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Ausgabe:

1968

Spalte:

448-451

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Küry, Urs

Titel/Untertitel:

Die altkatholische Kirche 1968

Rezensent:

Slenczka, Reinhard

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eidigt werden könnten". Hätte man das gewußt oder an diese
neuerliche Praktizierung des Arierparagraphen nur gedacht, so
wäre es im Frühsommer 1938 vielleicht möglich gewesen, unter
den Bedingungen für die Eidesleistung die Forderung zu stellen,
daß es auch in dieser Sache „kirchlichen Handelns" keine Sonderregelung
für Nichtarier geben dürfte. Die 4000 im Pfarramt befindlichen
Mitglieder des Pfarrernotbundes wären hier bestimmt
anzusprechen und zum Kampf aufzurufen gewesen.

Wiederum kommt also auch bei der Eidesleistung die Tatsache
heraus, dafj die „Judenfrage" das heimliche Thema der Geschichte
des Kirchenkampfes gewesen ist. Es ist ein furchtbarer Gedanke,
daß Tausende von Pfarrern im Jahre 1938 einen Treueid auf Hitler
geschworen haben und daß dann fast alle schwiegen, als die
Kristallnacht kam. Aber wen verwundert es, der auf Seite 161
lesen muß, daß selbst der Landesbischof D. Wurm noch vier Wochen
nach der Kristallnacht an den Reichsjustizminister schrieb: „Ich
bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als
ein gefährliches Element zu bekämpfen. Ich habe von Jugend auf
das Urteil von Männern wie Heinrich v. Treitschke und Adolf
Stöcker über die zersetzende Wirkung des Judentums auf religiösem
, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem
Gebiet für zutreffend gehalten und vor dreißig Jahren als Leiter
der Stadtmission in Stuttgart gegen das Eindringen des Judentums
in die Wohlfahrtspflege einen öffentlichen und nicht erfolglosen
Kampf geführt." Die Synagogen lagen damals schon in Asche, die
rücksichtsloseste Verfolgung war bereits im Gang.

Es ist ungemein schwer, die Fülle von Ansichten und Absichten,
von Meinungen und Überzeugungen auf engem Räume darzustellen
, die damals die Deutsche Evangelische Kirche bewegten. Angelika
Gerlach hat es in vorbildlicher Weise verstanden, eine klare
Übersicht herzustellen, die Geschehnisse mit großer Durchsichtigkeit
zu schildern und sich dabei einer gepflegten Sprache zu bedienen
, wie man sie heutzutage in wissenschaftlichen Abhandlungen
selten antrifft. So ist dieser ihr Beitrag zur neuesten Kirchengeschichte
nicht nur weiterführend, sondern auch überzeugend.
Wer die historischen Teile ihres Buches durcharbeitet, wird niemals
auf den Gedanken kommen, als handle es sich in ihnen um
abgetane, antiquarische Dinge. Das kommt ganz klar in der
Schlußzusammenfassung zum Ausdruck, in der die „Sichtbarmachung
und Konkretisierung" der in Stuttgart beklagten Schuld
als unumgänglich bezeichnet wird. Die Bagatellisierung der Tatsache
, daß man Treueide mit tiefstem Mißtrauen im Herzen geschworen
und Kompromisse geschlossen hat, die dem nicht gut
anstehen, der Gottes Hilfe für eine feige Akkommodierung in Anspruch
nimmt, gehört in den Bereich der Apologetik, die unsere
Arbeit an diesem Thema immer aufs neue diskreditiert. Die erbaulichen
Fabeln können die Buße nicht entbehrlich machen, Stuttgart
ist noch nicht unnötig geworden.

Neben der Besinnung auf das Geschehene ist ein zweiter Schritt
erforderlich: „Die Neubesinnung auf die Bedeutung und Berechtigung
des Eides im allgemeinen und innerhalb der Kirche im besonderen
." Es ist sicher, daß die evangelische Kirche seit 1945 auf
diesem Wege noch nicht weit vorwärtsgekommen ist. Aber es ist
auch sicher, daß inzwischen beachtliche Einzelstimmen zu hören
waren, die sich zur Aufgabe machten, „die Probleme des promissorischen
Eides und des Gelöbnisses auf Grund der theologischen
und ethischen Voraussetzungen der Gegenwart und im Hinblick
auf die praktischen Folgerungen zu untersuchen". Wo die Gefährdungen
des Christen von heute liegen, ist offenbar. Es gilt jetzt,
der Weisung der Heiligen Schrift gründlich und bewußt nachzugehen
und jeweils Entscheidungen zu treffen, die man mit unverletztem
Gewissen in der Freiheit des Glaubens treffen kann.

Dankbar für diese wertvolle Arbeit, möchte man wohl dem
Wunsch Ausdruck geben, daß in Zukunft die Fülle der chronikartigen
Darstellungen des Kirchenkampfes eingeschränkt wird,
daß statt dessen aber die damals entstandenen und heute noch
nicht erledigten theologischen Probleme von Grund auf bearbeitet
und geklärt werden.

Bielefeld Wilhelm Niemöller

Aubert, Roger: Das schwierige Erwachen der katholischen
Theologie im Zeitalter der Restauration (ThGl 148, 1968, S. 9-38).

Gonzälez-Caminero, Nemesio: Charles du Bos (1882-
1939) y el ultimo humanismo europeo (Gregorianum 49, 1968,
S. 288-345).

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Müller, Gotthold: Die Welt als „Sohn Gottes". Grundstrukturen
der Christologic des deutschen Idealismus (NZSTh 10, 1968, S.
89-101).

Neumann, Johannes: Vom Geist der Katholischen Tübinger

Theologie (ThGl 148, 1968, S. 1-8).
Rcndtorff, Trutz: Kirchlicher und freier Protestantismus in

der Sicht Schleiermachers (NZSTh 10, 1968, S. 18-30).

KIRCHEN- UND KONFESSIONSKUNDE

K ü r y , Urs, Prof. Dr.: Die altkatholische Kirche. Ihre Geschichte,
ihre Lehre, ihr Anliegen. Stuttgart: Evang. Vcrlagswerk [1966].
498 S. 8° = Die Kirchen der Welt, hrsg. v. H. H. Harms, F. Sigg f,
H. H. Wolf, G. Wagner, H. Krüger, III. Lw. DM 39,-.
In der Reihe der konfessionskundlichen Selbstdarstellungcn
„Die Kirchen der Welt" nimmt dieser Band in mancher Hinsicht
eine Sonderstellung ein. Er ist erheblich umfangreicher als die
übrigen Bände, selbst als der Doppelband über die orthodoxe
Kirche. Er ist nur von einem Autor geschrieben, wo sonst, wie
schon bei der früheren Reihe „Ekklesia", Einzelgebietc von den
jeweiligen Spezialisten behandelt werden. Die Vielzahl der Autoren
kann dann auch gleich einen Eindruck von der Vielschichtigkeit
des kirchlichen Lebens und des theologischen Denkens vermitteln
. Daß dies bei dem vorliegenden Band nicht der Fall ist,
mag man aus verschiedenen Gründen bedauern; aber es liegt
offenbar auch in der ausdrücklichen Intention des Verfassers, daß
es ihm nicht um eine bloße Selbstdarstellung seiner Kirche geht,
sondern um eine Bestandsaufnahme in einer elementaren theologischen
Besinnung. Daher tritt auch die konfessionskundlichc Beschreibung
weitgehend hinter einer dogmatischen Reflexion zurück
.

Im Untertitel sind die drei Abschnitte genannt, in die das Buch
gegliedert ist: Geschichte, Lehre und Anliegen der altkatholischcn
Kirche.

1. Bei dem von Sicgmund-Schultzc herausgegebenen Ekklesia-
Band setzte Ernst Gauglcr in der Geschichte der altkatholischcn
Bewegung bei dem Jahr 1870 ein. Küry greift, ebenso wie schon
W. Küppers in seinem RGG-Artikel, auf die „Vorgeschichte" zurück
. Hierzu gehört an erster Stelle die alte Kirche, und zwar vor
der Spaltung von 1054 - „alt und ungeteilt". Ferner gehören dazu
die verschiedenen „innerkatholischen Widerstandsbewegungen",
sofern sie sich gegen die zentralistische Jurisdiktionsgewalt und
die Infallibilität des Papstes gewendet haben, allerdings unter
Ausschluß der Reformationskirchen. Die Skala dieser Gruppen ist
weit und auch etwas disparat. Sie reicht von dem Konziliarismus
des 15. Jahrhunderts über den Gallikanismus, den Jansenismus,
die Kirche von Utrecht bis zu den verschiedenen nationalkirch-
lichen und liberalen Bestrebungen des 18. und 19. Jahrhunderts,
wie sie etwa im Febronianismus, im Josefinismus, in den Wcssen-
bergschen Reformversuchen u. a. in Erscheinung getreten sind.
Sie endet bei der „liberalen katholischen Wissenschaft".

In der engeren Geschichte der altkatholischcn Bewegung wird
dann die kirchliche und theologische Entwicklung nach dem
1. Vatikanum dargestellt, und zwar sachlich die verschiedenen
Reformpunkte und geographisch die Lage in den einzelnen Ländern
, besonders in Deutschland, in der Schweiz sowie in Österreich
. Die statistischen Angaben sind auf den neuesten Stand gebracht
, freilich auch im Blick auf die bitteren Einbußen, die der
Altkatholizismus im Süden und Osten Europas durch den Krieg
hat hinnehmen müssen. Den Abschluß dieses Teiles bildet ein
Überblick über den dogmatischen und kirchenrechtlichen Konsolidierungsprozeß
, der durch die Utrechter Konvention, die internationalen
Altkatholikenkongrcssc und die Unions- bzw. Inter-
kommunionsverhandlungen mit Anglikanern und Orthodoxen bestimmt
ist. Die wichtigsten Dokumente wurden in einem Anhang
beigegeben.

2. Von besonderem Interesse ist der zweite Teil des Buches,
in dem die Lehre der altkatholischen Kirche dargestellt wird. Bisher
hat es in der keineswegs unbedeutenden und vor allem auf
dem Gebiet der Kirchengeschichte und Exegese recht produktiven
altkatholischen Theologie noch keine Dogmatik als Gesamtentwurf
gegeben. Man hat lediglich eine Reihe von Katechismen und
Lehrbüchern für den Religionsunterricht, die meist aus den zwan-

Theologische Literaturzcilung 93. Jahrgang 1968 Nr. 6