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1967

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Ethik

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 2

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Gesellschaft solidarisch zu werden. Soll die Solidarität mit der
Welt so weitgehen, auch das aus der christlichen Vergangenheit
in die weltlichen Ordnungen eingebrachte Erbe aufzugeben? An
diesen Fragen gilt es weiter zu arbeiten. Daß Wolf ein gutes
Fundament gelegt hat, ist das bleibende Verdienst seiner Arbeit.

Heidelberg Heinz-Horst S ch re y

ETHIK

Marsch, Wolf-Dieter: Gegenwart Christi in der Gesellschaft. Eine
Studie zu Hegels Dialektik. München: Kaiser 1965. 316 S. gr. 8° =
Forschungen z. Geschichte u. Lehre d. Protestantismus, hrsg. v. E.
Wolf, 10. Reihe, XXXI. DM 23.-; Lw. DM 26.-.

Die vorliegende Studie will zeigen, was „Gegenwart Christi"
in der heutigen Gesellschaft bedeutet. Daß M. sich dieser Aufgabe
stellt, macht seine Studie zu einem eminent aktuellen Werk.
Die moderne Gesellschaft sieht er charakterisiert durch die
Schwierigkeit, wie Freiheit der Person und alles bestimmende
Entzweiung zusammen möglich sein können. M. entwickelt seine
systematischen Thesen über die Gegenwart Christi in dieser
Gesellschaft mittels einer historischen Untersuchung über Hegel.
Zwei — m. E. überzeugende — Gründe für diesen Konnex systematischer
und historischer Arbeit werden eingangs genannt: 1. Die
Notwendigkeit „einer philosophischen Orientierung", um die
theologische Aufgabe präziser zu erfassen (Vorwort); 2. die
Feststellung, „daß Hegel zentrale Kategorien seines Philosophierens
in einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem protestantischen
Erbe gewonnen hat" (57).

Von einem „Rückblick" abgesehen, beschäftigt sich M. im
historischen Teil seiner Arbeit mit dem Frühwerk Hegels. Das erscheint
besonders im Blick auf das gestellte systematische Thema
bedenklich, denn M. R i e d e 1 (in: ARSP 48/1962, S. 539ff.) hat
m. E. stringent aufgezeigt, daß Hegel allererst in seiner „Rechtsphilosophie
" (1821) die moderne „bürgerliche Gesellschaft" in
begrifflicher Schärfe erfaßte. M. widmet ein Kapitel den „theologischen
Jugendschriften" Hegels, ein zweites dessen Jenenser Arbeiten
. Die Interpretation der „Jugendschriften" geschieht anhand
dreier Strukturtypen „historisch-entzweites", „natürlich-unmittelbares
" und „in der Geschichte versöhntes Mensch-sein", für
die die Figuren Abraham, Sokrates und Jesus die „Modelle" abgeben
(62). Angesichts seines Vorhabens, „den historischen
Werdegang in jenen Fragmenten (zu) interpretieren" (61 A. 17),
bleibt dies Verfahren unbefriedigend. Denn es veranlaßt M., die
Darstellung mit Aufzeichnungen aus der Frankfurter Zeit Hegels
zu beginnen, und spiegelt so eine prinzipielle, inhaltliche Einheitlichkeit
der Berner mit den Frankfurter Studien vor.
P. C o r n e h 1 hat in seiner jüngst eingereichten Mainzer Dissertation
M.s Analysen einer ausführlichen Kritik unterzogen.

In den Fragmenten Hegels, die das Judentum behandeln („Typos
Abraham"), findet M. eine zunehmende Beschäftigung Hegels mit aktuellen
Problemen: In der Zerrissenheit, die der junge Hegel als das
Charakteristikum jüdischer Existenz und als schreckliche beschrieb, sieht
M. „Emanzipation" von den Herkunftsmächten, in der Verdinglichung
der vereinigenden Einheit in ein als fremd gesetztes Objekt — nach
Hegel das Grundübel schlechthin — „unvollkommen(e)" Emanzipation
(68), an der zu erkennen ist, „wie es um den aufgeklärten Menschen
steht —, wenn der Gottesgedanke selbst unaufgeklärt bleibt" (81). Im
Blick auf den „Typos Sokrates" sei sich Hegel schon in Bern wachsend
der Antiquiertheit dieser unmittelbaren Identität von Mensch, Gesellschaft
und Natur bewußt geworden und habe im Gegenzug dazu die
Notwendigkeit einer historisch-positiven Vermittlung der Tugend, des
mit sich einigen Menschsein, erkannt. Man hätte eine solche, von der
ganzen bisherigen Hegelforschung abweichende Behauptung gerne begründet
gesehen. Hegels Gedanken, die M. im „Typos Jesus" resümiert,
konvergieren für ihn einlinig im Jesusbild der Frankfurter Schrift „Der
Geist des Christentums und sein Schicksal". Bereits bei den Berner
Stücken unterscheidet M. zwischen einer „schlechten Positivität" (96)
und einem „als geschichtliche Vermittlung" des Ewigen notwendigen
, positive(n) Glaube(n)" (98). Wo findet sich dafür auch nur
ein Anhalt in den Texten? P. Cornehl hat sich gegen diese Interpretation
m. R. gewandt, denn sie verdeckt harmonisierend die Schärfe
der Aporicn und Zäsuren im Denken des jungen Hegel. (Innerhalb der
Frankfurter Kritik Hegels an der Abstraktheit der Aufklärung — und
d. h. doch auch an seiner eigenen Berner Position — hat die von M. gut

herausgearbeitete Einsicht, die Hegel an der Gestalt Nimrods expliziert
, ihre angemessene Stelle.) M. übergeht die wohl allgemein anerkannte
Erkenntnis der Hegelforschung (cf. M, Riedel, PhR 12/1964,
S. 127 f.), daß es sich in Frankfurt noch um eine nur subjektive
Versöhnung handelte, und stilisiert das Hegeische Jesusbild jener Jahre
als bereits — nach Hegel selbst — gelungene Versöhnung.

Damit ist die für M.s systematischen Überlegungen
entscheidende Position erreicht: Er macht sich die Frankfurter
Überzeugung Hegels zu eigen. Hegels damalige Kritik am
Christentum wendet er kirchenkritisch. Für seine Grundfrage, wie
in der modernen Welt „nicht-objektivierte Freiheit" mit der
konstitutiven Entzweiung in Einklang zu bringen ist, findet er
hier seine Lösung: Der Einklang „ist möglich, indem der
Mensch ... in seinem eigenen Weltverhältnis Jesu Weg der
subjektiven Entgegensetzung gegen die objektive Entgegensetzung
.wiederholt' . . . durch Opfer (!), ... in der Hingabe des
eigenen Lebens an diese Objektivitäten." (115) In solcher
Wiederholung werde das „subjektive Erleben Jesu" objektiv
(118). M. nennt diese „Wiederholung" imitatio crucis, Reflexion
und Annahme des Todes Gottes.

Die Jenenser Arbeiten versteht M. als „Anwendung" (cf. 134)
der Erkenntnisse, die Hegel in den Jugendsdiriften gewonnen hat. „Da
aber die Kirchen diese Aufgabe einer Übersetzung des Versöhnungsereignisses
in die gesellschaftliche Situation der Entzweiung offensichtlich
nicht zu leisten vermögen" (128), denke Hegel die Weitergabe der
durch Jesus in die Welt gekommenen Versöhnung durch die gesellschaftliche
„Arbeit des Bewußtseins, das sich entäußert" und das Leben
in der Idealität „wiederherstellt" (119). Linter diesem Gesichtspunkt
geht M. ausführlich auf die sozial- und rechtsphilosophischen Abschnitte
der Jenenser Skripten ein. Wiederum nimmt er die
Dialektik von anfänglicher Unmittelbarkeit, Differenz und konkreter
Identität, die Hegel sich in Jena erarbeitete, als Abfolge von typischen
Situationen der Entzweiung und Versöhnung (cf. 260); er übersieht so,
daß für Hegel gerade auch in den Jenenser Schriften die Differenz durch
ihr Herkommen aus der Unmittelbarkeit bestimmt ist und daß Hegels
Bemühen in besonderer Weise dem konkreten Begreifen des
dritten Moments der dialektischen Methode galt. Die mangelnde Strin-
genz und Klarheit der Hegeischen Ausführung zeigen m. E. das noch
Unfertige der Jenenser Vorlesungen, nach M. dagegen deutet „die
Schwebe in jenen Entwürfen . . . auf die unendliche Offenheit" (299 f.),
auf das Utopische der Versöhnung. Kann aber so einfach übergangen
werden, daß Hegel die Einheit, die tragende Mitte, nicht als Utopie
konzipierte?

Damit ist freilich erst eine Seite in M.s Verständnis des
dritten dialektischen Moments angegeben: Er bezeichnet es als
„Ver-Innerung" und meint damit nicht nur „Gewinn an Idealität
", an utopischem Zielbewußtsein, sondern auch „Trieb-
internalisierung" (143 A. 29). Für das Gemeinte sei hier als
Beispiel die Kategorie „Arbeit" gewählt: In der Bearbeitung des
Objekts entäußere sich der Mensch und erfahre zugleich eine
„Feststellung" seiner trieboffenen Spontaneität (144); die Arbeit
„ver-innert" das begehrende Umweltverhalten (143), sie „idealisiert
" (142). Der Unterschied dieser Deutung zu der Hegels ist
deutlich: Hegel hat in Jena die Arbeit als negative Vermittlung
beschrieben, die Subjekt und Objekt verändert. Doch für ihn
resultiert diese Tätigung in eine existierende Einheit — im
Werkzeug. Für M. dagegen ist das Werkzeug nur eines der
„weitere(n) triebinternalisierende(n) Vermittlungen" (143). Nach
Hegel hat die Entäußerung eine identische Mitte zu ihrem Resultat
, er meinte nicht ein Zugleich von Entäußerung und Versöhnung
. In M.s Verständnis bleiben Rez. zwei Aspekte unklar:
Was ist gewonnen, wenn der aus der neueren Anthropologie bö-
kannte Gedanke der Triebfeststellung als „versöhnende(. .) Ver-
Innerung durch Selbstentäußerung" (240) interpretiert wird? Und
was hat diese „Idealität" durch Arbeit mit dem utopischen Horizont
zu tun? Im letzten Kapitel seines Buches, in dem M. offene
Chancen der Versöhnung darstellt, wird die Intention dieser
seiner Deutung klar. Er möchte — und das ist in der Tat aller
Mühe wert — die Zukunft der Versöhnung Gottes i n der Erörterung
weltlicher Verhältnisse aufzeigen. Aber ist das gelungen?

In den Jenenser Texten vor der „Phänomenologie" erkennt M.
ein Bewußtsein, das sich entäußert, darin seine Gottverlassenheit erfährt
und sich in solcher Vermittlung Chancen einer Versöhnung bewußt
wird, die „nicht mehr mit Mitteln philosophischer Reflexion auszumachen
ist." (202) In der „Phänomenologie" jedoch sei dieser Prozeß