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Ausgabe:

1968

Spalte:

573-574

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Mensching, Gustav

Titel/Untertitel:

Soziologie der großen Religionen 1968

Rezensent:

Holsten, Walter

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57a

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 8

574

RELIGIONSWISSENSCHAFT

Mensching, Gustav: Soziologie der großen Religionen. Bonns
Röhrscheid [1966]. 343 S. 8°. DM38.-.

Mensching, der sich der von Max Weber, Ernst Troeltsch und
Joachim Wach vertretenen älteren, „klassischen" Religionssoziologie
zuzählt, und zwar nicht die Frage nach dem Wesen der Religion
stellt, wohl aber religiöses Erlebnis voraussetzt, legt nach seiner
1947 erschienenen „Soziologie der Religion", von der eine zweite,
neu bearbeitete Auflage zu erwarten ist, eine „Soziologie der Religionen
" vor, in der er den Wechselbeziehungen von Religion und
Gemeinschaft, den soziologischen Strukturen und ihren religiös-
erlebnishaften Voraussetzungen nachgeht: bei Naturvölkern, im
chinesischen Universismus, im Shinto, im Hinduismus, im Buddhismus
, in der „israelitischen Religion", im Christentum und im
Islam. Dabei geht es um das Verständnis der soziologischen Gegenwartsverhältnisse
auf der Basis der Geschichte. Es wird freilich
nicht deutlich, in welchem Sinne die behandelten Religionen als
«große" behandelt werden. Da es sich nicht um ihre Anhänger-
Zahl handeln kann, auch nicht in allen Fällen um Weltreligionen,
Wird man sie als die lebenden Religionen verstehen müssen. Die
Darstellung gibt ein überaus reiches Bild von den genannten Religionen
unter soziologischen Aspekten. Überblickt man das Ganze,
so zeigt sich, daß die Untersuchung des Hinduismus und des
Buddhismus (angehängt ist in Kürze „der heterodoxe Orden der
Jainas") durch besondere Geschlossenheit ausgezeichnet ist. Die
abschließende Feststellung des Hinduismuskapitels verdient hervorgehoben
zu werden: „Die Kastenordnung und das Leben in ihr
muß man sich eingebaut denken in die übergreifende Zielsetzung
indischer Lebensanschauung. Die Einheit, der Höchstwert, von
dem alles gestaltete Leben seinen Ausgang nahm, ist zugleich das
absolute Ende der Lebensbewegung ... So ist auch die Kastenordnung
für den Hindu nur eine Ordnung dieses vordergründigen,
endlichen und vergänglichen Lebens, eben des Geburtenkrcislaufs.
dem . . . nur vorübergehende Bedeutung zukommt" (S. 108). Am
wenigsten befriedigen die Kapitel über die „israelitische Religion"
(und das Christentum). Man wird freilich den Satz von W. F. Wcrt-
heim im Auge behalten müssen: „Für einen Theologen sind hauptsachlich
die Unterschiede von Bedeutung; der Soziologe ist in
erster Linie an den Gemeinsamkeiten verschiedener Religionen
mteressiert" (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho-
•ogie. Sonderheft 6, 1962, S. 181). Aber die Darstellung steht unter
einem antitheologischen Ressentiment. Eine „ganz nur der geschichtlichen
Wahrheit verbundene, völlig undogmatische Darstellung
" wird dem Bemühen der Theologie entgegengestellt, „eine
AT und NT umfassende Heilsgeschichte zu konstruieren" (S. 155),
und die „leider noch heute herrschende sog. .dialektische Theologie
'" (S. 216; 268) wird wie allgemein eine „durch Hochmut,
Herrschsucht und Unduldsamkeit" (S. 53) ausgezeichnete Orthodoxie
beklagt. Es könnte zwar mit dem zitierten Satz Wertheims
Zusammenhängen, daß für Mensching das Sinai-Ereignis „zum
Mythos eines Kultdramas" (S. 199) wurde. Daß dagegen Jahve
-einseitig den Anspruch seines Volkes, auch wenn er zu Unrecht
erhoben wird", verteidigt und vertritt, daß der Inhalt der Gebote
-das dem Volke Dienliche", „nicht ein Reich an sich gültiger Werte"
■st und darum von einer „ausgesprochenen Volkscthik" (S. 164)
die Rede ist, dürfte mindestens dem Sclbstverständnis Israels nicht
entsprechen, zumal wenn Volksethik - im Zusammenhang der
Naturvölker - auf die Formel gebracht wird: „Recht und gut ist,
Was der Gemeinschaft nützt, unrecht und böse ist, was ihr schadet"
v-5- 32). Es ist nicht recht verständlich, dafj die nachexilische Gemeinde
„ihrer Idee nach" eine „Wahlgemeinschaft" wurde, „zu der
man, d. h. jeder Einzelne sich in freier Entscheidung bekennen
mußte", wenn doch die „israelitische Religion . . . bis heute ihrer
Struktur nach eine Volksreligion", also eine „Vitalgemeinschaft"
Wieb (S. 184). Es klingt etwas boshaft, wenn im Zusammenhang
mit dem Bemühen der Pharisäer um Erfüllung der Gebote gesagt
^)rd: „Erfinder dieser Technik waren die Schriftgelehrten" (S. 205).
°ie Pharisäer werden zu den Sekten gezählt, im gleichen Atemzug
~ eine Art Bruderschaft genannt (S. 205). Man mag zwar zugeben,
°aß. soziologisch gesehen, der Protestantisums ursprünglich eine
&ekte war, obwohl man bezweifeln muß, daß ihm „die für eine

Sekte charakteristische Lebendigkeit der kleinen Kreise persönlich
Entschiedener eigentümlich war" (S. 254). Aber man wird nicht
den Protestantismus als „vollendeten religiösen Individualismus"
bezeichnen können, zu dem Kirche als Organisation in absolutem
Gegensatz stehe (S. 255). Offensichtlich wird die Reformation vom
Pietismus her, der auch als Sekte bezeichnet wird, verstanden,
wenn Luthers Anliegen darin gesehen wird, „die urgemeindlichen
Lebensformen des Christentums wiederherzustellen" (S. 222). Dagegen
wird das Wort von der „Vielfältigkeit der z. T. nicht durch
den Auftrag der Kirche gerechtfertigten Funktionen" (S. 270) der
Kirche in der Nachkriegszeit ernsthaft zu bedenken sein. Daß die
orthodoxe Kirche „nur einen Orden, den der Basilianer" (S. 244)
kennt, widerspricht Friedrich Heilers Feststellung in „Urkirche
und Ostkirche" (München 1937, S. 380). Es fällt auf, daß es eine
ganze Reihe von Begriffen aus dem christlichen Bereich sind, die
in dieser Soziologie zur Charakterisierung allgemeiner religionsgeschichtlicher
Tatbestände verwendet werden. Es ist die Rede
nicht nur von der israelitischen Kirche, sondern auch von der
lamaistischen, der gelben und der roten (S. 147), vom Kastenkonzil
(S. 103), von der Kurie Israels (S. 200), von Exkommunizierung,
die es im Islam nicht geben kann (S. 223), vom Islam als einer
charismatischen Gemeinschaft (S. 316; 313). Es ist aber auch vom
Standpunkt des modernen Abendländers aus gesprochen, wenn
Berichte des Mythos über urzeitliches Geschehen „phantastisch"
genannt werden (S. 19). Offen bleibt, in welchem Sinne man unter
den numinösen Mächten den Hochgott an erste Stelle setzen kann
(S. 33), und nachweisbar ist wohl nicht, daß es sich bei den sogen.
Ressortgöttern um „die Spaltung einer früheren Einheit des Numinösen
" (S. 35) handelt. Aber das sind Fragen, die bei der Bewältigung
einer solchen Stoffülle wohl unvermeidlich offenbleiben;
daß sie in einer kleinen Auswahl genannt sind, soll dem großen
Wurf dieser „Soziologie der großen Religionen" keinen Abbruch
tun.

Mainz Walter Holsten

Fuchs, Stephen: Rebellious Prophets. A Study of Messianic
Movcments in Indian Religion. London: Asia Publishing House
[1965]. XV, 304 S. 8° = Publications of the Indian Branch of
the Anthropos Institute, 1. Lw. 45 s.

Den indischen Zweig des Anthropos-Institutes, der mit diesem
Buche den ersten Band seiner Publikationsreihe vorlegt, kann man
zu einem guten Anfang beglückwünschen. Stephen Fuchs, Mitglied
der S. V. D., beschreibt nicht die weithin aus Indien bekannten
religiösen Reformideen, die, von Ram Mohan Roy bis zu Gandhi
und Aurobindo, aus dem traditionellen Hinduismus und seiner
Auseinandersetzung mit westlichen und hier speziell christlichen
Gedanken hervorgegangen sind. Aus langjähriger Indienerfahrung
und aus der umfassenden Kenntnis eines weit verstreuten und
in Europa teilweise unzugänglichen Schrifttums in Einzelpublika-
tionen, vor allem aber in Presseinformationen vermittelt der Verf.
vielmehr ein instruktives Bild messianischer Bewegungen, die aus
der „Religion der Tiefe" - um mit Friedrich Pfister zu reden -
aufgebrochen sind, nämlich einmal aus den niedersten Kasten und
den Unberührbaren, zum anderen aus Primitivstämmen Indiens.
Durch die detaillierte Darstellung dieser Bewegungen erfährt die
Religionswissenschaft eine willkommene und dankenswerte Bereicherung
.

Zu kritischen Einwänden regt jedoch die Systematik des Verf.s
an, die nicht allein in seinen einleitenden Erörterungen zur generellen
Begriffsbestimmung messianischer Bewegungen deutlich
hervortritt, sondern auch Gliederung und Darstellungswcise der
einzelnen Kapitel bestimmt. Verf. bezieht sich hierbei auf Darstellungen
und Deutungen von G. Guariglia1, V. Lanternari2 und
W. E. Mühlmann'' und scheint besonders von des letzteren religionswissenschaftlich
völlig verfehltem Versuch beeinflußt zu sein,
wenn er schlechte soziale und ökonomische Bedingungen als Aus-

•) Prophetismus und Heilserwartungsbewegungen als völkerkundliches und
religionsgeschichtliches Problem, Horn-Wien 1959.

2) Les mouvements religieux des peuples opprimes, Paris 1962.

3) Chiliasmus und Nativismus. Berlin 1961. - Nicht herangezogen wurden
vom Verf.: Hans Jochen Margull, Autbruch zur Zukunft, Gütersloh 1952,
und F. Sierksma, Een nieuwe hemel en een nieuwe aarde, 'S-Graven-
hage 1961.