Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1968

Spalte:

299-301

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Sundén, Hjalmar

Titel/Untertitel:

Die Religion und die Rollen 1968

Rezensent:

Luckmann, Thomas

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

299

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 4

300

PSYCHOLOGIE UND
RELIGIONSPSYCHOLOGIE

Sunden, Hjalmar: Die Religion und die Rollen, übers, a. d.
Schwedischen v. Verfasser. Eine psychologische Untersuchung
der Frömmigkeit. Berlin: Töpelmann 1966. VIII, 451 S. 8° Lw.
DM 68.-.

Es ist keine angenehme Aufgabe, Sundens Buch zu besprechen
. Obwohl einige Teilanalysen zeigen, dafj es sich um die
Arbeit eines ernst zu nehmenden Gelehrten handelt, kann der Eindruck
kaum vermieden werden, dafj ein unsystematisch angelegter
Zettelkasten in ein überlanges Buch verwandelt wurde.
Betrachtungen über schwedische Sekten, Buddhismus, Studien
bzw. Referate über Studien zur Mystik, zur Marienfrömmigkeit,
eingeschaltete Berichte über Gallup-Umfragen über den „Glauben
an Unsterblichkeit" (aus dem Jahr 1948!), Exkurse über
Freud und Jung usw. bilden ein Sammelsurium von teilweise
interessanten, teilweise trivialen und teilweise völlig wertlosen
Elementen. Ein so scharfes Urteil muß trotz der einer Buchbesprechung
auferlegten Beschränkungen wenigstens exemplarisch
belegt werden.

Um mit dem Hauptpunkt zu beginnen: Wie schon der Buchtitel
anzeigt, nimmt sich der Autor vor, „von der modernen
Wahrnehmungspsychologie ausgehend" und mit Hilfe der sogenannten
Rollentheorie ein Problem, nein, das Grundproblem der
Religionspsychologie, nämlich die Konstitution der religiösen Erfahrung
in der Begegnung mit einem (transzendenten) „Rollcn-
partner" zu lösen oder jedenfalls in eine neue Perspektive zu
rücken. Dieses Vorhaben ist völlig mißlungen. Ich lasse die Tatsache
, daß Sunden entgegen seiner Behauptung die moderne
Wahrnehmungspsychologie nicht zu Rate zieht, außer Betracht.
Er greift nicht einmal auf schon weiter zurückliegende Arbeiten
zurück, obwohl sie seinen Zwecken hätten nützlich sein können,
wie z. B. die von William James entwickelte Verbindung von
Wahrnehmungspsychologie, Wirklichkeitstheorie und Persönlichkeitstheorie
, oder die phänomenologische Psychologie, von der
experimentellen Wahrnehmungspsychologie ganz zu schweigen.
Da er aber die „moderne Wahrnehmungspsychologie" im Grunde
nur braucht, um festzustellen, daß Wahrnehmung kein „passives
Registrieren" sei, mag dies noch angehen, obwohl er offene
Türen einrennt. Mi51icher ist, dafj er mit der Entwicklung der
Rollentheorie nur unzulänglich vertraut ist. Von den Autoren,
die in der Rollentheorie als Klassiker gelten, wird C. H. Cooley
gar nicht erwähnt; statt dessen plagt sich Sunden mit dem von
Cooley souverän behandelten Problem der „Rollenaneignung"
und Persönlichkeitsentwicklung mühsam und erfolglos ab. Mead
wird aus zweiter Hand zitiert (eine Angewohnheit, die sich bei
Sunden nicht auf Mead beschränkt) und, jedenfalls in der deutschen
Ausgabe, als H. J. Mead (!) vorgestellt. Gegen Newcomb,
Sundens rollentheoretische Hauptquelle, ist zwar nichts Wesentliches
einzuwenden, aber neuere Entwicklungen in diesem Gebiet
kennt er nicht. Hätte Sunden säe bei verschiedenen Problemen
, mit denen er sich abmüht (wie z. B. Bestimmung der
Persönlichkeit durch Rollenkonfigurationen, Rollenvalenz, Rollen-
konflikt, Rollendistanz usw.) berücksichtigt, wären seine Bemühungen
wahrscheinlich nicht gar so vergeblich gewesen. Dazu
gehören vor allem die Arbeiten der „symbolic interactionists",
die sogenannte Bezugsgruppentheorie und die Theorie der „kognitiven
Dissonanz". Die seit Linton weit fortgeschrittene Durchdringung
der Kulturanthropologie mit dem Rollenbegriff ist ihm
ebenfalls unbekannt (mit Hinweisen auf Ruth Benedict und
Kluckhohn ist es nicht getan). Bezeichnend ist auch, daß der
Autor bei seinem Versuch, eine religionspsychologisch relevante
Persönlichkeitstheorie zu formulieren - wobei er sich vor allem
auf Schaer und Gruen stützt -, ein seitenlanges, detailliertes
Referat über die bekannte Studie der „Authoritarian Personality"
vorlegt, aber die Arbeiten Kardiners (dessen Namen er aus zweiter
Hand erwähnt) und die außerordentlich große Literatur über
Persönlichkeit und „Nationalcharakter" kaum zu kennen scheint.
Nahezu verständlich ist danach, daß Sunden sich nicht scheut,
unhaltbare Feststellungen wie die folgende zu treffen: „Derartige
Übereinstimmungen (der Autor bezieht sich hier auf Analogien
zwischen der lutherischen Rechtfertigungslehre und gewissen
Entwicklungen im Buddhismus) könnten dadurch erklärt
werden, daß in Deutschland bzw. Japan eine Persönlichkeitsorganisation
üblich geworden ist (sie!), die weder extrem asketische
Ideale noch eine durch Leistungen ausgezeichnete Frömmigkeit
assimilieren konnte" (S. 344). Die Religionspsychologie vermittels
der Rollentheorie in den notwendigen Bezug zur Sozialpsychologie
, Soziologie und Kulturanthropologie zu setzen,
wäre eine für diese wissenschaftliche Disziplin fruchtbare Aufgabe
. Das Verhältnis von Persönlichkeit und Sozialstruktur und,
korrelativ dazu, von Typen individueller Religiosität und institutionalisierten
Formen der Religion scheint mir tatsächlich in
einer rollentheoretischen Perspektive formulierbar und deutbar
zu sein. Es führt aber nicht weit, wenn man sich im Grunde
darauf beschränkt, bestimmten Phänomen schlicht das Namensschildchen
„Rolle" anzuheften:

.....so ist es offenbar so, daß es sich um eine Rolle handelt -,

das Kind das Offenbarungen Marias empfängt..." (S. 119, nach
einem Bericht über Kinder, die Marienoffenbarungen hatten),
um ein Beispiel unter vielen herauszugreifen. Und was soll man
mit Sätzen wie dem folgenden anfangen: „Es ist offenbar, daß
Rollen menschen Gott neue Absichten zuerkennen, für welche die
Lehre noch keine Formeln gefunden hat, die aber eine Erneuerung
des christlichen Rollensystems erfordern" (S. 234, im Zusammenhang
mit einer mir sowohl naiv wie verkehrt erscheinenden
Gegenüberstellung von „Rollenmenschen" und „Gehäusemenschen
").

Aber nicht nur der Versuch, die rollentheoretische Perspektive
auf religiöse Phänomene zu beziehen, ist Sunden mißlungen
. Wie der Untertitel des Buches andeutet, will Sunden auch
noch etwas anderes. Denn Frömmigkeit ist ein Phänomen, das
zwar auf der einen Seite auf die „Psychologie" „religiösen" Erlebens
berooen ist, aber zugleich eine sozialhistorisch in verschiedenen
Weisen artikulierte Gegebenheit. Ohne mit der Religionssoziologie
und der Ethnologie vertraut zu sein - und bei Beschränkung
auf unsystematisch herangezogenes religionshistorisches
Material -, kann man das Problem der Frömmigkeit in
einer wissenschaftlich adäquaten Weise nicht einmal von ferne
erfassen, geschweige denn analysieren. Sunden aber stellt Betrachtungen
über „Vater-Religion", „Mutter-Religion" und „Selbst-
Religion" an, die mir und vermutlich anderen Soziologen oder
Kulturanthropologen schlechthin phantastisch erscheinen müssen.
Er stützt sich hierbei, abgesehen von den Schjelderups, vor allem
auf Freud. Da mir Freund und Jung - denen der Autor je ein
Kapitel des Buches widmet - nicht die gleiche Bedeutung für
die Religionswissenschaft zu haben scheinen, die ihnen Sunden
beimißt, darf ich mich mit einem Zitat begnügen: „Wir wollen
nun Freuds Gedanken über das Schuldgefühl und das Gewissen
auf Martin Luthers schwere Krise in den Jahren 1507-1515 anwenden
. Wenn man annimmt, daß Martin Luther eine starke,
aber verdrängte Aggressivität gegen seinen Vater gehegt hat
(man hat keinen Grund, irgendein sexuelles Rivalitätsverhältnis
zum Vater anzunehmen), eine Vermutung, die wohl begründet
erscheint, erhält besonders die erste Periode, während deren
(sie!) Martin Luther gewaltige Anklagen gegen sich selbst richtet
, eine befriedigende Erklärung, und zwar um so mehr, da er
gegen den Willen des Vaters in Kloster (sie!) eingetreten war"
(S. 255). Erstaunlich ist übrigens, daß Sunden bei seiner psychoanalytischen
„Interpretation" Luthers nicht Eriksons bekanntes
Buch heranzieht, das auf der gleichen Linie liegt und ein Jahr
vor Sundens eigenem erschienen war.

Der Versuch Sundens, sich aus der Begrenztheit einer eng
verstandenen Religionspsychologie zu begeben, ist leider nur in
der Intention anerkennenswert. Wie man, wie Sunden, in Anlehnung
an Fromm (!) über die gesellschaftlichen Funktionen der
Religion schreiben kann, ohne Marx ernsthaft heranzuziehen,
ohne Dürkheims Religionstheorie zu kennen, ohne auf Mali-
nowski einzugehen, ohne Religionssoziologen wie Yinger (um
nur einen Namen zu nennen) zu beachten, ist mir ebenso unverständlich
, wie die Tatsache, daß Sunden einiges über das Verhältnis
von Askese, Persönlichkeit und Gesellschaftsstruktur
schreibt, ohne Max Webers diesbezügliche auch heute noch grund-