Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1968

Spalte:

372-373

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Riedlinger, Helmut

Titel/Untertitel:

Geschichtlichkeit und Vollendung des Wissens Christi 1968

Rezensent:

Jüngel, Eberhard

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

371

sei; aber dies hal ihn bei weitem nicht zu einem Gesinnungsge-
im&sen Kierkegaards gemacht 1"' Gegenteil ist es dir Aufgabe des
Ruches, etwas nicht Stichhaltiges nachzuweisen, ja fast Wider
sprechendes und Zersetzendes in der Dialektik des Existenzbc
griffei bei Kierkegaard, der es als seine Lebensaufgabe erachtete,
das Wesen des Christentums auf existentieller Grundlage zu bestimmen
. Zu Anfang des Buches schildert der Verfasser Kierke
gaard sowohl als Dichter wie auch als Denker. Seiner tiefsehür
l'enden Dialektik und Reflexion wegen konnte er nicht durch
und durch Dichter sein und wollte ei auch nicht durch und
durch sein, weil er Christ war, Der Dichter verbleibt in der
Unmittelbarkeit und kann deshalb kein wirkliches Verhältnis
zur Zukunft haben; aber dieses Verhältnis ist erforderlich, wenn
der Denker seine Gedanken in die Tat verwandeln soll. Sowohl
Dichter als auch Denker sind jedoch Zeugen, die das aussagen,
was ihnen in ihrer Verzweiflung und Angst widerfahren ist. Verzweiflung
und Angst tragen dazu bei, die menschliche Existenz,
die unumgänglich zum Gegenstand der Erkenntnis werden mufi,
zu konstruieren.

Hier stößt der Verfasser jedoch auf eine Schwierigkeit. Die Erkenntnis
, die mittels Kategorien, Bestimmungen und Begriffe
vor sich geht, ist so wichtig, daß unsere Existenz selbst davon abhängt
. Wir können nämlich nur „im Klaren" existieren, und umgekehrt
kann nur derjenige klar und wahr erkennen, der in dem
Erkannten existiert. Wenn eine Existenz ohne Erkenntnis sich
im Dunkeln verliert, muß auch jedwede Erkenntnis, die nicht zugleich
ein Existieren ist, sich im Dunklen verlieren. Es ist nämlich
die Aufgabe der Kategorie, das Dunkle zu erhellen und Ordnung
aus dem zu schaffen, was Unordnung war. Zwar hat Kierkegaard
keine Kategorietabelle aufgestellt, weil die klassische Kategorielehre
zur Unmöglichkeit wird, wenn die Existenz zum
Grundbegriff der Denkweise gemachl wird. Kierkegaards Existenzbegriff
gehört weder der Seins- noch Erkenntnissphäre,
sondern dem konkret existierenden Menschen, und folglich ist ein
systematischer Zusammenhang von Kategorien nicht möglich.

Der Verfasser hat Bedenken, daß Kierkegaard, der Denker der
Subjektivität, in die Sphäre der Objektivität gezogen wird, wenn
er behauptet, daß es ein Wie gibt, das ein ganz bestimmtes Was
nach sich zieht, welches, christlich gesehen, die Subjektivität zur
Unwahrheit macht. Hier erscheint ihm alles bei Kierkegaard verworren
, wie man auf S. 137 sehen kann, wo der Verfasser sich als
alles andere denn ein Kierkegaard-Anhänger zeigt, was ihm
auch vergönnt sein soll, nicht zu sein. Er scheint zu Anfang des
2. Teiles Kierkegaard ein wenig zu hänseln, indem er sagt, dal!
die Polemik gegen Hegel Kierkegaard nicht daran gehindert hal.
Denken und Sein versöhnen zu wollen, wenn auch auf eine an
dere Weise als Hegels „betrügerische". Kierkegaards Versöhnung
liegt nämlich darin, daß das ethische Handeln, welches die Existenz
verlangt, durch und durch dem Gedachten und Intendierten
entspricht. Hier kann es jedoch passieren, daß der Denker in seinem
Denken die Sünde begeht, seine eigene Existenz zu vergessen.
Die Trennung zwischen Denken und Sein in der Existenz ist nämlich
ein ontologisches Faktum, das nicht durch spekulatives Denken
ausgewischt und erst recht nicht „aufgehoben" werden darf,
sondern im Gegenteil muß das, was ontologisch wahr ist, auch
ethisch gültig sein und folglich auch durch Tat ethisch wahr
gemacht werden, aber dies heißt wiederum durch die ethisch
verstandene Existenz, die die Stätte der Entscheidung ist, im
Gegensalz zu der Spekulation, die nichts von Entscheidung, sondern
nur von Mediation weiß.

Es ist Kennzeichen dieser Existenz, daß mit Leidenschaft gewählt
werden soll; es ist aber auch diese Existenz, die in ihrer
Begegnung mit dem Christentum den Existierenden unglücklich
macht. Hier wünscht Schmid von Kierkegaard Abstand zu nehmen
, und er fragt, ob wir Kierkegaard unrecht Inn, wenn wir sa-
gen, daß er einen absoluten Eindruck von Sünde und Schuld,
aber nicht von Gnade und Frieden mit Gott erhalten hat. Kierkegaard
scheint nicht verstanden zu haben, daß die menschliche
Existenz nun nicht mehr in der Sünde liegt, sondern gerade in
der Gnade. Dies ist möglich; demgegenüber bezweifle ich aber,
ob der Verfasser in einem anderen Punkt recht hat mit seiner Kritik
an Kierkegaard. Es handelt sich um S. 209, wo er religiös und
ethisch bestreiten will, daß die Leidenschaft die ewige Seligkeit
verdienen können soll, da diese ganz gegenteilig ein Nichts ist.

372

Es wird auf die „Nachschrift" S. 351 (1. Ausgabe der Werke) hin
gewiesen; aber hier scheint dies nicht zum Ausdruck zu kommen.
Der Verfasser gehl jedoch weiter und sagt, daß es sonderbar sei,
daß ein Mensch sich anstrengen solle zu einem Nichts zu werden,
denn je mehr er sich anstrengt, um so mehr zeigt er ja, daß er
keineswegs ein Nichts ist, sondern im Gegenteil etwas, das sieh
anstrengen kann. Schmid führt fort und sagt, daß es einen mets
physischen Hintergrund hat, wenn dem Leidenschaftlichen nach
gesagt wird, daß er nicht definitiv zugrunde gehen kann; die Leidenschaft
ist nämlich eine Einheit von Unendlichkeit und End
lichkeit, von Denken und Sein, und in einer solchen Einheit ist
ein Zugrundegehen undenkbar. Ich zweifle sehr daran, daß dies
auf Kierkegaard zutrifft, ohne daß ich deshalb in irgendeiner
Weise als sein Verteidiger agieren möchte. Es klingt demgegenüber
mehr plausibel, wenn auf S. 212 gesagt wird, daß die Leiden
schaft eines Menschen nicht unbedingt bedeutet, daß er deshalb
der für Menschen gültigen Wahrheit nähersteht als andere.
Schmid sagt, daß es sonderbar klinge, jedoch charakteristisch für
die verzweifelnde Situation der Existenz ist, daß man auf der
einen Seite durch und mit der Existenz und deren Möglichkeiten
(iott zu besitzen glaubt und auf der anderen Seite gerade die Existenz
als den „Ort der Verlassenheit" betrachtet.

Ein wesentlicher Punkt ist das Problem des Verhältnisses zwi
sehen dem Christlichen und dem Humanen, welches auch nicht
klarzuliegen scheint. Entweder kann das Humane an dem Christlichen
scheitern oder umgekehrt, und beide Möglichkeiten sind
bei Kierkegaard angedeutet.

Heini Schmid schließt sein wohldurchdachtes und gut geschriebenes
Buch, ein Buch, das mit Leidenschaft für die Sache geschrieben
worden ist, jedoch nicht mit der Bewunderung, die den
Bewundernden mit Blindheit schlägt Auch aus diesem Grund ist
das Buch lesenswert.

Kopenhagen S»i-en Holm

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Riedl Inger, Helmut: Geschichtlichkeit uncl Vollendung des
Wissens Christi. Freiburg-Basel-Wien: Herder [1966]. 160 S.
8° = Quaestiones Disputatae, hrsg. von K. Rahner u. H. Schlier,

32.

Die fundamentale Spannung zwischen dogmatischein und hi
s torischem Verstehen als Geschick der Theologie zu erkennen und
auszuhalten, bleibt auch der katholischen Theologie je länger je
weniger erspart. Der Verfasser demonstriert es, indem er in die
Aporien der katholischen Lehre vom Wissen Jesu einführt. Die
Methodenspannung verrät sich bereits im Titel in der Gegenüber
Stellung von Geschichtlichkeit und Vollendung des Wissens Chri
sti. Es wird in dieser Quaestio disputata ..fortwährend gefragt,
wieweit die geistige Existenz des Gottmenschen auf Erden geschichtlich
und wieweil sie bereits vollendet war" (155). Dabei
wird nach einleitenden Reflexionen über die angemessene Frage-
hlnsicht 19-23) das Zeugnis der Schrift (24-71) und die kirchliche
Überlieferung (72-100) zum Thema befragt, um von der wahrgenommenen
Inkongruenz zwischen Schrift und Überlieferung
her weiterzufragen. Neuere Diskussionen um Geschichte und
Dogma im katholischen Raum werden skizziert (101-123) und
die Reaktionen des kirchlichen Lehramts diskutiert (124-138).
Ein Ausblick resümiert kritisch neue Wege geschichtlichen Ver-
stehens und bietet im Begriff der „geschichtlichen Gottesschau"
das die Geschichtlichkeit und die eschatologische Herrlichkeit
des ganzen Wissens Jesu als Einheit bedeutende Hilfswort au
(139-160).

Die Untersuchung ist ein selbstkritisches Gespräch katholischer
Theologie nach dem IT. Vatikanischen Konzil am Leitfaden eines
jener Kapitel „der katholischen Glaubenslehre ..., die den getrennten
Brüdern am unverständlichsten sind" (138). Und nach
dem ersten Blick scheint dem „gelrennten Bruder" in der Tat
nichts anderes übrigzubleiben, als sein Unverständnis einzugestehen
. Doch es lohnt sich, sich mit dem ersten Blick nicht zufric
denzugeben. Denn die Aporien, denen sich der katholische
Theologe im Kapitel vom Wissen Jesu stellt, sind unter anderen
Namen, mitunter aber auch einfach unter mangelndem Problem-

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 5