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Ausgabe:

1968

Spalte:

698-700

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Norbert

Titel/Untertitel:

Natur und Gnade 1968

Rezensent:

Pöhlmann, Horst Georg

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 9

698

das Schicksal der protestantischen Theologie in der Neuzeit bestimmt
haben und bis zur Stunde wirksam sind. Tatsächlich greift
aber die Betrachtung tief ins 18. Jahrhundert zurück, die Aufklärung
ist voll einbezogen, während für unser Jahrhundert in auffälliger
Behutsamkeit und Unabgeschlossenheit die führenden
Geister und die bewegenden Probleme zur Darstellung kommen.
Dem Text liegt die Bandaufnahme der Vorlesung zugrunde, ein
Manuskript zur Kontrolle stand nicht zur Verfügung; aber der
Herausgeber hat'offenkundig alle mögliche Sorgfalt walten lassen
und die Tillich nächststehenden Freunde und Kollegen, vorab
Frau Hannah Tillich, an der Verantwortung für das Manuskript
beteiligt. So haben wir einen überaus interessanten Text bekommen
, dessen Herausgabe nicht genug bedankt werden kann. Der
Vergleich mit K. Barths .Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert
" (1947) liegt nahe. Tillich verweilt nicht so wie Barth bei
Einzelporträts, aber es fasziniert durch die Darstellung des Zusammenhanges
der Entwicklung; auch er verfährt seinem Gegenstande
gegenüber mit aller wünschenswerten Kritik, aber jede
Epoche, jede Gestalt dieser neuzeitlichen Entwicklung repräsentiert
zugleich für Tillich ein Element unserer eigenen Gegenwart,
von der wir uns durch keine Kritik loskaufen können. Und schließlich
versucht Tillich an keiner Stelle, eine größere Reinheit des
Christlichen durchaus zu erreichen, daß er das christliche Denken
von der Philosophie abspaltet

Vor den Text der Vorlesung hat der Herausgeber, Prof. Carl E.
Braaten, einen einleitenden Aufsatz aus der eigenen Feder gestellt
: Paul Tillich and the Classical Christian Tradition. Tillichs
Text beginnt mit einem kurzen Abschnitt über Problem und Methode
, worin er sich über Eigentümlichkeit und Grenzen des Vorhabens
ausspricht, so über die unvermeidbare Bevorzugung der
deutschen Theologiegeschichte, aber auch über die Verwebung
von historischem und systematischem Interesse.

Die Vorlesung selbst ist in fünf Kapitel eingeteilt, deren unterschiedliche
Längen zugleich das Engagement anzeigen, das Til-
hch den Epochen gegenüber bekundet. Das kürzeste Kapitel ist
das erste. Es verhandelt knapp die unstabilen, mit eigener Problematik
aufgeladenen Interessen der Orthodoxie, des Pietismus
md des Rationalismus. Hier sind immerhin die Bemerkungen über
den Ursprung des Rationalismus im reformatorischen Drängen auf
Selbständigkeit und Einsicht jedes Christen, mehr noch die Bemerkungen
über die enge Beziehung von Mystizismus und Rationalismus
von nachdenklichem Interesse: „The opposite of mysticism
ls not rationalism, but rationalism is the daughter of mysticism"
(21). Das zweite Kapitel ist der Aufklärung und ihren Problemen
Scwidmct. Man kann in der Kürze kaum schöner und reicher
an Gesichtspunkten über diesen Gegenstand sprechen. Die „Natur
der Aufklärung" sieht Tillich in drei Kardinalbegriffen gefaßt:
Vernunft (mit der beziehungsvollcn Unterscheidung von univer-
saler, kritischer, intuitiver und technischer Vernunft), Natur und
Harmonie. Diese Natur der Aufklärung wird dann an der gesellschaftlichen
Wirklichkeit der Epoche realisiert, an ihrem bürgerlichen
Charakter, am Ideal der vernünftigen Religion, der „Com-
mon-sense Morality" und dem subjektiven Gefühl. Aber dieses
Bild der Aufklärung wird durch seine inneren Widersprüche gehrochen
, den kosmischen Pessimismus durch den Zweifel am Wert
°es kulturellen Fortschrittes (Rousseau!), die erstmals aufkeimenden
Theorien des Egoismus (Helvetius) und der Macht, und durch
den Zweifel an der Bedeutung der Moral für den Fortschritt. So
Verden schließlich die Erfüller der Aufklärung zugleich dieselben
Geister sein, die ihr Ende heraufführen: Rousseau, Französische
Revolution und Romantik, David Hume und der Positivismus und
Vor allem dann Kant, bei dessen Darstellung Tillich sehr ins
Persönliche geht.

Trotz dieses bewegten Bildes der Aufklärung ist sie jedoch so
gewichtig und entscheidend, daß das folgende Kapitel, das dritte,
Hessing und Kant, die Romantik, Schleiermacher und Hegel als
•the Classic-Romantic Rcaction against the Enlightment" begreifen

ann. Ich möchte mich in meinem Bericht darauf beschränken, zu
Crvvähnen, daß dann sowohl Schlcicrmacher als auch Hegel doch
a's die großen Synthesen zur Darstellung kommen. Bei Schleier-
wacher greift die Grundlegung noch einmal weit aus, es folgen die

^Stellungen des Gefühls- und des Rcligionsbcgriffes Schleier-
Bachers, nicht ohne bewegte Erörterung des Für und Wider. Daß
,n diesem Zusammenhang die Definition der Theologie durch

Schleiermacher als „positivistisch" charakterisiert wird, ist überraschend
, aber dann doch einleuchtend; bei der Interpretation
des Christentums durch Schleiermacher kommen Tillich die eigenen
Erinnerungen an die Diskussionen in der frühen dialektischen
Theologie in Deutschland ein wenig in die Quere. - Hegel
steht neben Schleiermacher als der Schöpfer der universalen Synthese
in philosophischen Begriffen, so wie Schleiermacher die
große Synthese in theologischen Begriffen entworfen hat. Was
diese Synthese eigentlich umgreift, kommt freilich in der Darstellung
Hegels viel deutlicher zum Ausdruck: Gott und Mensch, Religion
und Kultur, Staat und Kirche, Vorsehung und Geschichte,
wie Tillich seine sehr schöne Vermittlung der Gedanken Hegels
stark modernisierend zusammenfaßt. „Größe und tragische Hybris"
Hegels werden schon zu Beginn dieser Überschau anvisiert, und im
folgenden vierten Kapitel „Der Zusammenbruch der universalen
Synthese" wird füglich geschildert, wie sich die Krise an diesen
geistigen Bauwerken vollzieht und wie diese Vollstreckung des
Gerichts genau unsere heutige theologische Situation vorbereitet
und erklärt.

Eigentümlicherweise ist das vierte Kapitel fast ausschließlich
Philosophiegeschichte, es eilt in sechs großen Schritten durch das
19. Jahrhundert: der Riß in der Hegeischen Schule, Schellings Kritik
an Hegel, die religiöse Erweckung und die theologische Re-
pristination im Kampf mit der Naturwissenschaft und mit Darwin,
Kierkegaard, der Marxismus und schließlich Voluntarismus und
Lebensphilosophie, praktisch also Schopenhauer und Nietzsche.
Das fünfte Kapitel verhandelt die wichtigsten modernen theologischen
Richtungen, immerhin unter Einschluß der Erlanger Schule
und M. Kählers, den theologischen Kantianismus (J. Kaftan!), Har-
nack und schließlich „Verschiedene Bewegungen in der Theologie",
wobei überraschenderweise nicht nur Strömungen wie die radikale
Kritik, die Lutherrenaissance, sondern auch Bultmann, Troeltsch
und Karl Barth bemerkenswert heruntergespielt werden. Eine
Zurückhaltung, die den Anschein erweckt, als wollte Tillich den
offiziellen Bewertungen der Geschichtsmächtigkeit dieser Theologien
noch nicht beitreten und gleichsam mit eigener Hand die
Tür zu den Entwicklungen offenhalten, die sich noch vor unseren
Augen ereignen können. Tillichs deutliches Engagement gilt jedenfalls
den Dramen der Geistesgeschichte, die vorausgehen.

Natürlich spürt man dem Buch an, daß es nicht von Tillich zur
Veröffentlichung selbst zubereitet worden ist. Es ist ausgezeichnet
ebenso durch Großartigkeit wie durch Großzügigkeit der Betrachtung
. Es ist aufschlußreich, weil wir hier Tillich mit dem historischen
Stoff beschäftigt sehen, der sonst nicht sein Feld war. Und
es ist in jedem Betracht des Dankes wert, daß der Herausgeber
uns den Text zugänglich gemacht hat.

An Druckfehlern fielen mir auf: S. 14: .suiipsius" statt „sui ipsius"; S. 16:
.irregenetorum' statt .irregenitorum'; ebd. .Nicholaus" statt „Nikolaus"; S. 150:
Trcndelenburgs Rufname war Adolf (so auch S. 249 zu korrigieren); S. 181, Anm.
„Kasper' statt .Kaspar"; S. 225: .Bartsch" statt „Bartsch"; S. 229 mufj es heihen
.religionsgeschichtliche Schule"; S. 248 ist .Hofmann' statt .Hoffmann" zu lesen.

Göttingen Wolfgang T r i 1 1 h a a s

Hoffmann, P. Norbert, ss.ee.: Natur und Gnade. Die Theologie
der Gottesschau als vollendeter Vergöttlichung des Geistgeschöpfes
bei M. J. Scheeben. Rom: Verlagsbuchhandlung der
Päpstlichen Universität Gregoriana 1967. XVI, 398 S. gr. 8° =
Analecta Gregoriana. Cura Pontificiae Universitatis Gregorianae
edita Vol. 160. Series Facultatis Theologicae: Sectio B, n. 51.
Lire 5.000 ($ 8.35).

Der letzte Sinn auf den die Gnadenlehre Scheebens hingespannt
ist, „das .Woraufhin', auf das die Geistkreatur ihrem ganzen
natürlichen und übernatürlichen Sein nach hinentworfen ist", ist
die visio beatifica (3). Dabei vertritt Scheeben eine „größtmögliche
Transzendenz" und eine „größtmögliche Immanenz" der Gottesschau
(80), denn sie erfüllt die zwei „Bedingungen wahrhafter Vergöttlichung
", die „Gottartigkeit" und die „Mitteilbarkeit" (82) „Wie
kaum einem zweiten hat es Scheeben die einzigartig göttliche
Erhabenheit der visio angetan. Nichtsdestoweniger ist er auch wie
selten ein anderer besessen von dem Streben, diese selbe göttlich
erhabene Erkenntnis - die auf Grund des desiderium naturale
dem kreatürlichen Geist grundsätzlich mitteil bar ist -, diesem
auch tatsächlich so mitgeteilt und immanent gemacht sein
zu lassen, daß sie wahrlich sein Akt ist" (356f.). Die Ausrichtung