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Ausgabe:

1968

Spalte:

541-542

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lenski, Gerhard Emmanuel

Titel/Untertitel:

Religion und Realität 1968

Rezensent:

Dux, Günter

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Seite 1

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kirchlichen Diskussion um die Geburtenregelung" (Concilium
1965/5) den Ort dieses wichtigen Beitrags in der neuen, konzils-
bczogenen katholischen Eheliteratur bestimmt. Nach Böckles Einteilung
in eine pastorale, eine kasuistische und eine „radikale"
Gruppe gehört Reuss zur zweiten. Böckle will den Begriff „kasuistisch
" hier so verstanden wissen, daß er als Sammelbegriff alle
diejenigen Versuche vereinigt, „die darauf zielen, durch irgendwelche
Distinktionen bestimmte antikonzeptionelle Eingriffe
in das Aktgefüge als mit der kirchlichen Lehre vereinbar zu erklären
".

Auch nachdem Reuss in fünf weiteren Veröffentlichungen, die
in dem Aufsatzband abgedruckt sind, sein Thema variiert und
seine Thesen verteidigt hat, erscheint Böckles Ortsbestimmung
nicht unberechtigt. Sein Ansatz wird insbesondere in der Antwort
auf die Kritik P. Anselm Günthörs OSB klar herausgearbeitet.
Reuss geht davon aus, daß in der kirchlichen Lehre die aus schwerwiegenden
Gründen ausschließlich mit Anwendung der Zeitwahl
vollzogene copula als sittlich erlaubt anerkannt wird. Aus dieser
Tatsache ergibt sich für ihn die Folgerung, daß nicht jede kontrazeptive
Maßnahme absolut unerlaubt sein kann. Er setzt indessen
voraus, daß bereits die Zeitwahl ein effektives, intentionalcs Handeln
bedeutet, welches nämlich die sterile copula beabsichtigt.
Das ist in der katholischen Moraltheologic strittig; für Günthör
dient die herkömmliche Unterscheidung von volitum und volun-
tarium dem Nachweis, daß Reuss mit der Tradition bricht, für
Böckle hingegen dem Nachweis, dafj die kasuistische Differenzierung
dem heutigen Menschen nicht mehr einzuleuchten vermag
und deshalb überwunden werden muß.

Reuss selbst läßt sich durchaus von der Einsicht leiten, daß
der Mensch Person ist und seine Geschlechtlichkeit in einem ganzheitlichen
„Zielgefüge" begriffen werden muß, das auf die Vollendung
des Menschseins und letztlich auf die Verherrlichung Gottes
ausgerichtet ist. Eheliche Hingabe in gegenseitiger Liebe und
Berufung zur Elternschaft gehören gleichursprünglich zusammen.
Der mögliche Konflikt zwischen beiden Zielen ist es, der ihn
zwingt, die Tradition zu überprüfen. Reuss beschränkt sich jedoch
auf die Frage nach Parallelen der empfängnisvermeidenden Zeitwahl
, das heißt auf die Erlaubtheit von empfängnisverhindernden
Eingriffen im Hinblick auf den Vollzug der copula, betont
indessen wiederholt, er klammere die Frage nach Eingriffen, die
den Aktablauf selbst nicht unangetastet lassen, lediglich im Zusammenhang
seiner augenblicklichen Überlegungen aus. So vermag
er an die neuere Tradition anzuknüpfen. Seine Kasuistik ist
also letztlich die zugleich pastorale und kirchenpolitische Klugheit
des Weihbischofs. Er steht nicht sehr weit von der „radikalen"
Gruppe entfernt.

Hamburg Hermann R i n g c 1 i n g

Lenski, Gerhard i Religion und Realität. Eine Untersuchung
über den Stellenwert der Religion in einer Industriegroßstadt,
übers, v. M. Frenzel. Spich, Bez. Köln: Grote [1967). 258 S. 8°
= Sozialforschung u. Sozialordnung, hrsg. v. O. Neuloh, 2. Lw.
DM 29,-.

Max Weber hat bekanntlich der protestantischen Ethik entscheidenden
Anteil an der Prägung des kapitalistischen Geistes
2ugesprochen. Bevor man die Untersuchung von Lenski in die
Nachfolge der Weberschen stellt, tut man gut daran, sich zweierlei
zu vergegenwärtigen: 1. Weber hat nicht nur einen ideal typisch
kristallisierten Begriff vom „Geist des Kapitalismus" entwickelt,
sondern auch den Begriff der „protestantischen Ethik" genau be-
9renzt. Im Zusammenhang seiner Untersuchung hat er darunter
die aus einer theologischen Lehre entwickelte Einschätzung der
Berufstätigkeit verstanden: die Aussetzung einer Heilsprämie auf
eir>e innerweltliche Askese. 2. Weber hat eine Genese des kapitalistischen
Geistes, nicht eine Beschreibung seines derzeitigen
Gehaltes geben wollen. Er hat ausdrücklich betont, daß der Zusammenhang
zwischen jener Ethik und der dem Kapitalisten
eigenen Lebensführung heute (also bereits 1904/05) nicht mehr
bestehe. Heute pflege die handelspolitische und sozialpolitische
Interessenlage die Weltanschauung zu bestimmen. Religiöse Anstauungen
hätten für die geschäftliche Lebensführung am ehesten
eine negative Bedeutung: der Erfolg hänge weitgehend davon ab.
Wie weit man sich ihrem Einfluß entziehen könne - eine Annahme,

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die übrigens zum Teil durch das Material von Lenski bestätigt zu
werden scheint.

Die Studie von Lenski, in der amerikanischen Ausgabe 1961
in 1., 1963 in 2. Auflage veröffentlicht, ist Teil der Detroit Area
Study, einer großangelegten empirischen Untersuchung im Stadtgebiet
von Detroit. Ihr englischer Titel „The Religious Factor A
Sociological Study of Religion's Impact on Political, Economics
and Family Life" scheint nahezu wörtlich der Weberschen Abhandlung
über die protestantische Ethik entnommen zu sein. Schon
mit dem Begriff „religiös", wie er von Lenski gebraucht wird,
verbindet sich jedoch ein ganz anderes Untersuchungsinteresse,
als Weber im Auge hatte. Als „religiöser Faktor" wird zunächst
einmal die Zugehörigkeit zu einer religiösen Sozietät verstanden.
Die Gruppe der Befragten ist entsprechend der religiösen Repräsentanz
im Areal von Detroit unterteilt in: weiße Protestanten,
weiße Katholiken, Juden und schwarze Protestanten. Wer mit
einer großen Portion Neugier begabt ist, und ein gut Stück davon
gehört schließlich zum Beruf, kommt auf seine Kosten. „Je nach
Zugehörigkeit zu einer sozio-religiösen Gruppe wird", um Lenski
selbst zu zitieren, „die Wahrscheinlichkeit größer oder kleiner,
daß der einzelne Freude an seinem Beruf hat, daß er auf Raten
kauft, daß er spart, um ein weitgestecktes Ziel zu erreichen, daß
er an den .amerikanischen Traum' glaubt, sich der Rassenintegration
in den Schulen widersetzt, in eine andere Wohngemeinde
umzieht, eine enge Bindung an seine Familie besitzt, das Prinzip
der geistigen Autonomie vertritt, eine große Familie hat, eine
einmal begonnene Ausbildung abschließt oder sozial aufsteigt."
Dagegen bietet die Studie relativ wenig, soweit der Versuch unternommen
wurde, einen Kausalnexus zwischen den verschiedenen
Einstellungen und einer spezifischen traditionell theologischen
Lehrmeinung herzustellen. Interessant, aber nicht unerwartet, ist
das bei der Auswertung nach „Orthodoxen" und „Devotionalen" gewonnene
Ergebnis, daß die Kirchlichkeit zwar zunimmt - übrigens
nicht in einem so überwältigenden Ausmaß, wie oft für
amerikanische Verhältnisse angenommen wird -, die Bindung
an tradierte theologische Lehrmeinungen dagegen abnimmt. Der
allgemein konstatierte Trend zur sogenannten „kulturellen Religion
" wurde mithin bestätigt.

Es entspricht der bedachtsamen Anlage der Untersuchung, dem
vorsichtigen Abwägen des Für und Wider eines Ergebnisses und
seiner Ursache, daß der Verfasser selbst darauf hinweist, wie
schwer es ist, die Frage zu beantworten, wie die verschiedenen
Menschen zu den verschiedenen festgestellten Einstellungen kommen
. Lenski betont zusammenfassend ganz im Sinne der eingangs
angeführten Annahme Max Webers stark das soziale Erbe.
Das ist ein weiter Begriff. Lassen sich hier einzelne Momente
unterscheiden? Und welchen kommt besondere Bedeutung zu?
Selbst wo solche sichtbar werden, wie etwa bei einer nachweisbaren
Korrelation mit orthodoxer oder devotionaler Haltung, bleibt
die Frage offen, welche Bedeutung diesem Moment im gesamten
Weltbild zukommt. Insofern verlangt die Studie dringend ihre
Fortführung auf breiterer wissenssoziologischer Grundlage.

Ein offensichtlicher Mangel der Studie, auf den N e u 1 o h als
Herausgeber in seinem Vorwort bereits hingewiesen hat, ist die
Größe mancher Untersuchungsgruppen. Zwar ist das Ausgangssample
mit nahezu 700 Befragten an sich groß genug, aber die
Differenzierungen schaffen Gruppen, die kaum noch geeignet sind,
Tendenzen sichtbar zu machen, geschweige denn, statistisch aussagefähig
zu sein.

Die in deutscher Übersetzung vorliegende Ausgabe ist gekürzt.
Kürzungen liebt man ohnehin nicht. Unverständlich ist, weshalb
der Herausgeber gerade den politischen Teil der Untersuchung
weggelassen hat, um so mehr, als in ihm die sozio-ökonomischen
Fragestellungen im Vordergrund stehen. Nur ungern verzichtet
man bei einer empirischen Untersuchung auf die Wiedergabe des
Fragebogens.

Frankfurt/Main Günter D u x

Baden, Hans Jürgen; Hygiene der Seele (Wege zum Menschen

20, 1968, S. 82-91).
Böckle, Franz: Vordringliche moraltheologische Fragen in der

heutigen Predigt (Concilium 4, 1968, S. 182-188).
Duke, Michael Hare: First Aid in Counselling: VI. Problems of

Adolescenco (ET 77, 1966, S. 260-264).

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 7