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Ausgabe:

1968

Spalte:

223-225

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Benz, Franz

Titel/Untertitel:

Seelsorge in einer pluralistischen Gesellschaft 1968

Rezensent:

Winter, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 3

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und Absolutismus, die Flacius, aber nicht Luther nahesteht und
für unsere Zeit nicht zu empfehlen ist.

Als Beispiel ein Zitat: „.Unser Leben entscheidet sich daran, ob
wir das Angebot Gottes annehmen!' Seit Augustins Kampf für die
gratia irresistibilis sollte solch ein Ausdruck in der christlichen
Theologie und Verkündigung unmöglich sein" (77). Nach lutherischer
Theologie kann der Mensch der Gnade widerstehen, sofern
Gott sein Angebot vermittelt und nicht nuda majestate ergehen
läfit! Gott zwingt niemanden zum Heil. Die Lehre vom servum
arbitrium macht eben nicht einen lapis aut truncus aus dem Menschen
. So darf man auch von einem echten, natürlich nicht meri-
torischen Zusammenwirken Gottes und des Menschen sprechen.
Luther mahnte übrigens häufig in seinen Predigten: „Du mufit
sehen, daß du ein guter Christ seist und mit Werken deinen Glauben
beweisest!" - Da Verfasser die Predigtzitate absichtlich anonym
wiedergibt, hat der Leser leider keine Möglichkeit, zu kontrollieren
, ob der Kontext einer Predigt nicht doch viel stärker evangelischen
Tenor zeigt, als die schweren Vorwürfe des Autors es
erscheinen lassen. Das ist ein erhebliches wissenschaftsmethodisches
Manko.

Auch das Ziel der Polemik trägt keine konkreten Konturen.
Eigentlich müfite es ja um die legitimen Möglichkeiten homiletischer
Applikation gehen. Die positiven Beispiele und die wenigen
Hinweise, die Verfasser dafür bringt, sind meist kaum überzeugend
und zu theoretisch. Wie der Hörer der gesetzlichen Predigt,
wird hier nun der Prediger mit der Kritik allein gelassen. Der
Autor gibt seine Verlegenheit selbst zu (z. B. 104), indem er die
Antwort entweder der systematischen Theologie zuschiebt (cf. 27;
S. 78 f. kann er zu der praktischen Frage, wie das objektive Heilshandeln
Gottes vom Menschen angeeignet werde, sogar schreiben,
die Auskunft sei in der Lehre von der doppelten Prädestination
zu suchen!) oder indem er seinerseits nur Fragen stellt (22 f., 53,
64) und Andeutungen macht. Im Grunde will er die wirksame und
exhibitive, die vollmächtige und reine evangelische Predigt, in der
etwas „geschieht" (cf. 18, 30, 48 usw.)! Die Warnung vor homiletischem
Utopismus scheint mir daher trotz aller wertvollen und
zutreffenden Anliegen des Buches notwendig zu sein.

Rostock Ernst-Rüdiger K i c s o w

Benz, Franz: Seelsorge in einer pluralistischen Gesellschaft. Freiburg
, Basel, Wien: Herder [1967). 150 S. 8°.

Seelsorge habe es nur mit dem einzelnen zu tun: Diese Voraussetzung
galt im evangelischen Raum jahrzehntelang. Im vorigen
Jahrhundert war man zwar zum Teil anderer Meinung (z. B.
Theodosius Harnack), aber erst in den letzten Jahren wird wieder
kräftiger vom gesellschaftlichen Bezug der Seelsorge gesprochen.
In dieser Richtung geht auch diese Arbeit aus dem römisch-katholischen
Bereich: Seelsorgc ist auch von gesellschaftlichen Umbrüchen
abhängig und hat ihre Strukturen entsprechend anzupassen. Dabei
wird der Begriff der „Seelsorge" im weiten Sinn einer cura generalis
, des praktischen Handelns der Kirche gefaßt und mit „Pastoraltheologie
" synonym gebraucht (45). Außerdem wird auch das
Wort „Milieuseelsorge" aufgenommen, freilich mit einer gewissen
Reserve (139).

„Die Lage, auf die die Seelsorge einst traf" (I, S. 15-24), war
die, dafi der Mensch „sein ganzes Leben an einem Ort" verbrachte.
Dieser bildete „eine Welt für sich" und besaß eine „homogene Gesellschaft
". Im Blick auf das religiöse Leben galt seine „einheitliche
Prägung" und seine „allgemeine Verbreitung". - Die „Folgen
für die Seelsorge" (II, S. 25-35) waren, daß die lokale Pfarrei die
angemessene Institution zur seelsorgerlichen Erfassung darstellte.
Der Bezug auf eine lokal gesonderte Arbeitswelt war nicht nötig
(funktionale Seelsorge). Von außerhalb wurde die Arbeit in der
Pfarrei nicht durch andere Einflufimächte gestört. Die große Einheitlichkeit
unter den Menschen machte keine spezielle Seelsorge
erforderlich. Persönliche Seelsorge reichte aus, denn das Milieu
war zur Erhaltung eines „soziologischen" Christentums „. . . in
seiner ganzen Breite gut" (32). Konservierende Arbeit durch den
Kleriker am Ort reichte aus. - „Die Lage, auf die die Seelsorge
heute trifft" (III, S. 36-44) ist durch „pluralistische" Strukturen gekennzeichnet
. Der Mensch lebt an vielen Orten zugleich, sein
Wohnplatz stellt keine geschlossene Welt mehr dar, die Menschen
sind nicht mehr homogen, das Milieu ist dem religiösen Leben

gegenüber vorwiegend negativ eingestellt. Neben den Christen
leben „heidnische Massen". - „Die Folgen für die Seelsorge" (IV,
S. 45-127) werden breit vorgeführt: Die Pfarrei muß unter Reduzierung
ihrer Seelcnzahl in den Städten und durch bessere lokale
Gliederung umgebaut werden. Daneben muß es eine funktionale
und spezielle Seelsorge geben, die der Differenziertheit der Welt,
besonders der Arbeitswelt, gerecht werden kann. Vor allem aber
ist Milieuseelsorge erforderlich: Sie wiederum setzt klare soziologische
Analysen voraus, eine Berücksichtigung der natürlichen
und gesellschaftlichen Gegebenheiten in ihrer ganzen Breite. Notwendig
ist die Arbeit am Milieu über lange geplante Zeiträume
hinweg mit Hilfe von „natürlichen Führern" und natürlichen, nicht
künstlichen „kollektiven Eliten". Es gilt in die Welt vorzustoßen,
vor allem mit Hilfe der Laien, die ein „Weltamt" haben. Auch die
Priester sind für ihren milieuseelsorgerlichen Einsatz in Arbeitsgruppen
zu koordinieren. Im Bereich „geographischer Einheiten",
die nach soziologischen Aspekten einzurichten sind und deren
„Größenordnung zwischen Dekanat und Diözese liegt" (107), soll
die Aktion der kirchlichen Kräfte gesteuert werden.

Die konfessionellen Unterschiede, wie sie gerade in Westdeutschland
vorliegen, scheinen für den Verfasser soziologisch gesehen
keine Rolle zu spielen, denn sie werden nicht weiter erwähnt
. Freilich sind seine Überlegungen nicht ohne die traditionellen
Strukturen katholischer Kirchlichkeit angestellt worden.

Die eigentlich theologische Reflexion zur Ekklesiologie tritt
stark zurück. Nicht selten fallen gemeinchristlich zu interpretierende
Aussagen. Hier und da schlägt ein konfessioneller Akzent
deutlicher durch, wenn man von einer durchlaufenden bestimmten
Begrifflichkeit absieht. Für die weitere Bedeutung etwa der Pfarrei
sprechen nicht allein soziologische Gründe, „weil alle Seelsorge
zum Ziel haben muß, die Menschen zum Altar zu bringen, der
Altar aber in der Pfarrkirche steht" (49). Wohl erkennt der Verfasser
gegenüber einer totalen Identifizierung von Kirche und
Welt echatologische Vorbehalte an (96), aber andererseits ist es
doch prinzipiell möglich, wenn auch nicht unter heutigen liberalen
Verhältnissen, eine „Verchristlichung" der Welt, ihrer Menschen,
Strukturen und Milieus mit Hilfe der Kirche zu erreichen (80). Das
geschieht auf dem alten Wege: „Gratia supponit naturam" (12).
Umgekehrt gilt: Natura supponit gratiam. Verfasser legt Wert darauf
, die „natürlichen" Formen der Gesellschaft für die Arbeit der
Scelsorge heranzuziehen.

Die Gegenüberstellung von heutiger „pluralistischer" und früher
„homogen" aufgebauter Gesellschaft ist zu einfach ausgefallen. Wie
manche Soziologen es tun, die gewiß wichtige Beobachtungen zur
heutigen sozialen Entwicklung liefern, so wird auch hier die radikale
Distanz zu früheren Verhältnissen hervorgehoben und bis
auf Ausnahmen starr durchgehalten. Dieses Bild wirkt im Blick
auf die auch vor „der städtischen und industriellen Revolution"
(23) nicht immer gerade homogene Geschichte etwas grob. Umgekehrt
scheint z. B. der Wohnort trotz der „nomadenhaften
Lebensweise des modernen Menschen" (18) doch eine größere Rolle
zu spielen (48 u. ö.), als es vorher zugegeben wird. Es ließe sich
die Bewegung zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Kirche
und Gesellschaft gewiß noch abgewogener und differenzierter
zeichnen, ohne daß damit die vom Verfasser angeführten Tendenzen
falsch würden. Manche Einseitigkeit hätte sich auch durch den
Verzicht auf Wiederholung und durch gefälligere Formulierungen
vermeiden lassen. Die Meinung, daß „ein religiös positives
Milieu . .. der persönlichen Vertiefung der Religion . .. nicht förderlich
" sei, umgekehrt aber ein „negatives Milieu die persönliche
Vertiefung bei jenen, die dazu fähig sind", begünstigt, dürfte auch
dann nicht so apodiktisch gelten, wenn im protestantischen Bereich
häufig dasselbe behauptet wird (32, 132). Soziale Lage (Natur) und
Glaube (Gnade) sind nicht so einfach zu verrechnen. - Daß der
sogenannte „Soziologist" K. Marx die Meinung vertreten habe,
„dafi der Mensch nichts weiter als das mechanische Produkt seiner
Umwelt" (19) sei, ist so nicht richtig. - Dafi „Gemüt und Religion"
(48) für viele Menschen eine Affinität besitzen, ist nicht zu bestreiten
; aber prinzipiell stehen sie sich nicht näher oder ferner
als die übrigen psychischen Bereiche des Menschen und die „Religion
".

Besonders interessant ist, dafi vor allem der französische Katholizismus
in das Gespräch einbezogen worden ist, wie das umfangreiche
Literaturverzeichnis ausweist. In vielfältiger Weise werden