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Ausgabe:

1968

Spalte:

278-280

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brakelmann, Günter

Titel/Untertitel:

Kirche und Sozialismus im 19. Jahrhundert 1968

Rezensent:

Schoeps, Hans-Joachim

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 4

'278

nach den Gründen, die das Vorhaben scheitern ließen, und nach
den folgenreichen Auswirkungen, die dieses Scheitern für das
Geschick der Reformation gehabt hat. Die Untersuchung von M. K.
wendet sich dem Kernstück des ersten Problemkreises zu, dem
»Einfaltigen Bedenckcn", das „Bucer in Zusammenarbeit mit Melanchthon
" 1543 in Bonn „als eine evangelische Kirchencrdnung
für die geplante Reformation des Erzstiftes Köln" verfaßt hat.
..Seine Entstehungsgeschichte, seine theologische Grundkonzeption
und seine Vorschläge für praktische Reformen sollen dargelegt
und erläutert werden". (S. 9)

Ein erster Teil ordnet das „Bedencken" in die geschichtlichen
Zusammenhänge der Reformbemühungen im Erzstift Köln und
in den angrenzenden Gebieten ein und verfolgt den Weg der
Bestrebungen Hermanns von Wied, die unter dem Einfluß humanistischer
Ratgeber vom weltlichen Gebiet auch auf das geist
liehe übergriffen und dann vom erasmischen Humanismus fort
in reformatorische Bahnen gelenkt wurden. Die zwischen Köln
(Gropper) und Straßburg (Bucer) sich anbahnenden Beziehungen
ließen in Hermann nach dem Regensburger Reichstagsabschied
von 1541 den Entschluß reifen, Bucer als einen ebenso wie er
auf Frieden und Einheit der Kirche bedachten, seinen eigenen
Intentionen nahekommenden Mann für die Grundlegung einer
m Gottes Wort gegründeten Reformation heranzuziehen und an
ihm trotz dem Widerstand festzuhalten, den Kapitel und Klerus
in Köln in zunehmendem Maße der Arbeit Bucers in Bonn entgegensetzten
. Die Ausführungen dieses Abschnittes wollen ungeachtet
gelegentlicher kritischer Bemerkungen nicht mehr bieten
als einen zusammenfassenden Bericht über die Ergebnisse
der Forschung zur Vorgeschichte des „Bedenckens"; sie sind in
ihrer Straffheit und Übersichtlichkeit eine sehr zweckdienliche
Hinleitung zum Thema.

Mit der „Analyse des .Einfaltigen Bedenckens'" wird in einem
zweiten Teile erstmalig eine eingehende und umfassende Untersuchung
dieses Dokumentes vorgelegt. Sic schließt die Frage nach
der Verfasserschaft und den benutzten Vorlagen notwendig ein,
deren (bisher zumeist pauschale) Beantwortung nunmehr im Einzelnachweis
gegeben wird und feststellt: daß 1. als Verfasser
nur Bucer und für bestimmte Teile der „Lehre" (A) noch Melanchthon
zu gelten haben, der Anteil Hermanns von Wied, zumal
an der Endredaiktion, sich dagegen nicht näher bestimmen
läßt; daß 2. als Vorlage für den lehrmäßigen und den agendarischen
Teil (B. Die Zeremonien) auf Verlangen des Erzbisehofs
vornehmlich die Brandenburgisch-Nürnbergische Kirchenordnung
von 1533 gedient hat, aber schon in B auch andere Ordnungen
mit herangezogen wurden; daß 3. bei der Reform des äußeren
Kirchenwesens (C), die in der Nürnberger Ordnung keine Parallele
hat, Bucer den Wünschen Hermanns von Wied entsprechend
äußerst behutsam operieren mußte, weithin nur seine reformatorischen
Grundsätze geltend machen und erste Schritte zu
deren Verwirklichung vorschlagen konnte.

Das Schwergewicht der Arbeit liegt auf dem Versuch, das
Eigentümliche des Kölner ReformationsVorhabens kenntlich zu
machen, insbesondere die theologische Fundierung des Entwurfes
daraufhin zu prüfen, ob und wieweit dem Ganzen eine zumindest
in den Grundzügen einheitliche Konzeption zu Grunde
'iegt. In der Form fortlaufender Kommentierung werden in eingehender
Tcxtverglcichung sowohl die Übereinstimmungen des
■ Bedenckens" mit den jeweiligen Vorlagen, in A also zumal mit
der Nürnberger Kirchenordnung, registriert als auch die formalen
wie inhaltlichen Abweichungen, Kürzungen, Änderungen und
Zusätze hervorgehoben und wird nach den Beweggründen gefragt
, die eine Neuformulierung zweckdienlich oder erforderlich
erscheinen ließen. Die Verf. zeigt an den wesentlichen Punkten
die theologische Relevanz der jeweiligen Textgestaltung auf und
erhärtet sowohl für Bucer wie für Melanchthon durch Belege aus
deren annähernd gleichzeitigem Schrifttum, daß sich beide Männer
ernstlich darum bemüht haben, ihre theologisch-reformalori-
sche Position in der neuen Ordnung ohne bedenkliche Konzessionen
zur Geltung zu bringen. Selbst die Differenzen zwischen Bu-
cer und Melanchthon blieben darin bestehen, wenngleich sie sich
bisweilen auch hinter unterschiedlich interpretierbaren Formeln
verbargen. Das Ganze erweist sich in Übernahme, Variation und

Neuformung als eine bei aller Differenziertheit doch geschlossene
Einheit, die auf der Grundlage reformatorischer Lehre auch
die agendarischen Formen bestimmte und lediglich in der Gestaltung
des äußeren Kirchenwesens Zugeständnisse an die konkrete
Situation im Erzstift machen mußte, nicht ohne aber auch
hier wenigstens in prinzipiellen Erwägungen Hinweise für eine
reformatorische Wandlung zu geben, und diese Einheit trägt das
Gepräge bucerischen Geistes, so sehr, daß man das „Bedencken"
ungeachtet des vorgegebenen Exemplum Noribergensis formae
und der Mitarbeit Melanchthons als eine selbständige Leistung
Bucers ansehen darf, in der sich sein theologisches Anliegen und
seine Vorstellungen einer praktischen Kirchenreform als die bestimmenden
Faktoren eindeutig kundtun.

Das Ergebnis wird nicht ohne kritische Auseinandersetzung
mit der einschlägigen älteren und neueren Literatur gewonnen.
Es wird sich in Einzelheiten noch einige Korrekturen gefallen
lassen müssen, die aber das Gesamitbild nicht wesentlich verändern
werden. Jedenfalls bleibt das Verdienst der Verf. ungeschmälert
, für die weitere Arbeit an dem „Einfaltigen Bedencken
" eine solide Basis geschaffen und damit zugleich einen dankenswerten
Beitrag zur Bucer-Forschung geleistet zu haben.

Bochum Walter E I I i g e r

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Brakelmann, Günter: Kirche und Sozialismus im 19. Jahrhundert
. Die Analyse des Sozialismus und Kommunismus bei
Johann Hinrich Wichern und bei Rudolf Todt. Witten: Luther-
Verlag 1966. 324 S. 8". Kart. DM 19.80.

Was über Wichern noch Neues zu sagen ist, nachdem die Bücher
von Gerhardt, Klügel, Benz, Shanaham, Kupisch u. a. erschienen
sind, wird man mit einiger Skepsis fragen müssen. In
der Tat: Viel Neues ist es nicht. Die Kapitel über den Wichern
der Frühzeit, des Vormärz und des Revolutionsjahres zeichnen
nach, was Wichern sich unter Sozialismus (Lorenz von Stein,
Weitling, Marr) damals nur vorstellen konnte und vorgestellt
hat. Mit Recht wird betont, daß der frühe politische Konservativismus
durchaus eine Antwort auf die neu entstandene soziale
Frage zugelassen habe (14). Weder war Wicherns Anwort die
einzige noch die prägnanteste von christlich-konservativer
Seite aus, wohl aber die wirksamste, weil sich mit ihr das Aufbauwerk
der Inneren Misison verknüpft hat, die natürlich keine
Antwort auf den „Kommunismus" oder die „Revolution" - beides
für W. identisch (55) - sein konnte. Im übrigen war W's.
„Denken in Gegensätzen" (60) nicht eben geschichtsbezogen,
häufig wirkt es geradezu primitiv.

Interessanter ist das Kapitel „Der Wichern der Spätzeit"
(64-100), aber im Grunde noch erschütternder, weil der W. von
1871 seinen Gegner nicht kennt und daher nicht weiß, von wem
und zu wem er spricht. Das wird aus Brakelmanns Nachweisen
ganz deutlich. Offensichtlich weiß W. von Marx, Lassalle, Baku-
nin usw. nur aus Sekundärliteratur, so daß er alle Positionen
durcheinanderwirft (64-70). Überhaupt habe er die Welt des angebrochenen
Industriezeitalters von seinem organologischen
Denken her nicht mehr zu erkennen vermocht (87). Quietismus
in der Sozialgestaltung sei W's. letzte Auskunft gewesen. Das
Fazit der Untersuchung ist trist: „Wir können nur zu dem Ergebnis
kommen, daß W. nicht der große Kenner des Sozialismus
im vorigen Jahrhundert auf evangelischer Seite gewesen ist"
(97). Mir ist niemand bekannt, der ihn noch heute dafür halten
würde.

Wissenschaftlich weit ergiebiger ist der 2. Teil des Buches
über den Pfarrer Rudolf Todt, schon weil hier weniger bekanntes
Gelände betreten wird und der Leser auch einmal Neues erfährt
. Erst in den letzten Jahren ist das Interesse an diesem
Außenseiter erwacht - und zwar durch einen Aufsatz von Martin
Seils in der Festschrift für Ernst Barnikol (Berlin 1964); über
Todts Biographie ist eine Kieler Examensarbeit im Werden. B.
interessiert sich mit Recht für die Gesellschaftsanalysen dieses
Mannes und für sein bemerkenswertes Buch von 1877: „Der ra-