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Ausgabe:

1968

Spalte:

331-334

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gutmann, Bruno

Titel/Untertitel:

Afrikaner - Europäer in nächstenschaftlicher Entsprechung 1968

Rezensent:

Dammann, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 5

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chisch durchgegliedert, wobei nach der Eliminierung der Christusbilder
im Ikonoklasmus nun betont der Pantokrator in der Kuppel
das gesamte Dekorationssystem beherrscht. Der psychologische
Effekt ist noch heute für den westlichen Besucher etwa einer der
Kremlkathedralen in Moskau verblüffend: Es gibt kaum eine Stelle
in der Kirche, an der er sich nicht von mindest einem Augenpaar
irgendeines Heiligen beobachtet fühlt! Damit ist zugleich ein
Höchstmaß an Effektivität der „sozialen Kontrolle" gegeben, wie
es in der römischen Kirche des Westens unbekannt geblieben ist.
Als Selbstrepräsentation der orthodoxen Kirche haben wir innerhalb
des Bildprogramms schließlich auch die Bilderwand anzusehen
, die ebenfalls theologisch durchdacht und „programmiert"
ist. Der hochragende, aus mehreren Rängen bestehende Ikonostas
ist allerdings erst in Rußland entstanden und hat dort der Ikonenmalerei
durch die Notwendigkeit der Herstellung von Großikonen
neue Impulse gegeben.48

5. Dieser grundlegende Sozialaspekt der orthodoxen Ikonen- und
Monumentalmalerei läßt sich am Verhalten der orientalischen und
byzantinisch-balkanischen Häresien gegenüber dem Bild durch
Gegenbeweis noch verdeutlichen. Die bedeutendste asketisch-spi-
ritualistisch-dualistische Sekte innerhalb der Geschichte der orthodoxen
Kirche, die Bogoniilen, lehnte das Bild im Gottesdienst und
außerhalb desselben zunächst konsequent ab.49 Für sie gilt: „Auf
Sezession drängende Proteste können gegen kultische und andachtsmäßige
Bräuche, vor allem gegen Standardisierung des
praktischen Ausdrucks des religiösen Erlebens gerichtet sein."50
Die Ketzer lehnten alle materiellen „Vehikel" der Gnadenmitteilung
ab, von den Evangeliaren über die Kreuze und Bilder bis zu den
Sakramenten. Sie verbanden dabei die Reliquienverehrung mit der
Bilderverehrung und bekämpften z. B. das obenerwähnte „Ohne
Hand gemalte Bild des Erlösers" als Reliquie der geistlichen und
staatlichen Macht. Nicht nur aus religiös-weltanschaulichen, sondern
auch aus unmittelbar gesellschaftlichen Gründen mußten die
Ketzer das Bild ablehnen. Ihre perfekte „Geistkirche", die ihrem
Wesen nach keine Bildrepräsentation nötig hatte, mußte auf diese
außerdem verzichten, weil sie eine „Untergrundkirche" darstellte,
von Kirche und Staat gleichermaßen verfolgt. Dabei verfügte
diese „Untergrundkirche" wie die orthodoxe Großkirche über eine
streng profilierte Hierarchie, an deren Spitze die „Gottesfreunde".,
„wahren Christen", „Reinen" standen. Vor allem dem niederen
Klerus, entlaufenen Mönchen und Nonnen angehörend bildeten
diese in der Großkirche „negativ Privilegierten" bei den Bogo-

des Mönchtums gegen die Hierarchie und gegen das Weltleben drückt sich in
einer nicht selten derben und volkstümlichen Kirchenmalerei aus, die sich von
der der Kathedralen und Fürstenkirchen bewußt unterscheiden will. Wie die
alte Kirche ursprünglich und noch lange über den „Bildkonkordat" (und den
„Hymnenkonkordat") zwischen Staat und Kirche hinaus strikt bilderablehnend,
kam auch das Münchtum sowohl der eremitischen wie koinobitischen Observanz
ohne Bildrepräsentation nicht aus, gestaltete diese aber zu einer Kunst
seiner spezifischen soziologischen Struktur aus.

") Zum theologischen Programm der Bilderwand vgl. L. Ouspensky, in:
L. Ouspensky u. Wl. Lossky, Der Sinn der Ikonen, Bern u. Ölten 1062, 59 tf. Zur
Geschichte vgl. W. Felicetti-Liebenfels, Geschichte der Byzantinischen Ikonenmalerei
, Ölten & Lausanne 1956, 73 ff., in Auseinandersetzung mit ihm V. N.
I.azarev, Tri [ragmenta raspisnych epistiliev i vizantijskij templon (= Drei
Fragmente bemalter Architrave u. das byzantinische Templon), in: Vizantijskij
Vremennik 27, 1967, 162—196'; M. A. IV in, Nckotorye predpolozenija ob archi-
tekture russkich ikonostasov na rubeie XIV—XV vv. (= Einige Hypothesen über
die Architektur russischer Ikonostasen an der Wende vom 14. zum IS. Jh.), In:
Kul'tura drevnej Rusi, Moskau 1966, 79—88.

") Aus der F'ülle der Paulikianer- u. Bogomilenliteratur seien hier nur aus
den Atti del Convegno Internazionale sul Tema: L'Oriente Cristiano nella Sto-
ria della Civiltä (Roma 31 marzo- 3 aprile 1963) (Firenze 4 aprile 1963), Rom 1964
folgende Beiträge genannt: S. M. Circovic, Die bosnische Kirche; D. Knievald,
Hierarchie u. Kultus bosnischer Christen; D. Angelov, Le mouvement bogomile
dans les pays slaves balcaniques et dans Byzance; I. Dujcev, I Bogomili nei
paesi slavi e la loro storia; D. Obolensky, Le christianisme oriental et les doc-
trines dualistes. Zur Bildrepräsentation der bosnischen Bogomilen s. 0. Bihalji-
Merin, A. Benac u. T. Dabac, Steine der Bogomilen, Leipzig 1964.

") Wach, Religionssoziologie, 214.

milen die eigentliche Führungsschicht. Ihre Repräsentation war gewissermaßen
existentieller Art: Uberall erkannte man sie an ihren
düsteren mönchsähnlichen Gewändern, deren Kapuzenschlitz ihre
vom Fasten bleichen Gesichter und die brennenden Augen sehen
ließ. Indessen: Es sollte sich zeigen, daß auch die Bogomilen auf Bilder
und Symbole nicht verzichten konnten, weil diese den sinnfälligen
Ausdruck sozialer Regelung überhaupt darstellen. Als die
dualistische „Geistkirche" der Bogomilen in Bosnien sich nicht nur
den politisch-sozialen Verhältnissen des spätmittelalterlichen Feudalismus
akkommodierte, sondern auch als Verhandlungspartner
mit weltlichen Mächten und der Kurie in einem in jeder Hinsicht
„vieldeutigen" Sinne „gesellschaftsfähig" wurde, entstehen Insi-
gnien der Führungsschichten wie der Ältestenstab und der geöffnete
Psalter. Diese insignialen Repräsentationsobjekte erscheinen
dann auch auf den Grabsteinen, die nun sogar allegorisch-panegyrische
Texte zum Ruhm führender Bogomilen trugen. Es wiederholte
sich bei den bosnischen Bogomilen hinsichtlich der Frage
einer Bildrepräsentation dieselbe soziologisch determinierte Entwicklung
, die wir im Verhältnis (wischen dem römischen Staat und
der alten Kirche bereits beobachten konnten. Symbole und Bilder
sind eben nicht nur ablösbare „Akzidentien" des gesellschaftlichen
Lebens, sondern betreffen als „symbolic perpetuatorsi of the iden-
tity of Ihe group"51 deren eigentliches Sein. Sie zeigen, „daß die sozialen
Gefühle ohne Symbole nur eine .prekäre' Existenz haben
würden".58

G. Eine kritische Würdigung der orthodoxen Ikonen- und überhaupt
Kirchenmalerei kann hier nicht mehr gegeben werden. Immerhin
sei auf einige mögliche Punkte aufmerksam gemacht, auf
die eine solche Würdigung aus der Sicht ihrer soziologischen
Aspekte einzugehen hätte. Diese Kirchenmalerei ist das unmittelbare
Symbol einer Gesellschaftsformation, deren Integrationskrafl
ein selten erreichtes Höchstmaß offenbart. In dieser Gesellschafts
formation wird dem einzelnen Frommen innerhalb einer hierarchischen
Struktur die Position seiner „Rolle" genau fixiert. Der
Antagonismus antikultischer und antihierarchischer Ketzereien ist
einer der Beweise für den Prozeß der „Entfremdung"53 des einzelnen
von den Unmittelbarkeiten in Glaube und Ethik. Dabei entgehen
aber die Ketzer keineswegs der „Proliferation" und „Kumulation
" von in der orthodoxen Großkirche vorgefundenen Institutionen
und damit auch nicht der „Entfremdung". Wir haben das
wiederum an der Bilderfrage verdeutlichen können. Es wird einsichtig
, wie stark sich hier theologische, anthropologische und soziologische
Fragestellungen konzentrieren. Sie dürften sich auf
die Frage nach dem eigentlichen, „wirklichen" durch keine soziale
Rolle determinierten Menschen zuspitzen — falls es diesen
überhaupt geben sollte und er nicht die Antikonstruktion zum angeblich
total vergesellschafteten „homo sociologicus" sein sollte.
Die so zugespitzte Frage hätte sich mit der „Rolle" des Künstlers
im Ikonenmaler zu beschäftigen und würde zweifellos eine Reihe
von Einsichten zur Soziologie der Kunst überhaupt beibringen
können. Sie dürfte aber auch nicht am orthodoxen Gläubigen vorbeigehen
, für den seit vielen Jahrhunderten die Ikone der Ort der
Begegnung mit Gott gewesen ist. Damit dürfte der umfassende und
komplexe Charakter der Ikone angedeutet sein. Wie sie sich überhaupt
als Kunstwerk von eindrucksvoller religiös-weltanschaulicher
Geschlossenheit, hohem intellektuellem Rang, starker sittlicher
Erziehungskraft und außerordentlich intensivem wie extensivem
gesellschaftlichem Beziehungsreiehtum erweist.

") P. A.Sorokin, Society, Culture and Personality, their strueture and dy
namics, New York & London 1947, 383.

") E. Dürkheim, bei R. König, Die Religionssoziologie bei Emile Dürkheim,
in: Probleme der Religionssoziologie, hrsg. von D. Goldschmidt u. J. Matthes,
Köln u. Opladen 1962, 44.

M) Vgl. P. Ch. Ludz, Religionskritik u. utopische Revolution, in dem Anm. 52
gen. Sammelband S. 87—HJ. •

RELIGIONSWISSENSCHAFT

Gutmann, Bruno, D. Dr.: Afrikaner - Europäer in nächsten-
schaftliclier Entsprechung. Gesammelte Aufsätze. Anläßlich des
90. Geburtstags v. B. Gutmann hrsg. v. E. Jaeschke. Stuttgart
. Evang. Verlagswerk [1966]. 234 S., 1 Porträt 8°. Lw. DM 19,50.

Als im Jahre 1925 Bruno Gutmanus Buch „Gemeindeaufbau aus
dem Evangelium" erschien, begann man in der evangelischen Mis-
sionswelt sich in stärkerem Maße mit der Gestalt der jungen Gemeinden
, vornehmlich in den Gebieten der sog. Primitivreligionen
zu befassen. Es war nicht damit getan, einzelne aus dem Heidentuni
zu gewinnen, die dann zu einer christlichen Gemeinde und