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Ausgabe:

1968

Spalte:

589-592

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hacker, Paul

Titel/Untertitel:

Das Ich im Glauben bei Martin Luther 1968

Rezensent:

Peters, Albrecht

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 8

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erwartungsgemäß auf die Kirchenzucht, für die Ratsmitglieder als
Diakone und Superattcndenten als die verantwortlichen Laien bestellt
werden. Die Verantwortung der Laien kommt schon dadurch
grundlegend zum Ausdruck, daß die KO von „Schultheis, Meister
und Rat der Stadt" erlassen ist. „Aus dem Zusammenspiel von
evangelischer Bewegung und der Stadtpolitik der Magistrate hat
sich ein Reformationswerk entwickelt." Die KO ist eine der
kürzesten ihrer Gattung. K. ordnet sie in die Geschichte der oberdeutschen
KO ein, wobei die Präzision ihrer Formulierungen und
ihr seelsorgerliches Anliegen gebührend hervortreten. Auf den
Gengenbacher Katechismus wird in Teil IV des einführenden Aufsatzes
neu eingegangen.

An dem Recht der grundlegenden Diehlschen Unterscheidung
ist nicht zu zweifeln; sie hat sich in der Forschung schon vor ihm,
erst recht aber nach ihm voll bewährt. K. wird darin gewiß beizupflichten
sein, daß sie auch im Fall Gengenbach gilt, und er tut
recht daran, die Momente hervorzuheben, durch welche die „Bewegung
" beleuchtet wird. Von einem Musterbeispiel zu reden,
dürfte aber bei der Armut des Quellcnmaterials gewagt sein. Man
Wird wohl auch bedenken müssen, daß einem Festvortrag auf
einem hochgestimmten Gemeindejubiläum in der Kritik der
Frömmigkeit der Vorfahren Grenzen des Taktes gesetzt sind.
Wer die veröffentlichten drei Urkunden studiert, liest auch ohne
den ausdrücklichen Hinweis des Verfassers aus ihnen ab, wie tief
Aberglaube, Unglaube und katholischer Altglaube in den Seelen
saßen, als 1538 Rat und Geistlichkeit ihre Zuchtordnung erließen.
Die reformatorische Bewegung war bis 1538, besonders in den
ländlichen Distrikten, nicht durchgedrungen, und was in Zukunft
praktiziert werden sollte, ist nicht mehr der Bewegung, sondern
dem gezielten Einsatz eines gefestigten Kirchentums zuzurechnen.
Sympathisch wirkt, dafj die KO verschiedentlich vor Bloßstellung
Und entehrenden Strafen warnt, weil sie nur zu Opposition und
Verbitterung führen. Die bemerkenswerte seelsorgerliche Milde
sei unvergessen. Es drängt sich aber die Frage auf i ist so sehr zu
verwundern, daß die Gegenreformation das evangelische Kirchen-
lum in Gengenbach niederwarf, wenn die Schäden im Glaubensleben
und in der Moralität in den drei Quellen realistisch gekennzeichnet
sind? Daß nach dem unglaubwürdigen Schema der Bußprediger
gearbeitet wäre, würde bei dem überzeugenden Lob der
Originalität und Lebenswahrheit der KO schwer zu vertreten sein.
Hat die Zuchtordnung gehalten, was man sich von ihr versprach?

Rostock Gottfried H o I t z

KIRCHENGESCHICHTE:
REFORMATIONSZEIT

Hacker, Paul: Das Ich im Glauben bei Martin Luther. Graz-
Wien-Köln: Verlag Styria [1966]. 356 S. 8". Lw. DM 28.-;
»fr. 33.25; ö.s. 180.-.

Mitten in der Zeit der ökumenischen Eisschmelze hat Paul
Hacker, wie die Einführung von Joseph Ratzinger (S. 7-9) sagt,
eW „mutiges Buch" verfaßt, „vom sanetus amor veritatis bewegt".
O» ihm verficht er die These: Bereits 123 Jahre vor dem Erscheinen
der Mcditationes des Descartes habe Luther die katholische
Einheit der objektiv-sakramentalen Kirche aufgesprengt, indem
•* einen „vorphilosophischen, religiösen Cartesianismus" (S. 13)
"es Glaubens lehrte, d. h. mit Hilfe der „Reflexivitätsdoktrin
den Glauben an den eigenen Glauben" (S. 62) zum Hebel der
Selbstsicherung mißbrauchte und hierdurch seine Spiritualität
korrumpierte (S. 130 ff.). Mitten in der spätmittelalterlichen
Krouzesthcologie habe sich jener „Parasit" eines „reflexiven,
aPPrehensiv-statuierendcn Glaubens" (S. 98) gebildet; in Augs-
burg habe Gott durch Kardinal Cajetan Luther die letzte Chance
Segeben, diese Reflexivitätsdoktrin zu widerrufen (S. 141); jener
habe jedoch Gottes Ruf zur Umkehr ausgeschlagen, so sei Augs-

Urg zum Ende der kaum begonnenen Reformation und zum Beginn
des Protestantismus geworden (S. 59.150). „Die Geltung der
gerühmten Dreiheit: .Allein die Gnade, allein der Glaube, allein
f*J Schrift'" beruhe „auf einer Selbsttäuschung" (S. 236); jenes
Dreigestirn bildete lediglich den fruchtbaren Nährboden für den

arasiten des reflexiven Glaubens.

Mit bewundernswert kurzsichtig-scharfsinniger Inquisition der
Quellen führt Hacker seine These durch sieben Kapitel und zwei
Anhänge durch. Das inhaltliche Gewirkt- und Ausgerichtetsein
des Glaubens auf Gottes des Vaters Heilshandeln durch den Sohn
im Geist blendet er ab und interpretiert Luthers Wendungen vom
„statuere, apprehendere und exercere" des Glaubens als hybriden
Versuch, sich dem personalen Gottesbezug zu entziehen und sich
des Herrn durch das Mittel einer forsch-trotzigen Selbstgewißheit
zu bemächtigen (S. 52 ff.). Dabei erscheint der Glaube als
„krampfhafte Anstrengung" und menschliche Leistung (S. 184), als
„Methode der Heilssicherung" (S. 185) und religiöser Psychologismus
(S. 186), als eine mechanistische Entpersonalisierung der
Gott-Mensch-Relation (S. 196 f.); im psychologischen Krampf des
Reflcktierens sowie im Aufstöhnen egozentrischer Daseinsangst
vermeine Luther das Abba-Rufen des Heiligen Geistes zu vernehmen
(S. 165).

Im I. Kapitel über den neuen Glaobensbegriff (S. 21-64)
meint Hacker zeigen zu können, daß der Reflexionsbegriff des
Glaubens 1518 ins Zentrum rückt (S. 31), verbunden mit einem
psychologischen Erlebnis zufriedener Heilssicherheit (S. 41); hieraus
erwachse Luthers Forderung, das Statuieren persönlichen
Heilsglaubens einzuüben, verwandle sich jenes ihm doch zur Bedingung
der Rechtfertigung (S. 52).

Im II. Kapitel: „Allein die Schrift?" (S. 65-96) kann Hacker
ohne große Mühe nachweisen, daß sich jene Karikatur des Glaubens
schwerlich auf die Schrift berufen kann; in der Bibel habe
der Einzelne seinen Ort noch im Bundesvolk (S. 84 ff.) und sei
vom „sakralen Gemeinschaftsbewußtsein" umschlossen (S. 96);
zudem lehrten Jakobus wie auch Paulus, „daß das endgültige
Heil oder Unheil des Menschen von seinen guten oder bösen
Werken mitabhängt" (S. 94, Anm. 40).

Das III. Kapitel mit der charakteristischen Überschrift: „Von
der Kreuzestheologie zum Zusammenbruch" (S. 97-151) schildert,
wie Luthers Doktrin des reflexiven Glaubens die echte Ergebung
in den unerforschlichen Gotteswillen aushöhlt und korrumpiert,
sei Luther doch der Versuchung erlegen, Seelenfrieden und Gewissenstrost
ängstlich-trotzig zu erzwingen (S. 139). Hierdurch
habe sich der an der Kreuzestheologie genährte Parasit des
reflexiven Glaubens systematisch, psychologisch und geschichtlich
zum Initiator der protestantischen Bewegung aufgeschwungen
(S. 150). In Zustimmung und Kontroverse zu E. Bizers Fides
ex auditu präzisiert der Verfasser im L Anhang (S. 324- 346)
diesen Wandel, indem er „mindestens drei wesentliche Schritte
auf dem Wege Luthers vom Katholiken zum Protestanten" konstatieren
zu können meint: „1. die Aufstellung der Doktrin des
reflexiven Glaubens, 2. das Befreiungserlebnis, 3. die Verfestigung
der Reflexivitätsdoktrin zum Instrument verfügbarer Sclbst-
tröstung" (S. 345).

Das IV. Kapitel (S. 152-203) möchte in der „Verdrängung
der Liebe aus der Mitte der Theologie und des geistlichen Lebens
" (S. 166) und in ihrer Säkularisierung (S. 172) die zwangsläufige
Konsequenz der Reflexivitätsdoktrin sehen. Hacker sieht
zwar, daß Luther insbesondere in seinen Predigten die Liebe
weiterhin verherrlicht (S. 174 f.), möchte dies jedoch als Nachwirken
des katholischen Erbes deuten.

Kapitel V (S. 204-237) interpretiert die Sakramente als
Ubungsmittel, einen „ichbezogenen Bcwußtseinsikult" zu zelebrieren
(S. 213), wobei das „objektiv" Vorgegebene etwa der Realpräsenz
sowie auch der Schrift (S. 217 f.) gleichsam als das
Sprungbrett erscheint, mit Hilfe dessen man sich in die Glaubenssubjektivität
transzendieren kann. Kap. VI (S. 238-274) soll
zeigen, wie die subjektive Gewißheit des Einzelnen die vorgeordnete
Lehrgemeinschaft der Pagstkirche auflösen muß. Das abschließende
Kapitel VII (S. 275-323) versucht diesen Glaubenswandel
als forsch-trotzige Perversion der darunterbleibenden Demutsgeistlichkeit
zu fassen und die These zu untermauern, daß
es sich bei der Reformation letztlich um eine fehlgeleitete Spiritualität
gehandelt habe (S. 306) j durch trotzende Forschheit suchte
Luther seine innere Angst und Unsicherheit niederzuzwingen.

Hackers Deutung des Reformators ist in gewisser Weise das
negative Zerrbild des „protestantischen Luther". Den Verzoich-