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Ausgabe:

1968

Spalte:

43-45

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Benrath, Gustav Adolf

Titel/Untertitel:

Wyclifs Bibelkommentar 1968

Rezensent:

Karpp, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 1

4+

KIRCHENGESCHICHTE: MITTELALTER

Benrath, Gustav Adolf: Wyclifs Bibelkommentar. Berlin: de
Gruyter 1966. XU, 415 S., 2 Taf. gr. 8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte
, hrsg. v. K. Aland, W. Eltester u. H. Rückert,
36. Lw. DM 58.-.

Seit alters gehört zum geschichtlichen Bilde Wyclifs die Feststellung
, daß er seine Kritik am kirchlichen Leben und Lehren
in besonderer Weise auf die Autorität der Hl. Schrift gründete
. Dem Zusamenhang seines Schriftprinzips und seiner Schriftauslegung
mit seiner Theologie und seinen Reformmaßnahmen
genauer nachzugehen, mußte daher schon immer zu den lohnenden
Aufgaben in der Erforschung des Mittelalters gehören.
Solche Untersuchungen waren aber sehr erschwert, so lange nur
das Alterswerk des .Trialogus' und einige kürzere englische
Texte gedruckt vorlagen. Auch als seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts die umfassende Herausgabe einsetzte und schließ-
lich eine Gesamtausgabe der lateinischen Schriften Wyclifs in
36 Bänden erschien (1883-1922), blieb sein exegetisches Hauptwerk
- der Bibelkommentar, von dem man aus alten hussi-
tischen Katalogen wufjte - ungedruckt und so gut wie unbekannt
.

Im 20. Jahrhundert änderte sich die Lage. Man wurde auf
benannte Handschriften der neutestamentlichen Kommentare
Wyclifs in Prag aufmerksam, und Beryll Smalley erkannte bei
ihren Forschungen zur Geschichte des Bibelstudiums im Mittelalter
, dafj eine Anzahl anonymer alttestamentlicher Kommentare
in Oxforder Handschriften Wyclif gehöre.1 Für die Datierung
war es wichtig, dafj Frau Smalley in einem Prolog zum
Hohenliede das sog. Principium wiedererkannte, d. h. die Antrittsvorlesung
, die W. bei seiner theologischen Promotion i. J.
1372 hielt. Es ergab sich schließlich, dafj von den 8 Teilen, in
die W. (nach älterem Vorbild) seine Auslegung der ganzen Bibel
eingeteilt hatte, fünf erhalten sind. Es fehlen 3 Teile über
das AT, nämlich die Kommentare zum Pentateuch (I), den
Geschichtsbüchern (II) und (bis auf kleine Proben) zu den
Sprüchen und zu den Apokryphen (V).

Unter diesen neuen Voraussetzungen stellte sich G. A. Benrath
die Aufgabe seiner Heidelberger Habilitationsschrift. Man
hätte an eine Ausgabe des wiedergefundenen Bibelwerkes denken
können oder an eine nach Themen geordnete Ausschöpfung
seines theologischen und kirchengeschichtlichen Gehaltes. Der
Verf. schlägt einen Weg ein, der zwischen diesen beiden Möglichkeiten
verläuft. Sein Ziel ist es zwar, die theologischen Leitgedanken
des Exegeten zu erheben; aber dazu wählt er als Mittel
einen Gang durch die ganze Reihe der vorhandenen Kommentare
. Er beginnt also - da ja Teil I und II verloren sind -
mit Hiob, den W. mit dem Prediger als die „didaktischen
Schriften" zusammenstellte, taid endet mit der Offenbarung
des Johannes. Diesen vom Kanon der Vulgata bestimmten Aufbau
gliedert B. im NT auch nach sachlichen Gesichtspunkten.
Er stellt innerhalb der Evangelienauslegung folgende acht Themen
auf: die Prologe und die Anfangskapitel, das Gesetz
Christi, die Gleichnisse, die Wunder, die Lehre des Johannesevangeliums
, die Leidens- und Ostergeschichte, die Nachfolge
Christi und Wyclifs theologische Exkurse. Innerhalb der ntl.
Briefe behandelt er zunächst die historische, dann die theologische
Auslegung.

Es ist kein Zufall, daß die Untersuchung der Evangelienkommentare
mehr als ein Drittel des ganzen Buches einnimmt;
denn sie zeigt am deutlichsten, worauf es W. in seinem Bibelverständnis
ankommt. Zunächst ist freilich wenig Eigenes in
6einen Kommentaren zu erkennen; man sieht vielmehr, wie
sehr der junge Lehrer sich der herkömmlichen Art der Exegese
und ihrer Hilfsmittel bedient. Aufjer der gängigen Bibelglosse
haben ihm die Minoriten Petrus Aureoli und Nikolaus von Lyra
den größten Teil des geschichtlichen Materials und auch der
reichlich formalistischen und schematischen Bearbeitung über-

') Oberlieferungsgeschichtlich ist es von Interesse, daß die Hss. in Wien und
Prag nur die Kommentare zum NT bieten.

mittelt. Aber von früh an läfjt sich auch beobachten, wie W. zu
den älteren Vätern, namentlich Augustin, zurücklenkt. Von Lyra
unterscheidet er sich vor allem darin, daß er den geistlichen
Sinn höher einschätzt und daher viele historische Deutungen
Lyras wieder aufgibt. W. ist überzeugt, daß der weitgefaßte
Literalsinn die Grundlage jeder Auslegung bildet, daß aber
die biblischen Autoren selbst den mehrfachen Sinn beabsichtigt
haben; dieser ist ihm keine Willkür, solange er sich im Rahmen
der kirchlichen Lehre und der Exegese der Väter hält.

Aber eben in dieser Bindung der Schrift an die Kirche geht
W. insofern seinen eignen Weg, als ihm der Abstand der Kirche
seiner Zeit von der idealen, wenn auch nicht sündlosen Ur-
kirche immer wichtiger wird. Das bedeutet einerseits, daß er
zunehmend Kritik an der derzeitigen Christenheit übt, andererseits
, daß er die biblische Botschaft als sittliches Gebot versteht
, das in Christi Person und Lehre mit vollendeter Klarheit
und Einfachheit entgegentritt und die ganze Kirche nicht weniger
als den einzelnen zur Nachfolge in Armut und Demut bis
hin zum Verzicht der Kirche auf irdische Macht verpflichtet.

Art und Inhalt der Schriftauslcgung zeigt B. in seinem
Durchgang durch die Texte sehr klar und eindringlich auf. Seinen
Inhaltsangaben und Obersetzungen fügt er ausführliche
Belege aus den ungedruckten Texten bei, teils in den sehr zahlreichen
Anmerkungen, teils in einigen größeren Textanhängen.
Wenn man aus der Fülle des Mitgeteilten einiges herausheben
will, so ist einmal darauf hinzuweisen, daß W. großes Interesse
für die Voraussetzungen des Schriftverständnisses zeigt; ihnen
galt auch seine Antrittsvorlesung. Sein betontes „Schriftprinzip"
hindert ihn nicht, alle Glaubenswahrheiten für nachträglich beweisbar
zu halten und der natürlichen Denkkraft viel zuzutrauen
. Die ihm so wichtige moralische Deutung zehrt von der
Ethik des Aristoteles und faßt mit ihm auch die christliche Ethik
als rechte Mitte auf. Eine entscheidende Voraussetzung
seines Bibelverständnisses sieht W. darin, daß er sich frühzeitig
von der nominalistischen Erkenntnislehre zur realistischen
bekehrt hat; denn in dieser rindet er die biblische wieder. Der
Realismus liefert ihm namentlich die Theorie der Zeitauswei-
tung (ampliacio temporis), d. h. die Gewißheit, daß die Dinge
aller Zeiten bei Gott gegenwärtig sind.

Seine Beobachtungen und Untersuchungen faßt B. in dem
Schlußkapitel „Realismus, Biblizismus nnd Kirchenkritik in
Wyclifs Bibelkommentar" ausführlich und mit einigen Meinen
Ergänzungen zusammen. Den Ertrag für das Gesamtbild des
Reformers kann folgendes Zitat aussprechen: „Wer den Bibelkommentar
gelesen hat, wird nicht geneigt sein, die Reformforderung
Wvclifs auf politische und nationale Motive zurückzuführen
. Solche Motive konnten sich damit verbinden, sind
aber nicht als die ursprünglichen anzusehen. Biblische Gedanken
waren es, die den scholastischen Theologen schon früh bestimmten
und allmählich zum Kritiker und Reformer der Kirche
werden ließen" (S. 336).

Die von B. eingeschlagene Methode hat ohne Zweifel zu großer
Breite der Darstellung und zu vielen Wiederholungen geführt
. Davor hätte ihn eine thematische Untersuchung bewahrt.
Sie hätte aber nicht so, wie das vorliegende Buch es tut, gleichsam
zum Mitlesen des Kommentars selber anhalten können, und
in seiner Erschließung dürfte der größte Wert des Buches zu
finden sein. Daher wird man das angewandte Verfahren billigen.
Es hat ferner aufs neue und auf sehr viel breiterer Grundlage
deutlich gemacht, wie sehr W. zwar im Bibelverständnis des Mittelalters
verharrte, es aber mehr als andere wagte die Bibel als
selbständige, unbedingt verpflichtende Autorität den kirchlichen
Autoritäten kritisch entgegenzuhalten und praktische Reformen
gemäß der lex evangelica einzuleiten.

Daß er seine Reformgedanken auf die Bibel und nicht auf
seine Teilnahme am nationalen Leben zurückführte, daß sein
Bibelverständnis im Rahmen des umfassenden Gottesgesetzes
blieb und daß er philosophisch dem Realismus anhing, war schon
bekannt. Aber die Erforschung des Bibelkommentars macht dies
alles und überhaupt Wyclifs Entwicklungsgang einschließlich der
Abendmahlslehre sehr viel deutlicher. B. konnte zeigen, wie