen Aussagen zu Lasten
der nachösterlichen Gemeinde, die Jesu Verkündigung den
tatsächlichen Verhältnissen anpaßte. Nicht ohne weiteres gilt dies
jedoch nach B. für die ältesten Auferweckungsweissagen bei Markus
. Nachösterlich ist wahrscheinlich nur ihre individuelle Form.
Tatsächlich dürfte Jesus, etwa im Anschluß an Dan. 12,2, mit
einer kollektiven Auferweckung und Rechtfertigung kurz nach
dem kollektiven Leiden gerechnet haben. Die Aussagen über die
Parusie des Menschensohnes widersprachen dem ursprünglich
nicht, waren sie doch nichts anderes als eine andere Form der
Rede von der kollektiven göttlichen Rechtfertigung im Zusammenhang
der Endereignisse. Auferweckung, Parusie und Kommen des
Reiches Gottes fielen also in Jesu Erwartung zusammen. Von
daher erklärt sich dann auch die Tatsache, daß die Jünger auf die
historischen Passions- und Osterereignisse offensichtlich nicht
vorbereitet waren. Die tatsächliche Rechtfertigung Jesu erfolgte
in einem anderen Modus, doch blieb die Jüngerschar die gleiche.
Die Relation Jesus - Ekklesia ist sowohl durch Diskontinuität, wie
durch Kontinuität gekennzeichnet. Das Recht der Berufung der
Ekklesia auf die Jesustradition kann nicht bestritten werden, so
gewiß deren nachösterliche Modifikation eine geschichtlich notwendige
war.

In einem „Postscript" betont B., daß das Neue Testament im
wesentlichen christozentrisch ist, Christus selbst aber theozentrisch
war. Mag er sich auch in der eschatologischen Perspektive geirrt
haben, so bleibt doch festzuhalten, daß nicht historische und
apokalyptische Fahrpläne, sondern die Wahrheit über Gott und
die Beziehung des Menschen zu Gott den zentralen Inhalt seiner
Verkündigung bildeten. Gerade in seiner menschlichen Fehlbarkeit
spricht er als das Wort Gottes zu uns.

Man legt das Buch mit gemischten Empfindungen aus der Hand.
Kritisch stimmt nicht die Fragestellung. Die Rückfrage hinter die
Tradition nach dem historischen Urgestein, speziell nach Jesu
persönlichem Erwartungshorizont in Verbindung mit seinem Zug
nach Jerusalem, ist notwendig und möglich zugleich. Kritisch
stimmt auch nicht schon das apokalyptische Jesusbild, das als
Ergebnis herausspringt. Kritisch muß wohl aber die Methode
beurteilt werden, mit der hier nach dem ursprünglichen Sinn der
Überlieferung geforscht wird. Ohne präzise form- und traditionsgeschichtliche
Analyse führt gewagte Kombination unmittelbar an
den historischen Sachverhalt heran. Primär- und Sekundärsinn
der Überlieferung werden in einer Weise geschieden, von der
man meinen sollte, daß sie einer überholten Ära angehört. Die
Einsicht in den Traditionscharakter der Evangelien ist ohne Zweifel
mißverstanden, wenn in ihr grünes Licht für eine methodisch
kaum mehr kontrollierte historische Kombination gesehen wird.

Leipzig Günter Haute