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Ausgabe:

1968

Spalte:

592-595

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Brecht, Martin

Titel/Untertitel:

Die fruehe Theologie des Johannes Brenz 1968

Rezensent:

Koch, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 8

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nurigen in die Einzelzüge hinein nachzugehen, wäre eine dringende
Aufgabe. Wir können nur einiges herausgreifen. Hacker
deutet Luther hinein in die Spannung: liebend sich-hingebende
Demutstheologie, trotzend-aufbegehrendes Insistieren auf der
gläubigen Selbstgewißheit. Daß es für Luther wie etwa im Ga-
later- und im ersten Johannes-Brief um die Ehre Gottes in der
Chris'tuszuwendung sowie um die ewige Errettung von Menschenseelen
aus Gottes esclmtologischem Gericht geht, Übersicht
er mit der neuprotestantischen Lutherdeutung; Luther beruft sich
unermüdlich auf Hes. 33,8 ff. und Apg. 13,51; 18,6; 20,26 (siehe
hierzu A. Peters: Glaube und Werk, 1967 2. Aufl., und O. Mo-
dalsli: Das Gericht nach den Werken, 1963). Hacker realisiert
nicht, dafj bereits die mittelalterliche Theologie durch ihre
Beichtpraxis sowie durch ihr einseitiges Insistieren auf das Gewicht
der Werke im Gericht Gottes die Incurvatio des Frommen
auf sich selbst eingeleitet hat; Luther nimmt dies Geschick an,
um es gerade im Hinblick auf den Glauben zu überwinden. Unermüdlich
schärft er ein, dafj der echte Heilsglaube nicht auf sich
selber reflektiert, sondern sich in Gottes Verheißung hineinbirgt.
Fraglos hat auch Luther hier und da mißverständlich und vorschnell
formuliert; dafj für ihn jedoch Gott-Vater durch Christus
im Geist uns durch das „Pro nobis" des Heilswerkes ganz für
sich haben will, hätte eine inhaltliche Analyse der Credo-Deutung
im Kleinen Katechismus zeigen können (vgl. S. 21 ff.).

Eine analoge Verzerrung kennzeichnet das Kapitel über die
Liebe. Bis an sein Lebensende rang Luther mit der Wittenberger
Gemeinde um jene selbstlose Liebe, welche allein aus dem durch
Gott gewirkten Heilsglauben erwächst (vgl. S. 196); diese Liebe
allein steht nicht mehr unter dem Fluch des Gesetzes. Die in
ihr gewirkten Werke haben für ihn Ewigkeitsgehalt und leuchten
an den verklärten Leibern der Vollendeten zur Ehre Gottes
(siehe die Belege bei A. Peters: Glaube und Werk, S. 113-136,
und Realpräsenz 1966, 2. Aufl., S. 140-164). Insofern ist die
Liebe bei Luther keineswegs herausgelöst aus der fururisch-
eschatologischen Dimension. „Auf diese Weise lassen wir nu zu,
daß die Christen Verdienst und Lohn bei Gott haben, nicht dazu
daß sie Gottes Kinder und Erben des ewigen Lebens werden,
sondern den Gläubigen, die bereit solchs haben, zu Trost, daß
sie wissen, daß er nicht wolle unvergolten lassen, was sie hie
umb Christi willen leiden . . . Das heißet nicht Vergebung der
Sünde noch den Himmel verdienet, sondern Vergeltung des Leidens
mit deste großer Herrligkeit" (WA 32/543,1; zur Korrektur
der Aussagen auf S. 158.200).

Die Behauptung, daß der Reformator den Artikel vom Gericht
aus seiner Theologie verdrängt habe (S. 38.65.72.328), folgt
ebenfalls der neuprotestantischen Deutung und widerstreitet den
Texten, wie vor allem Modalsli gezeigt hat. Gerade weil Luther,
wie kaum ein Theologe vor ihm, um Gottes Gericht wußte, drang
er auf das Fliehen vor dem heiligen Gott unter die ausgebreiteten
Kreuzesarme Christi. Grotesk ist deshalb die Gegenüberstellung
auf S. 320: „Darum hat die christliche Frömmigkeit in der
Stimme des Gewissens den Anruf des Heiligen Geistes gehört.
Luther aber führt diese Stimme auf die widergöttliche Macht,
auf den Satan zurück!'' In den von Hacker angeführten „Belegen"
insbes. aus de/ großen Galaterbrief-Vorlesung weist Luther den
satanischen Mißbrauch des Gesetzes und Gewissens zurück. Die
Anklage des Gesetzes im Gewissen darf nicht so vom Evangelium
gelöst werden, daß die Menschen in der „finalis desperatio"
versinken; Luther wehrt hier der Verzweiflung der Angefochtenen
, als biblische Paradigmen für diese Not gelten ihm Kain,
Saul und Judas. Auf der anderen Seite hat der Reformator gegen
die Antinomer an der Predigt des Gesetzes und der Aufgabe der
Gewissensschärfung unermüdlich festgehalten (siehe hierzu etwa
die Arbeit von M. Schloemann: Natürliches und gepredigtes Gesetz
bei Luther, 1961). Ähnlich verzerrende Aussagen finden sich
auf S. 313: „In der Fluchtspiritualität (kommen) die Lehren von
der Dreifaltigkeit Gottes und von der Einheit der gottmenschlichen
Person Christi nicht mehr zur Geltung ... Sie haben
keine Lebenstoedeutung mehr. Denn den Gedanken an Gott den
Vater soll der Christ ja gerade im Vollzug des heilswirkenden
Glaubens verdrängen." Sicher entfaltet Luther die christologischen
und trinitarischen Bezüge der Rechtfertigung hier und da nicht

ausführlich, wobei er sich zumeist durch die Schrifttexte leiten
läßt, aber auch oft einseitig zuspitzt. Ein Blick in das Bekenntnis
von 1528 (BoA 3/508,11-509,14; 511,12-512,41) und den Großen
Katechismus (II, 63 ff.) hätte hier jedoch vor Verallgemeinerungen
warnen können. Fraglos hat die Lutherforschung manches
versäumt, vor allem die trinitarische Verwurzelung des
Schöpfer- und Erlöserwerkes ist nur andeutungsweise erarbeitet
bei R. Prenter: Spiritus Creator, 1954; zur christologischen Begründung
siehe jetzt etwa K. O. Nilsson: Simul; das Miteinander
von Göttlichem und Menschlichem in Luthers Theologie, 1966,
S. 151-260, und A. Peters: Luthers Christuszeugnis als Zusammenfassung
der Christusbotschaft der Kirche, KuD 1967, H. 1/2.
Hackers Fehldeutung der Stellung der Liebe bei Luther spiegelt
sich wider in seinem Ausklammern des Exemplum-Charakters
Christi (S. 75); hier hätte der schöne Aufsatz von E. Iserloh:
Sacramentum und Exemplum. Ein augustinisches Thema luth.
Theologie, in der Festgabe für H. Jedin: Reformata Reformanda,
Bd. I 1965, S. 247-264, weiterhelfen können. (Als Belege von
1518 ab seien genannt: WA 1/77,4-18; WA 2/501,34-502,17; WA
5/637,25-640,11; WA 101 1/10,6-14,15; WA 12/372,2 - 374,14; WA
32/28-39).

Aus der Beobachtung, daß Luther in den Katechismen „das
die Kirche qualifizierende Wort .allumfassend', catholica, durch
.christlich' ersetzt hat", möchte Hacker folgern: Wegen des Vorherrschens
des Ich in seinem Glaubensfoewußtsein habe Luther
die Kirche niemals in ihrer katholischen Weite zu Gesicht bekommen
können (S. 24); wie der „mehr politische Begriff Christenheit
" zeige (S. 273), beginne sich bei Luther die katholische
Kirche auf die Gemeinden zu reduzieren; Luthers Lied von der
„werten Magd" sei ein in das EKG nicht aufgenommenes „Hcim-
wehlied" (S. 274). Hacker hätte in J. Meyers Historischem Kommentar
zum Kleinen Katechismus, 1929, S. 95 finden können,
daß der konservative Luther mit „christlich" nur die seit dem 15.
Jahrhundert übliche Wiedergabe des „catholica" aufgreift (WA
50/283); im Bekenntnis von 1528 hätte er gefunden, daß der Reformator
gerade gegen die dogmatische, rituelle und kirchenrechtliche
Eingrenzung der allein im Glauben vereinten Christenheit
auf die römische Kirche protestiert (BoA 3/512,14-31); Luthers
Kirchenverständnis muß ihm jedoch fremd, affektgeladcn
und widersprüchlich erscheinen (S. 259), weil für ihn das „versammlet
geistlich in einem Evangelio und Glauben unter ein
Häubt" keine lebensmächtige Realität ist. Mit P. Althaus wird
ferner behauptet (S. 219-223), der Koinonia-Ccdanke des Abcnd-
mahlsermons von 1519 klinge nur bis 1524 bzw. 1526 nach, obgleich
der Rezensent dies schon 1960 (Realpräsenz, S. 156-159)
richtig gestellt hat; auch in den späteren Sakramentspredigten
wird die Koinonia erwähnt; da Luther sie jedoch nicht auf das
Abendmahl beschränkt, findet sie sich in vielen Zusammenhängen
; eines der schönsten Beispiele sind die Reihenpredigten über
das Hohepriesterliche Gebet Jesu von 1528 (BoA 7/237,5-239,8;
250,7-254,7). Ferner übersieht Hacker daß Luther an der göttlichen
Einsetzung des Predigtamtes festhält (S. 267-273); hier
hätte die instruktive Arbeit von H. Lieberg: Amt und Ordination
bei Luther und Mclanchthon, 1962, die Verzeichnungen überwinden
helfen können.

Damit möge es ein Bewenden haben. Die Arbeit von Hacker
projiziert weithin den Neuprotestantismus in Luther hinein und
vergröbert auch noch dessen Glaubensverständnis. Die wirklich
wichtigen Kontroversfragen werden wir jedoch erst dann zu Gesicht
bekommen, wenn Luther in seiner inneren Einheit und Geschlossenheit
rezipiert ist. Hierzu trägt diese Studie vielleicht
insofern bei, als sie der „protestantischen Lutherforschung" einen
negativen Spiegel vorhält.

Heidelberg Albrecht Peters

Brecht, Martin: Die frühe Theologie des Johannes Brenz.

Tübingen: Mohr 1966. VIII, 331 S. gr. 8° = Beiträge z. historischen
Theologie, hrsg. v. G. Ebeling, 36. DM 23.— ; LW.
DM 28.50.

Vor 40 Jahren, im Jahre 1927, erschien die bisher letzte
Monographie zur Theologie des Johannes Brenz, O. Frickes