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Ausgabe:

1968

Spalte:

292-294

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Klärung und Wirkung 1968

Rezensent:

Zweynert, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 4

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lieh dieses Begriffes gilt das, was zu „Transzendenz" gesagt
wurde, in analoger Weise: So gewi5 ein „metahistorischer" Sachverhalt
den „historischen Vorstellungsbereich" transzendiert, so
gewiß ist doch der Begriff und die Kategorie des „Metahistorischen
" nicht in der Lage, das eigentlich und schlechthin „Neue"
des A.sgeschehens als das auszusagen, was es nach K. ist: „etwas
schlechthin Unsagbares" (72). „Metahistorie" wird stets und unausweichlich
in Analogie zu „Historie" gedacht und vorgestellt,
was aber nicht sein dürfte, sofern damit das Transkategoriale
der A.J. benannt und bestimmt werden soll. - (e) „Wirklichkeit":
An dieser Stelle wird die mangelnde Tragfähigkeit und innere
Brüchigkeit des K.sehen Entwurfes besonders augenfällig: Zum
ersten zeichnen sich von den drei von K. genannten „Merkmalen
" (34) von „Wirklichkeit" - „Gegensatz zu dem Begriff des
Nichtseienden, Nichtexistierenden, Nichtbestehenden"; „Kontrast
zum Nichtwirklichen"; nicht gegenständlich-dinghafter, sondern
„dynamischer" und „personaler" Charakter (34f.) - zumindest
die beiden ersten durch absolute Banalität aus (denn wer hätte
je bestritten, daß ein Sachverhalt und Begriff wesenhaft und per
definitionem den Gegensatz zu seinem eigenen Gegenteil bildet
?). Von konkreten und nicht nur logischen Merkmalen kann
hier nicht die Rede sein. Auch das „materialistische" und „fakti-
zistische" Wirklichkeitsverständnis wäre hier zu kritisieren, das
alles Mentale als solches als unwirklich und unwirksam diskreditiert
(37f.). Zum zweiten wird der von K. mit Nachdruck herausgestellte
Charakter der Analogielosigkeit der Wirklichkeit der
A.J. höchst zweifelhaft, wenn nach der formal-abstrakten Explikation
des Wirklichkeitsbegriffes fortfahrend gesagt wird, dieser
besitze „elementare Konsequenzen für die Interpretation der
A.J. als Ereignis" (39). Hier wird ganz offensichtlich ein vorlaufend
und im voraus entworfener Begriff von Wirklichkeit sekundär
an die A.J. herangetragen: Er ist wohl „ad hoc", nicht
aber „a b hoc" gewonnen und straft damit K.s Prämissen Lügen.
Zum dritten - und das ist das Eigentliche - ist mit der axio-
matisch eingeführten Kategorie „Wirklichkeit" selbst und als
solcher eine irreparable Vor-Entscheidung hinsichtlich des angemessenen
Verständnisses der A.J. gefallen, die mit der methodologischen
Voraussetzung K.s (was es mit der A.J. auf sich habe,
sei allein an dieser abzulesen) prinzipiell unvereinbar ist. Daran
ändert auch die Tatsache nichts, daß dann später das, was in
bezug auf die A.J. „Wirklichkeit" heißt und bedeutet, allein von
dieser her verstanden werden soll. K. hat offensichtlich nicht
bemerkt, daß der Begriff und die Kategorie „Wirklichkeit" keineswegs
ein sozusagen „rein formaler", „neutraler" usw. und
darum nicht-präjudizierender Begriff und Kategorie ist, sondern
im Gegenteil fundamentale onto-logische („philosophische") Vor-
Entscheidungen und Voraus-Setzungen impliziert, anders gesagt:
dafj er keineswegs „allgemein", „transkategorial" oder wie auch
immer, sondern ganz bestimmter geistesgeschichtlicher Herkunft
ist und die Spuren dieser Herkunft unverlierbar an sich trägt.
Redet man also in bezug auf die A.J. von „Wirklichkeit" („Tatsache
", „Ereignis" usw.), so bleibt man damit unausweichlich im
Bannkreis nicht nur des „immanent-anthropologischen" Denkens
und Redens überhaupt, sondern eines bestimmten epochalen
(und also unter Umständen überholten) Denkens und Redens.
Den Begriff der „Wirklichkeit" axiomatisch zum Kriterium eines
sachgemäßen und angemessenen Verständnisses der urchristlichen
A.sverkündigung zu erheben, ist also gerade unter den
K.sehen Voraussetzungen nicht erlaubt. Geschieht es doch (und es
geschieht bei K.), so ist dieses nicht nur ein reines Postulat, sondern
auch ein Diktat. Damit aber wird nicht nur die von hier
aus entworfene Konzeption im Ansatz gefährdet, ja aufgehoben,
sondern in eins damit jede offene Diskussion und Verständigung
von vornherein abgeschnitten und unmöglich gemacht, ja verweigert
. -

Blickt man abschließend auf K.s Buch als ganzes zurück, so
fällt ein Zweifaches auf: Zum ersten die unnachgiebige Absage
an alle menschlich-geschichtlichen Denk- und Sprachgestalten bei
gleichzeitigem Übersehen des nicht weniger menschlich-geschichtlichen
Charakters der von K. selbst verwendeten (vorgeblich von
der A.J. abgenommenen) Denkgestalten und -formen, vorweg
des „Transzendenz"-Begriffes. Hier erhebt sich die Frage, ob mit

dem ersteren jede „Profanperspektive" (159) als zum Verstehen
und Erfassen der A.J. ungeeignet zurückgewiesen bzw. das
inkriminierte „Immanenz'-Denken als „Form" jedes menschlichen
Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses verstanden und
darum (!) verworfen wird (etwa im Sinn von Luthers „ineur-
vatio in seipsum" als Ausdruck und Folge nicht der Unfähigkeit,
„Gott", „Transzendenz" usw. zu denken, sondern als Ausdruck
und Folge der Sünde!) oder ob damit dem Anerkennen und
Denken-Können von „Transzendenz" (als einem geistesgeschicht
lieh bedingten und also auch beschränkten Wirklichkeitsverständnis
) ein gewisser Vorsprung, wenn nicht eine absolute Überle
genheit eingeräumt wird. Es spricht bei K. alles für das Letztere
: Wenn auch betont wird, das Wesen des Menschen bleibe
„im Wechsel der Zeiten im Kern dasselbe" und empfange in der
„heutigen Welt" nur eine „besondere Modifikation" (207), und
wenn auch vom Anspruch des Osterkerygmas „für alle Menschen
aller Zeiten, aller Zonen, aller Religionen und Weltanschauungen
" gesprochen wird (213), so geht es doch bei K. in der
Verkündigung des auferstandenen und gegenwärtigen Christus
im Letzten um die „Verheißung gerade dessen, an dem die Immanenz
radikal scheitert" (214) - als wenn nicht die Wirklichkeit
Gottes und Christi gerade auch das Ende jeglichen „Transzendenz
"-Denkens sein könnte! Im Blickpunkt steht jedenfalls
fast ausschließlich der „moderne Mensch", der „Mensch von
heute" als der Mensch des „immanentistischen" und „anthropozentrischen
" Denkens. Nach K. ist es nicht eigentlich das in der
christlich-theologischen Tradition mit „Sünde" Bezeichnete, das
den Menschen grundlegend am Verstehen des urchristlichen A.s-
zeugnisses hindert (von „Sünde" ist ohnehin höchst selten die
Rede!), sondern das Nicht-Denken-Wollen und Nicht-Denken-
Können von „Transzendenz". Und nicht von der Sünde muß darum
der Mensch erlöst und befreit werden, sondern von dieser
seiner denkerischen Unfähigkeit, also von einer weltanschaulichen
, nicht von einer existentiellen Not! Das aber bedeutet etwas
sehr Wesentliches: Damit wird Gott (Christus, A.J. usw.) an bestimmte
geistesgeschichtliche Denkweisen gebunden - und d. h.:
auf bestimmte geistesgeschichtliche Epochen beschränkt - ja (der
Verdacht legt sich zumindest nahe) als Produkt dieser Denkweisen
verstanden! (Ist K. von Feuerbachschen Anfechtungen völlig
unberührt?) - Zum zweiten überrascht und befremdet die Bestreitung
einer wirklichen Dringlichkeit des Verstehens-Problems,
das doch für die gegenwärtige Theologie kein theoretisches Problem
ist, sondern seinen Grund in der vorhandenen grassierenden
Verstehens-Not hat. Die Aussage: „Die fortgesetzte Notwendigkeit
einer zeitgemäßen Übersetzung und permanenten Erneuerung
der dogmatischen Lehrgestalt ist ein so selbstverständliches
theologisches Bemühen aller Zeiten, daß darüber eine theologische
Debatte überflüssig ist" (170), wird durch die K.sehen
Ausführungen selbst schlagend widerlegt. Man weiß am Ende
nicht, was frappierender und bedrückender ist: der „Optimismus
", der hier sichtbar wird - „es wäre ein totales Mißverständnis
, ... zu folgern, der Mensch von heute könne angesichts
dieser Fremdheit der Botschaft überhaupt nicht wissen, wovon
die Rede sei. Er weiß vielmehr ganz genau, daß diese ärgerniserregende
Christusbezeugung ihn mit dem lebendigen Gott selbst
konfrontiert, ihn unvermeidlich in die Situation echter Entscheidung
hineinversetzt, welcher er sich freilich gerne entziehen
möchte" (209) -, oder die Unbarmherzigkeit, die aus allen
Ausführungen spricht! Gogartens nun fast ein halbes Jahrhundert
alte Klage und Anklage ist hier offenkundig nicht vernommen
worden: „. . . wir bewegen in allem Ernst den Gedanken
bei uns, ob es heute überhaupt Menschen gibt, die wirklich Gott
denken können" (ChW 34 (1920] 377 = ThB XVII/2 [München
1963) 98).

Münster/Westf. Klaus H a e n d I e r

Barth, Karl: Klärung und Wirkung. Zur Vorgeschichte der

„Kirchlichen pogmatik" und zum Kirchenkampf. Hrsg. v.

W. Feurich, Berlin: Union Verlag [19661. 488 S., 1 Porträt 8°.

Lw. MDN 12.50.
Trebs, Herbert: Karl Barth. Berlin: Union Verlag [1966],

60 S. m. 11 Abb. kl. 8" = Christ in der Welt, 8. MDN 2.20.