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1967

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Neues Testament

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i09

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 2

110

NEUES TESTAMENT

Käsemann, Ernst: Exegetische Versuche und Besinnungen. II. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht [1964]. 304 S. gr. 8°. Kart. DM
16.80.

In einer summarischen Charakterisierung der Situation in der
deutschen neutestamentlichen Forschung aus dem Jahr 1957, die
diese zweite Aufsatzsammlung eröffnet, kennzeichnet Käsemann
seine und seiner theologischen Weggefährten Aufgabe mit dem
programmatischen Satz: „Jedenfalls diejenigen, die aus seiner (d.
h. Bultmanns) Schule hervorgegangen sind, werden ihre Lebensarbeit
daran setzen müssen, die historischen Voraussetzungen der
systematischen Konzeption Bultmanns zu überprüfen, wie eine
ganze Generation ähnlich mit der Arbeit F. Chr. Baurs beschäftigt
war" (S. 20). Ging es in der ersten Aufsatzsammlung, die in
der ThLZ 88 (1963), Sp. 839—842 angezeigt wurde, um den exegetischen
Vorstoß über Bultmanns Position hinaus, so in dieser
um die Richtung, die Käsemann nunmehr in profilierter Auseinandersetzung
mit anderen Theologen aus dieser Schule einschlägt.

Diese Richtung wird zuerst an der Art sichtbar, in der er die
frühchristliche Verkündigung jetzt mit Jesu Erdenwirken verbindet
. Unter dem die gegenwärtige Situation kennzeichnenden Titel
„Sackgassen im Streit um den historischen Jesus" wehrt sich
Käsemann gleich erbittert gegen den Versuch, „den Glauben als
unmittelbaren Zugang zum Menschensohn in seiner kritisch aufgedeckten
Historizität als Jesus von Nazareth" zu verstehen (S.
41), wie andererseits gegen die Bultmanns Aufsätze zum historischen
Jesus „durchziehende merkwürdig radikale Antithese von
historischer und sachlicher Kontinuität zwischen Jesus und der urchristlichen
Verkündigung" (S. 42). Diese Antithese verkennt,
daß die Evangelien geschrieben wurden, um „den gepredigten
Christus davor (zu) schützen, sich in die Projektion eines eschato-
logischen Selbstverständnisses aufzulösen und zum Gegenstand
einer religiösen Ideologie zu werden. Die Historie bekam eschato-
logische Funktion. Die Vergangenheit gab der Gegenwart die Kriterien
zur Prüfung der Geister" (S. 67). So wurde die Darstellung
des Wirkens Jesu gerade als Geschichte unabdingbare theologische
Aufgabe für die Gegenwart. Dieses Motiv war m. E., wie auch
Käsemann gelegentlich andeutet (S. 95f.), schon bei der Entstehung
der Evangelienüberlieferung wirksam. Dann aber müßten aus
dieser Einsicht Konsequenzen für die Methode der traditionsgeschichtlichen
Analyse gezogen werden. Bultmanns „Geschichte der
synoptischen Tradition" wäre schon deshalb grundlegend zu revidieren
, weil sie von der Vorstellung ausgeht, die Jesusüberlieferung
sei lediglich als Illustration des Kerygmas konzipiert worden
. Erst dadurch würde die Rückfrage nach dem „historischen
Jesus" aus der Sackgasse, in der sie von Bultrnann her steckt,
wirklich freikommen.

Dieser Konsequenz stellen sich bei Käsemann jedoch vor allem
noch zwei Hemmnisse entgegen, so daß sein Bild des historischen
Jesus (S. 108ff.) im Grunde noch zu schmal ist, um wirklich
Kriterium zu sein: 1. Bei der formgeschichtlichen Analyse der
Tradition werden die „Gattungen" immer noch zu schematisch
und zu wenig differenziert bestimmt und zu sehr unter Abschen
vom Inhalt als Kriterien für den Sitz im Leben ausgewertet. Auf
diese Weise ergibt sich im Zirkel 2. ein sehr einseitiges Bild der
Anfangszeit, in der die synoptische Tradition Gestalt gewann.

Die beiden Faktoren treten in den Aufsätzen über „Sätze
heiligen Rechtes" und „Die Anfänge christlicher Theologie" hervor
. Nach ihnen war die älteste palästinische Gemeinde eine von
Propheten geleitete Gemeinschaft, die den Enthusiasmus allgemeiner
Geistbegabung mit brennender apokalyptischer Naherwartung
verband. Dies wird vor allem aus einer Gattung von „Sätzen
heiligen Rechtes", für die prophetischer Ursprung vermutet wird,
und aus Sonderformulierungen des Matthäus-Evangeliums über
Prophetie, z. B. 7, 22f., erschlossen. Die Bestimmung jener Gattung
aber wird gerade von dem mit Nachdruck als Beispiel genannten
Menschensohnspruch Mk. 8, 38 in Frage gestellt. Erst
recht ist es nicht nur „riskant", sondern kaum vertretbar, aus
Sonderformulierungen des Matthäus-Evangeliums, die im Laufe

von 50 Jahren an vielen Stellen im palästinisch-syrischen Raumentstanden
sein können, unmittelbar und ausschließlich das Bild
der ersten Gemeinde zu rekonstruieren und die durch Paulus und
die Apg. vermittelten Überlieferungen kaum zu berücksichtigen.
Nach letzteren war nicht die Prophetie, sondern das Apostolat im
Sinn von 1. Kor. 15, 7f. das bestimmende Element und damit das
Osterzeugnis und nicht die Naherwartung! Man darf diese Elemente
nicht gegeneinander ausspielen, aber die Akzentsetzung ist
hier wichtig. Diese Feststellung bedeutet auch bereits eine Einschränkung
für den Skopus dieser Rekonstruktion, nämlich für
die These, daß „die Apokalyptik ... die Mutter aller christlichen
Theologie gewesen" sei (S. 100).

Diese These wird in einem Aufsatz „Zum Thema der urchristlichen
Apokalyptik" ausgeführt, der die neue Konzeption
Käsemanns programmatisch entwickelt. Jesus hatte nicht Apokalyptik
, sondern Offenheit „für den nahen Gott und den nahen
Mitmenschen" vertreten. Die erste Gemeinde aber nahm sein
Wirken von der Ostererfahrung her in Gestalt einer christlichen
Apokalyptik auf. Die Hoffnung „auf die Wiederkunft Jesu als
des himmlischen Menschensohnes" war „als solche ihr eigentlicher
Osterglaube" (S. 110). Man wird diese „ihre Apokalyptik
als den sachgemäßen Ausdruck dafür anzusehen haben, daß in
Jesus der Welt letzte Verheißung begegnet. Für diese Jünger
konnte nicht qualitativ das Letzte sein, was es nicht auch zeitlich
war, die Herrschaft des Freien nicht anders als im Zerbrechen
der Todesmacht sichtbar werden, der Lehrer und Helfer
bleibende und universale Bedeutung nur haben, wenn er den
Aon der Freiheit einleitete" (S 119).

Die theologische Relevanz dieser urchristlichen Apokalyptik
erwies sich in der hellenistischen Christenheit; hier wird das
Evangelium zunächst nach Analogie der Mysterienreligionen im
Sinn eines eschatologischen Enthusiasmus mißverstanden, für den
Christus bereits der Kosmokrator ist und die Getauften bereits
mit ihm „auferstanden und mit ihm im himmlischen Weseninthronisiert
worden" sind (S. 125). Diesen Enthusiasmus weist Paulus
zurück und entwirft in Auseinandersetzung mit ihm von der
frühchristlichen Apokalyptik her seine Kosmologie, Christologie
und Anthropologie. Den apokalyptischen Gesamtaspekt seiner
Theologie läßt 1. Kor. 15, 20—28 erkennen: die Auferstehung
Jesu erschließt primär nicht „einen anthropologischen, sondern
einen christologischen Sachverhalt", nicht die Wiederbelebung
des Einzelnen, sondern die Herrschaft Christi. Seit Ostern ist die
eschatologische Unterwerfung der Welt in Gang gekommen und
ihr Ende abzusehen. Hier wird deutlich, daß „Paulus schlechterdings
nicht von einem bereits erfolgten Ende der Geschichte
sprechen kann und will, wohl aber die Endzeit angebrochen
sieht" (S. 127). Wie er „die präsentische Eschatologie" dem apokalyptischen
Aspekt einordnet, so auch seine Anthropologie:
,,,Leib' (ist) für Paulus eben nicht, wie Bultmann meint, das Verhältnis
des Menschen zu sich selbst, sondern jenes Stück Welt,
das wir selber sind und für das wir als die erste uns gegebene
Gabe des Schöpfers auch Verantwortung tragen" (S. 129). „Präsentische
Eschatologie allein und nicht von der futurischen umfangen
, — das wäre auch beim Christen nichts anderes als die
Hybris des Fleisches, wie sie der Enthusiasmus ja genugsam zu
allen Zeiten bezeugt. Das wäre Illusion und nicht Realität. Gerade
die Apokalyptik des Apostels gibt der Wirklichkeit, was ihr
gebührt, und widersteht der frommen Illusion" (S. 130). Liest
man diese Sätze zusammen mit den sozialethischen Konsequenzen
, die zwei Aufsätze über „Gottesdienst im Alltag der Welt"
und „Grundsätzliches zur Interpretation von Rom. 13" entwik-
keln, dann wird sichtbar, daß Käsemann mit ihnen nicht nur aus
dem theologischen Bannkreis Bultmanns, sondern auch aus dem
vom Ursprung her hinter ihm stehenden K. Barths ausbricht. Die
für K. Barth charakteristische christokratische Konzeption der
Sozialcthik beruft sich nämlich, wie Käsemann zu ihr bemerkt,
auf hymnische Aussagen über die Weltherrschaft des Erhöhten,
die Ausdruck jener enthusiastischen hellenistischen Gemeindefrömmigkeit
sind. „Barth und die Seinen schützen sich . . . nicht
genügend gegenüber dieser Gefahr", in die Nähe jenes Enthusiasmus
zu geraten (S. 214). Man versteht, daß J. Moltmann wiederholt
Käsemann für die exegetische Vorbereitung seines eige-