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Ausgabe:

1968

Spalte:

276-278

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Köhn, Mechtild

Titel/Untertitel:

Martin Bucers Entwurf einer Reformation des Erzstiftes Köln 1968

Rezensent:

Elliger, Walter

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 4

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Begutachtung vorgelegt - damit entfiel aber nach H.s Meinung
auch die Möglichkeit eines Thesenanschlages. Ist aber nun, wie
anderwärts7 von mir im einzelnen nachgewiesen, eine derartige
Konstruktion schon allein aus rein philologischen Gründen völlig
unhaltbar - es bleibt also nach wie vor bei einer einheitlichen
Entstehung der 95 Thesen -, so stürzt auch H.s gesamtes, auf
ein derart trügerisches Fundament errichtetes Gebäude - d. h.
seine Feststellungen hinsichtlich des Ablaufes des ersten Abschnittes
des Thesenstreites, laut deren Luthers anderweitige
Äußerungen und fremde zeitgenössische Zeugnisse mit jener
Konstruktion übereinstimmen sollen - restlos in sich zusammen.
Von der Tatsache, daß Luthers Thesenanschlag nicht stattgefunden
habe, vermag daher H., der auch keine stichhaltige neuen
Erkenntnisse über Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte
der 95 Thesen vorlegen kann, den Leser hier ebensowenig wie in
seinem kürzlich erschienenen weiteren Beitrag: „Zur Diskussion
um Luthers Thesenanschlag" 7° irgendwie zu überzeugen.

Die zweite Neuerscheinung ist Erwin I s e r 1 o h s Veröffentlichung
, die eine wesentlich erweiterte Neubearbeitung seiner
früheren, bereits in Jahrg. 89 (1964), Sp. 682f. von mir besprochenen
Schrift von 19628 darstellt. Hinzugefügt hat er jetzt die
beiden Kapitel: „Der Ablaß. Seine Geschichte und seine Praxis
am Ausgang des Mitelalters" sowie „Luther zum Ablaß"; im
letzteren analysiert er dessen Stellungnahme zu diesem Problem
bis zum Herbst 1517 innerhalb seiner Vorlesungen und Predigten
sowie in seinem Traktat „De indulgentiis"^. In den weiteren
Partien seines Buches setzt sich I. auf der Grundlage seiner früheren
Veröffentlichung, die er teilweise mehr oder minder wörtlich
übernommen hat, mit den Ergebnissen der bisherigen Diskussion
und den inzwischen von seinen Kontrahenten erhobenen
Einwänden gegen seine unentwegt verfochtene Behauptung: „Der
Thesenanschlag fand nicht statt" auseinander, ohne jedoch in
diesem Zusammenhang irgendwelches „neues, bisher unbekanntes
Tatsachenmaterial" (S. 7) beibringen zu können. Hatten ihm
seine Kritiker schon von Anfang an als entscheidendes Zeugnis
für den Thesenanschlag die Äußerung des Reformators vom
13. Februar 1518 entgegengehalten, er „habe Thesen ausgehen
lassen und öffentlich (publice) alle, persönlich (privatim)
aber alle, die er als die gelehrtesten kannte, eingeladen und gebeten
, ihm eventuell brieflich ihre Meinung zu eröffnen" (vgl.
meine oben zitierte Rezension), so wich I. lange einer präzisen
Deutung des „publice" aus. Zunächst erwiderte er: „Worin
Luther die öffentliche Einladung gegeben sah, muß noch in weiteren
Diskussionen geklärt werden"11, aber auch In seinem Referat
auf dem Deutschen Historikertag vom 8. Oktober 1964 vermochte
er keine überzeugende Interpretation dieser Worte vorzubringen10
. Erst jetzt glaubt er - fast gleichzeitig mit Honselmann
, der ihm „die Druckbogen seiner Arbeit . . . zur Verfügung
stellte" (LS.7), und auch auf genau die gleiche Weise wie
dieser - jenes von den Verteidigern des Thesenanschlages ins
Feld geführte „Hauptargument" (S. 80) im Interesse der von ihm
vertretenen Ansicht entkräften zu können. Da I. den Thesenanschlag
nach wie vor abstreitet und nunmehr entsprechend Honselmanns
Meinung auch die Existenz eines (verschollenen) Wittenberger
Urdruckes der Thesen auf keinen Fall mehr wahrhaben
will (S. 71f.), so nimmt er (wie Honselmann) jetzt seine Zuflucht
zu den Ende 1517 ohne Luthers Wissen und gegen seinen
Willen in Nürnberg, Leipzig und Basel hergestellten Thesendrucken
(A-C) mit der Behauptung, auf den dort enthaltenen
Einleitungssatz mit der Disputationsankündigung bezögen sich
des Reformators Worte von der „öffentlichen Einladung": „Er
hat sich . . . seit Frühjahr 1518, also nach Erscheinen der zahlreichen
Thesendrucke berechtigt gesehen, davon zu sprechen
daß er öffentlich zu mündlicher oder schriftlicher Auseinandersetzung
eingeladen habe" (S. 76). Zwar erkennt I. selbst (wie

') Vgl. dazu meinen Aufsatz: „Die Urfassung von Luthers 95 Thesen" (Zeitschrift
für Kirchengeschichte Bd. 78 |1967|, S. 67-93).

7a) Theologie und Glaube Bd. 57 (1967), S. 357-361.

B) Luthers Thesenanschlag Tatsache oder Legende? (Wiesbaden 1962).

sa) Ober diesen vgl. jetzt auch J. Wieks in: Theological Studies Bd. 28 (1967),
S. 481-518.

') Christ und Welt Nr. 39 vom 28. September 1962.
10) GWU Bd. 16 (November 1965), S. 681.

auch Honselmann) die große, im Grunde genommen unüberwindliche
Schwierigkeit, die sich einem derartigen Interpretationsversuch
entgegenstellt - Luther hat nämlich jene auswärtigen Veröffentlichungen
als seinen Absichten zuwiderlaufend scharf mißbilligt
", so daß sich zwangsläufig die Frage erhebt: Ist die Annahme
, er solle sich auf diese von ihm abgelehnten Editionen
berufen haben, nicht geradezu widersinnig? Dementsprechend
muß auch I. im Hinblick auf des Reformators Äußerung eingestehen
: „Das ist nicht ganz korrekt, ja angesichts dessen, daß er
sich vielfach peinlich berührt zeigt von der weiten Verbreitung
der Thesen, sogar zwiespältig" (S. 76f.). Aber dieses doch sehr
ins Gewicht fallende Hindernis überwindet I. dann allzu leicht
mit der fragwürdigen Feststellung: „Den äußerlichen Tatsachen
nach dagegen stimmt es, weil in der Vorrede mit Luthers Worten
zur Disputation bzw. zur schriftlichen Rückäußerung aufgefordert
wird und die Öffentlichkeit annehmen durfte (!), daß Luther
die Thesen hatte drucken lassen" (S. 77). Eine solche Beweisführung
besitzt aber ebensowenig Überzeugungskraft wie
Honselmanns gleichartiger Erklärungsversuch: „Luther hat . . .
den Sachverhalt, etwas unkorrekt, vereinfacht wiedergegeben.
Wer wird ihm das verübeln wollen? Er hat sicher (!) die Dinge
so dargestellt, wie er sie empfunden hat" (S. 100) - eine völlig
unbewiesene und auch unbeweisbare Behauptung, die genausowenig
Glauben verdient wie H.s abschließende apodiktische Erklärung
: „Nur darf man mit den Worten einen Thesenanschlag
am 31. Oktober oder 1. November 1517 nicht zu beweisen versuchen
." Wenn auch Iserloh für denjenigen, der „nicht ohne
einen (Thesenanschlag) auskommen zu können meint", die Möglichkeit
eines solchen für etwa Mitte November 1517 konzedieren
will (S. 80)n, so vertritt er (ebd.) für seine Person den Standpunkt
, daß das „invitans publice" kein Beweis für einen Thesenanschlag
sei.

Weder Honselmann noch auch Iserloh konnten in ihren neuen
Veröffentlichungen den Leser in zwingender Beweisführung von
der Richtigkeit ihrer Behauptungen überzeugen; sie haben vielmehr
damit selbst den Beweis geliefert, daß alle Versuche, den
Thesenanschlag zu einer „Legende" zu stempeln, vergebens sind11.
Andererseits sollte man sich aber, wie ich bereits vor vier Jahren
in meiner Rezension betonte, endlich „darüber im klaren sein,
daß die Wissenschaft mit dieser Feststellung am Ende des Beweisbaren
steht und alle weiteren Erörterungen über dieses
Thema zur Fruchtlosigkeit verdammt sind".

Göttingen Hans v ° 1 1

") In seinem Brief an Christoph Scheurl in Nürnberg vom 5. März 1518 (WA
Briefe Bd. 1, S. 152, 10 ff.).

") Gestützt auf dos Datum von Luthers Brief vom 11. November 1517, mit
dem er seinem Erfurter Freund Johann Lang seine 95 Thesen übersandte (WA
Briefe Bd. 1, S. 121, 4 ff.), begründet I. diese Konzession folgendermaßen:
„Luther hat den Bischöfen, u. a. dem Erzbischof von Mainz-Magdeburg am
31. 10. 1517, geschrieben und hat Antwort abgewartet. Als diese nicht eintraf bzw.
man ihn zu beschwichtigen suchte . . ., hat er seine Ablaßthesen an Freunde
und Gelehrte weitergegeben" (S. 75) und hätte sie eventuell dann erst zu diesem
späten Zeitpunkt an das Portal der Wittenberger Schloßkirche angeschlagen.
Durfte aber Luther tatsächlich erwarten, daß Deutschlands höchster Kirchenfürst
- die Fristen für Hin- und Rücksendung je eines Briefes abgerechnet — innerhalb
von nur einer Woche dem ihm ganz unbekannten Mönche antworten würde?
Denn nach Ablauf einer so kurzen Zeitspanne konnte es doch für Luther keineswegs
schon irgendwie feststehen, daß mit einer Antwort Albrechts nicht mehr
zu rechnen sei. Infolgedessen wäre bei diesem von I. eingeräumten Termin um
den 11. November die Situation grundsätzlich keine wesentlich andere als bei
einem Thesenanschlag am 1. November (oder 31. Oktober). Damit entfallen
also auch l.s Einwände gegen einen solchen zu einem zehn bis vierzehn Tage
früheren Termin.

13) Vgl. auch H. Bornkamms Kritik über Honselmanns und Iserlohs Bücher
(Thesen und Thesenanschlag Luthers, S. 41-46).

K ö h n , Mechiildi Martin Bucers Entwurf einer Reformation des
Erzstiftes Köln. Untersuchung der Entstehungsgeschichte und
der Theologie des „Einfaltigen Bedenckens" von 154.3. Witten:
Luther-Verlag 1966. 199 S. gr. 8n = Untersuchungen z. Kirchcn-
geschichte, hrsg. v. R. Stupperich, 2. Kart. DM 20.-.
Dem Reformationsversuch des Kölner Erzbischofs Hermann
von Wied ist vornehmlich unter zwei Gesichtspunkten größere
Beachtung geschenkt worden. Einmal richtete sich das Interesse
auf den Charakter des Unternehmens als solchen als einer Variante
reformatorischer Neuordnung, zum anderen auf die Frage